Kurz darauf hatten sie die Herberge erreicht, in der Arram wohnte. Anders als Kelima und Savena stammte Arram nicht aus einer wohlhabenden Familie, und sein Studium an der Akademie hatte er sich nur über ein Stipendium finanzieren können.
Er stammte ursprünglich aus Nascano, und die wenigen Mittel, die ihm nach Abzug der Studiengebühren noch blieben, erlaubten keine bessere Bleibe.
Zuerst leicht angewidert von der Schäbigkeit und Beengtheit des Zimmers, hatten Kelima und Savena bald die Vorteile von Arrams Wohnung erkannt: Sie waren weit jenseits der elterlichen Aufsicht, und wie viel Freiheit Savenas Eltern ihr auch eingeräumt hatten, so schien Arram doch ungleich freier.
Die drei waren schnell dazu übergegangen, sich bei ihm zu treffen, wenn sie unbeobachtet und alleine sein wollten.
Die Inhaberin der Herberge kannte Savena, und stellte keine Fragen, und häufig leistete Bragos ihr Gesellschaft, wenn Savena über Stunden mit den anderen beiden oben in der Kammer blieb.
Sie stieg die Treppe nach oben und klopfte an der alten Holztür, die in Arrams Zimmer führte. Er antwortete und sie stieß die Tür auf.
Über ein Buch gebeugt, saß er auf einem Hocker an dem kleinen Tisch, der außer dem Bett und einem kleinen Schrank das einzige Möbelstück in dem Raum darstellte.
‚Herzlichen Glückwunsch!‘ strahlte er, als er aufstand, um Savena zu umarmen. Er hatte die Neuigkeiten offenbar schon von Kelima gehört. Arram besaß ein weiches, offenes Gesicht, und seine kleine Statur ließ ihn tatsächlich wie einen jüngeren Bruder erscheinen.
Leicht verlegen bedankte sie sich und setzte sich aufs Bett. Die anderen beiden würden noch mindestens ein Jahr bis zu ihrer Prüfung brauchen. Arram, weil er jünger war, und Kelima, weil sie in ihrem Studium zurückgefallen war. Vor etwas mehr als zwei Jahren hatten sie ernsthafte Zweifel geplagt, ob sie weiter an der Akademie bleiben sollte, und nur der Zuspruch von Savena hatte sie daran gehindert, sieben Jahre hartes Studium und eine Menge Geld ihrer Eltern wegzuwerfen. Nach einer Phase mehrmonatigen Zweifels hatte sie ihr Studium wieder aufgenommen, aber zu spät, um die Prüfungen noch zusammen mit Savena abzuschließen.
Kurz darauf erschien Kelima. Das dichte Haar zu einem dunklen Zopf geflochten und in ihrem dunkelgrünen Seidengewand, das feucht schimmerte, sah sie in dem kleinen ärmlichen Zimmer völlig fehl am Platze aus.
Seit Savena Kelima kannte, hatte sie deren Aura des Aristokratischen bewundert. Vielleicht war das ein Grund dafür, warum sie selbst dem Bild der jungen Adeligen so wenig entsprach. Trotz der umfassenden, damenhaften Erziehung hatte sie dieses Ideal nie erreicht.
Kelima bewunderte, wie Arram vor ihr, Savenas neuen Umhang und setzte sich dann zu ihr auf das Bett. ‚Und, hast du mit deinen Eltern gesprochen?‘ fragte sie dann ungeduldig.
Savena nickte und berichtete ihnen von der Auseinandersetzung zu Hause.
‚Was wirst du tun?‘ wollte Arram wissen, als sie geendet hatte.
Savena zuckte mit den Schultern. ‚Ich weiß noch nicht. Ich habe ihnen versprochen, mir die Sache durch den Kopf gehen zu lassen.‘
Arram legte ihr die Hand auf die Schulter. ‚Lass es uns wissen, wenn du dich entschieden hast.‘
Savena nickte dankbar und drückte kurz seine Hand.
Sie kannte Kelima fast seid ihrer Geburt, und ihre Familien waren eng befreundet, und auch wenn die beiden in vielen Dingen nicht unterschiedlicher hätten sein können, so verband sie weit mehr als Freundschaft. Es war eine Zugehörigkeit, und eine Verpflichtung, ähnlich die der eigenen Familie gegenüber. Arram dagegen kannten sie erst seit zwei Jahren, als Kelima in seine Klasse gekommen war, aber nach kurzer Zeit hatten sie den jungen Mann wie selbstverständlich in ihre enge Beziehung aufgenommen.
