Liebe in Zeiten der Krankheit

Reportage

von  HerrBertie

Liebe in Zeiten der Krankheit


I


An einem Sonntag war das. Mittagszeit. Karl zieht es hinaus zum Sport. Er ist über siebzig, aber er joggt immer noch gerne. Spielt auch Tennis. Ernährt sich vegetarisch, raucht nicht, hat kein Gramm Übergewicht. Wohl schmeckt ihm das Bier, jedoch in Maßen. Ein vernünftiger Mensch, sehr humorvoll. Mit ihm kannst du viel lachen. Ein guter Freund auch, der einem schon mal gerne zur Hand geht. Oft saßen wir zusammen in Kneipen, zusammen mit Heike, ein lustiges Trio waren wir, kannten uns über die Schule. Dann kam es vor, dass Karl nach Worten suchte, ihm Begriffe nicht einfallen wollten. Wir fanden das lustig, er auch. Dass ihm die Sprache abhanden kam, für Sekunden, passierte selten, aber es kam vor. In den letzten ein, zwei Jahren musste er hin und wieder ins Krankenhaus. Mal war es ein Bluterguss am Bein, mal wegen zu hohem Blutdruck. Uns erreichten dann Kurznachrichten auf dem Handy, in denen er sich in seiner typischen Art über Ärzte mokierte oder den Verpackungsmüll, den zum Beispiel das Krankenhausfrühstück verursachte. Ich meine sogar, in einem Fall habe er sich selbst entlassen. Im Nachhinein scheint es, als habe er das alles nicht so ernst genommen. Wir übrigens auch nicht.


Jetzt ist November, ein schöner Sonntagnachmittag im November, als er zum Joggen aufbricht. Rasch geht er die viereinhalb Stockwerke runter (oder läuft er sie bereits?) , 86 Stufen sind das, und schon steht er auf dem Bürgersteig, trabt los. Eine Stunde wird er mindestens unterwegs sein, vielleicht auch länger. Bis zum Grüngürtel sind es einige Kilometer. Für ihn kein Problem. Den hohen Blutdruck vom Vormittag und diesen leichten Druck im Kopf, den er seit dem Aufstehen verspürte, ignoriert er. Er ist sorglos und vertraut seinem Körper. Er freut sich auf draußen. Mira, seine Frau, ist lieber zuhause geblieben. Sie kann dem Sport nicht so viel abgewinnen. Höchstens dem Tanzsport. Den liebt sie und ihr Mann auch. Besonders den Tango, den sie wunderbar beherrschen. Aber joggen soll er mal schön alleine. Sie räumt vielleicht in der Zeit den Frühstückstisch ab oder trifft Vorbereitungen zum Mittagessen oder legt sich mit der Zeitung aufs Sofa, den Sonntag genießend. Oder sie telefoniert auch mit einer ihrer beiden Töchter oder liest ein Buch oder schaut den Vögeln zu, wie sie sich über das Futter auf ihrer Terrasse hermachen. Es gibt so vieles, was man tun kann, und an dem man sich erfreut. Sie liebt Karl, aber es ist nicht so, dass sie seine Rückkehr kaum erwarten kann oder sich ohne ihn langweilt. Sie machen zwar vieles zusammen, Tanzen eben, Reisen, im Café sitzen, durch die Stadt radeln oder spazieren gehen, miteinander sprechen; nicht jedes Paar hat noch diese Zweisamkeit nach so vielen Ehejahren, eher nur die wenigsten. Aber jeder hat auch seins. Das kriegen sie gut hin. Unsere Kneipenabende einmal im Monat, seit vielen Jahren schon, finden immer ohne Mira statt. Sie wiederum trifft sich regelmäßig in der Stadt mit Freundinnen.


