Das Kalenderblatt

Kurzgeschichte zum Thema Leistungsdruck

von  BerndtB

Hermann Kurz war ein gewissenhafter und zuverlässiger Verwaltungsbeamter. Pünktlich fünf Minuten vor Dienstbeginn saß er morgens bereits an seinem Schreibtisch. Innerhalb seiner 35-jährigen Dienstzeit war er infolge Unpünktlichkeit seines Zuges zweimal verspätet gekommen, einmal um acht Minuten und einmal – für Amtsobersekretär Kurz ein wirklich schwarzer Tag – gar um 23 Minuten.

Krank war er nie gewesen, wenn man von jenem Nachmittag vor neun Jahren am 16. April absieht, als er früher nach Hause fuhr bzw. gefahren wurde. Damals hatten ihm, der nie mehr trank als eine kleine Flasche Bier zum Abendessen sowie zwei kleine Gläser Bier, freitags um 16.10 Uhr nach Dienstschluss in der Kneipe um die Ecke, einige Kollegen Schnaps in das zweite Glas Bier geschüttet, anlässlich der 40-jährigen Jubiläumsfeier seines Vorgesetzten. Diese hämische, um 12.27 Uhr begangene Untat hatte sein auf genaueste Registrierung eingestelltes Gehirn umnebelt, so dass er, trotz eines deutlich zu verspürenden Gefühls ungewohnter Leichtigkeit, in der Gewissheit, freitags zwei Glas Bier problemlos vertragen zu können, auch noch nach dem dritten Glas griff. Diesem war aber noch mehr Schnaps beigemischt als dem zweiten.

Somit nahm das Verhängnis seinen Lauf. Kurz war niemals danach mehr in der Lage, den weiteren Gang der Ereignisse an jenem Nachmittag genau zu erfassen und wiederzugeben. Wie er aus nachträglichen Andeutungen der Kollegen ihm gegenüber und deren Bemerkungen untereinander später rekonstruieren konnte, musste er sich bereits gegen 12.45 Uhr auf eine heiße Diskussion mit seinem Vorgesetzten eingelassen haben, die dazu führte, dass er jenen einen „ausgemachten Lumpen“ und „Leuteschinder“ hieß. Allen Versuchen seiner ihm wohlwollenden Kollegen, ihn zurückzuhalten, zum Trotz, musste er sich gegen 12.50 Uhr sogar dazu verstiegen haben, zu behaupten, die Arbeit seines Chefs bestünde vornehmlich aus Essen, Zeitung lesen, dem Griff unter den Rock der Sekretärin und dem Gang zur Toilette, was er selbst genau so gut, wenn nicht sogar besser könnte, wenn er denn wollte. Den ihm gegenüber vorgebrachten Einwand des Angegriffenen: „Sie sind ja besoffen und wissen gar nicht mehr, was sie sagen“, hatte er offenbar mit der Bemerkung weggefegt: „Nach dem, was sie so sagen, könnte man meinen, sie seien immer besoffen.“

Über die Androhung dienstrechtlicher Maßnahmen musste er ebenso gelacht haben wie über das darauffolgende laute Geräusch, das etwa aus seiner Körpermitte im hinteren Teil entsprang und ziemlich genau in Richtung seines Chefs tendierte, was aus der Tatsache seiner dabei vorgebeugten Körperhaltung sogar als zielgerichtet bezeichnet wurde.

Die weiteren Ereignisse mussten sich dann überschlagen haben und endeten nach dem, was später zu erfahren war, damit, dass Amtsobersekretär Kurz sich auf den Schreibtisch seines Chefs, in dessen geheiligtem Dienstraum die Feier stattfand, erbrach, nachdem er dessen überdimensional große Kaffeetasse, die darauf gestanden hatte, zuvor in einem unbewachten Augenblick in einer Ecke des Zimmers mit einigen Überbleibseln des Bieres und des Schnapses, die durch ihn hindurchgegangen waren, bis an den Rand gefüllt hatte. Das dabei entstandene Geräusch musste infolge der plötzlich eingetretenen Stille im Raum kristallklar plätschernd zu vernehmen gewesen sein.