Arram sah, dass Savena ihn immer noch musterte, und strich sich verlegen die blonden Haare aus dem Gesicht. Kelima hatte den Austausch bemerkt und lachte. ‚Sie verliebt sich in dich, weil sie geht. Ein Matrose hat mir mal erzählt, dass sich Seeleute immer kurz vor einer großen Fahrt verlieben. Pass auf, Arram.‘
Savena musste ebenfalls lachen, als sich die Verlegenheit des jungen Mannes weiter steigerte. Sie fragte sich, was der Grund dafür war, dass Liebe ihre Freundschaft nie verkompliziert hatte. Keiner von ihnen hatte jemals Anstalten gemacht, derartiges Interesse am anderen zu zeigen, so, als wäre ihnen der Gedanke nie gekommen.
Sie wusste, dass sie selbst an ihn so nicht dachte, und Kelima hielt sich normalerweise mit ihren Leidenschaften nicht zurück, Freundschaft hin oder her. Es war also unwahrscheinlich, dass sie in Arram jemals mehr gesehen hatte als einen guten Freund.
Sie überlegte kurz, ob Arram vielleicht solche Gefühle für eine von ihnen entwickelt hatte, ohne sie jemals zu äußern. Vielleicht war der Standesunterschied zu groß, vielleicht wollte er die Beziehung der drei untereinander nicht gefährden. Sie fragte sich, welche von beiden er wohl gewählt hätte.
Mit einem Lächeln stand sie auf und nahm ihre Jacke. Kelima nickte und erhob sich ebenfalls.
‚Ich werde jetzt gehen, ich muss noch was für morgen vorbereiten‘, sagte sie, und Savena wurde daran erinnert, dass sie bis zu ihrer Abfahrt kaum Verpflichtungen besaß. Arrams Gedanken schienen in die gleiche Richtung zu gehen, und er fragte: ‚Wann geht dein Schiff?‘
‚In vier Tagen. Bragos hat die Passage schon gebucht.‘
‚Und wann kommst du wieder?‘ fragte Kelima, die sich ihren Umhang umgeworfen hatte. Savena antwortete nicht sofort. ‚In ein, zwei Jahren vielleicht‘, sagte sie dann.
Keiner der drei sagte etwas, und plötzlich machte Savena einen Schritt nach vorne und hakte sich bei Kelima unter. ‚Komm, lass uns gehen.‘
Sie verabschiedeten sich von Arram, der sie die Treppe hinunterbrachte, und ihnen nachrief: ‚Kelima, wo ist dein Bewacher?‘
Kelima verzog das Gesicht und rief zurück: ‚Er ist zu hause, weil er nicht weiß, dass ich mich im Hafenviertel herumtreibe, mit schmutzigen Gossenkindern.‘
Sie hörten Arram lachen und wandten sich zum Gehen. Bragos trat vor ihnen auf die Straße.
Auf ihrem Weg durch die Handwerkerviertel, die am Hang westlich des Konzilviertels lagen, die gut gepflasterte Kupfergasse hoch, sah Savena plötzlich eine ihr bekannte Gestalt in ein Sträßchen vor ihnen laufen. Einen Augenblick später folgten ihr drei weitere.
Sie war stehen geblieben und berührte Kelima am Arm.
‚Das war Steo.‘
‚Wer?‘
‚Steo, viertes oder fünftes Jahr. Aus der Akademie.‘
Kelima schien immer noch nicht zu begreifen, von was sie redete, und so lief Savena auf den Eingang der Gasse zu. Bragos und Kelima folgten ihr kurz darauf.
Savena konnte Steo schon nicht mehr sehen, als sie in die Lücke in der Häuserzeile trat. Der Junge war unter seinen Verfolgern begraben, und obwohl sie die Farben, die sie trugen, nicht erkannte, hatte sie eine Vermutung, von welcher anderen Akademie sie stammten.
‚Heh!‘, rief sie und lief in die Gasse.
Einer der Jungen sah sie kommen und als er ihren Umhang erkannte, ließ er sofort von Steo ab und zog einen zweiten mit sich. Nur der letzte der drei war noch dabei, auf den am Boden liegenden Jungen einzuschlagen, als Savena zu ihm trat und ihn mit einem Ruck nach hinten riss. Der Kragen seiner Jacke, die sie fest gepackt hatte, schnitt in seinen Hals und er würgte nach Luft. Als sie ihn losließ und er sich aufrichtete, bekam sie einen leichten Schrecken. Obwohl höchstens fünfzehn, vielleicht sechzehn, war er so groß wie sie, und ihre zornige Überlegenheit schwand ein wenig.