Wie später zu erfahren war, verlud man den sich heftig wehrenden Kurz dann in einen Dienstwagen, auf dessen Rücksitz er umgehend einschlief. Die Ehefrau nahm ihren röchelnden und im Gesicht blau angelaufenen Hermann in Empfang und steckte ihn schluchzend ins Bett. Über die weiteren Geschehnisse in der ehelichen Wohnung deckt der Verfasser den Mantel des Schweigens.

Soweit zu jenem nicht denkwürdigen Nachmittag vor neun Jahren. Er musste hier lediglich deshalb erwähnt werden, weil er auf die nachfolgende Beförderung von Kurz, die nie stattfand, maßgeblichen Einfluss hatte. Amtsintern wurde die Sache wegen des Skandals, den eine Offenbarung verursacht hätte, vertuscht.

In den folgenden Monaten und Jahren ging Amtsobersekretär Kurz weiterhin seiner anstrengenden Verwaltungstätigkeit nach, überprüfte kleinere Additionen, übertrug sie von einem Formular auf ein anderes und legte jeweils dienstags um 09.00 Uhr das Ergebnis seiner wöchentlichen Tätigkeit seinem Vorgesetzten vor, der die ausgefüllten Formulare prüfte und sie dann an die übergeordnete Dienstelle weiterleitete.

Dies alle geschah ohne weitere besondere Vorkommnisse bis zu jenem denkwürdigen Tage, der ein Dienstag war. Es begann damit, dass Kurz, nachdem er begonnen hatte, seine Bleistifte zu spitzen und zu ordnen, in seinem Büro von seiner Ehefrau angerufen wurde. Etwas aufgeregt und um Verzeihung bittend teilte sie ihm mit, dass sie sein Frühstückbrot heute anstatt mit seinem geliebten Schinken, wie dienstags üblich, mit Salami belegt hätte. Schlagartig wurde ihm klar, dass er hier vor einer neuen Situation stand, wie sie noch nie dagewesen war. Solange er zurückdenken konnte, hatte er dienstags stets Schinken und noch nie Salami auf dem Frühstücksbrot gehabt. So geriet er unversehens in ein lang anhaltendes Grübeln. Einerseits wäre er ja gerne bereit gewesen, seiner Frau, die er sehr liebte, wie er meinte, wie es sich gehört, zu verzeihen, andererseits war aber hier das für ihn höchste Prinzip der Ordnung und der Regelmäßigkeit verletzt worden. Gewiss, auch er hatte in seinem Leben zwei oder drei Fehler begangen, aber dafür auch stets bitter bezahlen müssen. So hätte er heute ohne weiteres  Amtsinspektor oder gar Oberinspektor sein können, wenn er nicht an jenem schwarzen Nachmittag durch die Heimtücke seiner Kollegen…doch lassen wir das, wir kennen ja mittlerweile die Geschichte.

Indem Kurz nun hin und her überlegte, welche Gründe seine Frau bewogen hatten, das Frühstücksbrot heute in derart fehlerhafter Weise zu belegen, ob er sich als Ehemann irgendwelche Unregelmäßigkeiten zuschulden hatte kommen lassen, ob sie, wie seine Mutter immer gesagt hatte, doch nicht die richtige Frau für ihn wäre, ob sie sich einfach nur einer Gedankenlosigkeit schuldig gemacht hatte oder ob es sich hier um einen hinzunehmenden Schicksalsschlag handelte, vergaß er seinerseits, das Kalenderblatt abzureißen. Exakt um 08.15 Uhr, nach dem Spitzen der Bleistifte, dem sogfältigen Hinlegen des Stapels mit Formularen, dem Absetzen der Fern- und Aufsetzen der Lesebrille und dem Zurechtrücken des Schreibtischsessels hätte er dies tun müssen.

Inzwischen war es  08.20 Uhr geworden, und das Kalenderblatt vom gestrigen Tage prangte noch immer im Raum, den Montag verkündend. In diesem Moment wurde Kurz durch das ihm im tiefsten Inneren innewohnende Gefühl des Pflichtbewusstseins, des Verantwortungsgefühls und der Disziplin in die Realität zurückgerufen. Er verspürte einen innerlichen Ruck, der ihn von den nicht mit seinem Dienst zu vereinbarenden Gedanken an seine Frau befreite, nahm sich vor, die Angelegenheit mit dem vergessenen Schinken und der falschen Salami  heute Abend zu klären, koste es, was es wolle und ergriff den gespitzten Bleistift. Ein Blick auf die Uhr überzeugte ihn, dass höchste Eile geboten war. Er befand sich mit dreieinhalb Additionen im Rückstand. Ein weiterer Blick auf den Kalender, der um diese Zeit bereits abgerissen sein musste, bestätigte den Montag. Morgen musste er ja seinem Chef erst die Formulare geben.

Um 10.03 Uhr läutete das Telefon auf Kurzens Schreibtisch. Sein Chef war am anderen Ende. Er vermisste die Formularmappe.

Die weiteren Ereignisse überschlugen sich:

Amtsobersekretär Kurz schaute auf seine Uhr. Der Vorgesetzte war immer noch am Apparat. Kurz schaute auf den Kalender und stammelte in den Hörer: „Aber…es ist doch erst Montag“, was der Vorgesetzte energisch zurückwies, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er wohl kraft seines Amtes zu besserer Beurteilung des Wochentages als seine subalternen Mitarbeiter in der Lage sei. In diesem Zusammenhang spielte es keine Rolle, dass es sich hier nicht mehr um denselben Vorgesetzten handelte, den Kurz vor neun Jahren unsäglich beleidigt hatte. Immerhin war aber auch dem neuen Chef das seinerzeitige Fehlverhalten seines Mitarbeiters bekannt geworden.

Inzwischen war es 10.05 Uhr, Zeit für die Frühstückspause. Der Vorgesetzte war immer noch am Telefon. Ein weiterer Blick auf die Uhr erfasste die magische Zeigerstellung fünf-Minuten-nach-zehn, dies war die Frühstückszeit!
Die abgehackten Worte „aber…wieso…jetzt…Dienstag…10.05 Uhr…Frühstück“ entsprangen Kurzens Lippen, was den Chef zu einem Wutschrei und dem Aufknallen des Hörers veranlasste.

Im Kopf von Kurz begann sich alles zu drehen. Er sah die Uhr, blickte auf das Frühstücksbrot, den Bleistift und auf das Kalenderblatt.

War er gar kein Mensch, kein Beamter, konnte er nicht ein Jahrzehnt durchleben, ohne mehrfach zu entgleisen, hatte sein Leben überhaupt noch einen Sinn?

Aus Salami wurde Schinken, aus Montag Dienstag. Die Frau und der Chef vereinigten sich zu einer stummen Anklage. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Schwerelosigkeit, und während Frühstück und Kalenderblatt verschmolzen, erhaschte Amtsobersekretär Kurz einen ersten Blick in die Ewigkeit, das Kontinuum von Raum, Zeit, Ordnung und Pflichtbewusstsein. Sanft glitt er hinüber, erfüllt von einem allumfassenden Gefühl der Verzeihung, die ihm von einer übergeordneten Stelle zuteil wurde.

Als der Vorgesetzte um 10.07 Uhr wutentbrannt in das Büro von Kurz stürzte, fand er diesen vornübergebeugt auf dem Schreibtisch liegend, den gespitzten Bleistift in der einen und das Salamibrot in der anderen Hand. Der Kalender zeigte Montag.

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Kommentare zu diesem Text


 Owald (02.05.18)
Bißchen viel Klischee vielleicht, aber alles in allem nachvollziehbar. Hättest Du gut auch als "Kalendergeschichte" einordnen können.

 BerndtB meinte dazu am 02.05.18:
Danke. "Kalendergeschichte" finde ich gut.

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 02.05.18:
Zunehmend verplappert, zudem die Sätze hier und etwas zu selbstverliebt-verschachtelt. Müsste man energisch straffen, finde ich.
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