Um von der Konfrontation abzulenken, kniete sie neben Steo nieder. Seine kostbare Seidenjacke in den Farben der Akademie, Burgund und dunkles Grün, war schmutzig und an Stellen zerrissen. Sie befühlte vorsichtig seine Schnitte und Prellungen und begann, nach und nach seine Wunden magisch zu behandeln, sein protestierendes Stöhnen dabei ignorierend. Hinter sich konnte sie die Unschlüssigkeit von Steos Angreifer spüren.
Kelima, die zusammen mit Bragos herangetreten war, atmete hörbar ein, als sie sah, dass Savena ihre Magie benutzte. Savena lächelte. Die harten Einschränkungen und Verbote, die sie während des Studiums hatte befolgen müssen, besaßen nun keine Gültigkeit mehr. Keiner der Studenten durfte Magie außerhalb des Unterrichts anwenden – ein Verstoß dagegen hätte den sofortigen Ausschluss von der Akademie und einem weiteren Studium nach sich gezogen. Und die neun Jahre, in denen ihnen dieses Verbot immer wieder eingeimpft worden war, ließen sich nur schwer ablegen.
‚Verzieht euch, sonst kann sie mit ihrer Arbeit gleich bei euch weitermachen‘, sagte Bragos rau, und Savena konnte hören, wie sich die drei einen Augenblick später langsam entfernten.
‚Wie bist du denn an die geraten?‘ fragte sie, während sich Steo langsam wieder aufsetzte.
‚Wir haben neulich schon einmal Ärger mit ihnen gehabt, da haben sie sich blutige Nasen geholt, und heute haben sie mich eben alleine erwischt.‘
‚Die von der Rathen-Akademie sind Schwachköpfe. Ihr solltet ihnen aus dem Weg gehen‘, warf Kelima ein.
‚Sie haben über Meister Julem gelästert. Was sollten wir machen?‘ sagte Steo und verzog das Gesicht, als Savena eine empfindliche Stelle berührte.
Sie erhob sich und fragte: ‚Kannst du aufstehen?‘
Er nickte und kam langsam wieder auf die Beine..
‚Es ist nichts gebrochen. In ein paar Stunden wirst du nichts mehr davon merken.‘
Etwas verlegen bedankte er sich bei ihr und sagte dann wie zur Entschuldigung: ‚Wenn sie uns Magie benutzen lassen würden, müssten wir auch alleine nicht weglaufen.‘
Savena schnaubte und wandte sich ab, um zu gehen. ‚Wenn sie euch Magie benutzen ließen, dann wären die Klassen vermutlich halb leer.‘
Kelima hatte sie erreicht, bevor sie wieder auf die Kupfergasse trat. ‚Meinst du, weil sie sich selber gefährden, oder andere?‘
‚Beides‘, sagte Savena etwas verächtlich.
Sie spürte, dass Kelima stehen geblieben war und drehte sich zu ihr um. ‚Was?‘ fragte sie.
‚Du bist plötzlich so überheblich. Es ist noch keine paar Stunden her, da warst du eine von uns. Glaubst du, deine Prüfung hat dich umsichtiger gemacht, dir Einsichten gezeigt, die uns noch fehlen?‘
Savena betrachtete ihre Freundin, die ihr ärgerlich gegenüber stand. Dann trat sie auf sie zu und ergriff Kelimas Hände. ‚Es tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint. Aber kannst du dir vorstellen, was sie mit Magie machen würden?‘
Kelima grinste und sagte: ‚Ich wüsste auf jeden Fall, was ich mit der Magie machen würde.‘
Sie hatten sich oft darüber unterhalten, was ihre Pläne waren, sobald sie das Studium hinter sich hatten, und Kelima war meist diejenige, die die handfesten Vorteile der Magie herausstrich.
‚Ich müsste mich nicht mehr zu Fuß durch diese Stadt bewegen.‘
Savena lachte und die beiden stiegen weiter die Gasse hoch, bis sie das Konzilviertel erreicht hatten.
Bald darauf trennten sie sich. Savena umarmte ihre Freundin und hielt sie einen Moment länger als nötig. Als sie in die dunklen Augen ihrer Freundin sah, traf sie eine Entscheidung.
‚Sag‘ Arram, dass wir uns morgen Abend in der Halle der Beschwörungen treffen.‘
Kelima nickte und wollte sich umdrehen, als Savena sie zurückhielt. ‚Wenn sich Arram verlieben würde, würde er uns davon erzählen, oder?‘
Für einen Moment sah Kelima sie verständnislos an, und brach dann in Gelächter aus. Sie schüttelte den Kopf und sagte: ‚Verliebt? Bild‘ dir bloß nichts ein, du dumme Gans.‘
Savena lächelte und verabschiedete sich ein weiteres Mal.