Inzwischen hat Mira die Zeitung beiseite gelegt. Sie reckt sich und gähnt herzhaft, bevor sie von der Couch aufsteht. Es geht auf drei Uhr zu und sie denkt, so langsam könnte Karl ja mal zurückkommen. Er kommt aber nicht zurück. Es wird halb vier, dann vier. Bald verschwindet die Sonne hinter den Häusern und es beginnt dunkel zu werden. Mira macht sich Sorgen und bald schon große Sorgen. Es ist überhaupt nicht Karls Art so lange zu joggen. Natürlich hat er auch sein Handy nicht mitgenommen und sie kann ihn nicht anrufen. Irgendwann ruft sie die Polizei an; sie vermisse ihren Mann, der mittags zum Joggen und seitdem nicht wiedergekommen sei. Sie können nicht helfen. Sie telefoniert mit den Krankenhäusern in der Umgebung, die auch alle nicht weiterhelfen können, bis sie – endlich, eine Ewigkeit scheint vergangen zu sein – von der Universitätsklinik die Mitteilung erhält, ja, es sei jemand eingeliefert worden, auf den ihre Beschreibung passe. Der Patient hätte keine Papiere bei sich gehabt, als er im Stadtwald zusammengebrochen sei. Spaziergänger hätten einen Krankenwagen gerufen und als der nach einer Zeit eintraf, wäre der Patient bereits länger ohne Bewusstsein gewesen. Er liege jetzt auf der Intensivstation und befinde sich im Koma. Offensichtlich habe er eine Hirnblutung erlitten, einen schweren Schlaganfall, sein Zustand sei ernst. Es täte ihnen sehr Leid, aber sie dürfen wegen der Corona-Pandemie keinen Besuch erlauben. Aber natürlich – Anziehsachen für ihn, seinen Waschbeutel darf sie an der Rezeption abgeben.

Plötzlich ist nichts mehr so, wie es war. Alles scheint zwar wie immer, die Geräusche der Autos auf dem Kopfsteinpflaster unten oder der Züge, die über den nahen Bahndamm rattern, die Sonntagsspiele der Bundesliga, um acht die Tagesschau und anschließend der Tatort, die Spülmaschine, die ausgeräumt werden muss - das Leben geht seinen Gang wie alle Tage, auch am nächsten Tag, die nächste Woche, die nächsten Monate. Doch ihr Leben ist heute aus der Welt gefallen, sie selber und Karl sind heute aus der Welt gefallen und niemand weiß, wie es weitergeht und ob Karls Leben überhaupt weitergeht.

Diesen Ausdruck „aus der Welt gefallen sein“ habe ich zum ersten Mal von Karl selber gehört. Viele Monate später war das.


In den Tagen danach erkämpft sich Mira ein Besuchsrecht. Wenigstens für eine halbe Stunde am Tag kann sie Karl jetzt besuchen, bei ihm am Bett sitzen, seine Hand halten, ihm zärtlich über den Kopf streicheln, sein Gesicht erfrischen, ihm zureden. Oder einfach nur weinen. Auch wenn er nicht reagiert, denn er liegt in einem künstlichen Koma, weiß Mira, dass er ihre Nähe spürt. Hat er nicht eben ihren Händedruck erwidert, haben nicht gerade seine geschlossenen Augenlider gezuckt, bewegten sich da nicht ganz leicht seine Mundwinkel? Es ist eine kostbare Zeit, die sie mit ihm teilt, und vielleicht hat sie sich ihm nie näher gefühlt als jetzt. Vielleicht hat sie ihn auch nie mehr geliebt als in dieser Zeit seiner absoluten Hilflosigkeit, fand sie ihn nie liebenswerter, war ihr nie so klar wie jetzt, was er ihr bedeutet. Dieses Gefühl gibt ihr die Kraft, sich diesem neuen Leben zu stellen, und es kann sein, dass sich ihre Kraft auf Karl überträgt, dass er gerade deswegen nicht aufgibt und nicht stirbt, dass er diese Katastrophe überlebt, weil er überleben will.

Es scheint, als sei Liebe die beste Medizin.


Doch greift dies schon vor. Den ganzen November bleibt Karl in seinem Koma, dies schone seinen Körper, sagen die Ärzte, aber die Hirnblutung können sie stoppen, so dass die Drainage am Kopf entfernt werden kann. Es ist schon Dezember, als eine weitere gute Nachricht kommt: Karl wacht aus dem Koma auf. Er kann nicht sprechen, nicht schlucken, sich nicht bewegen, muss über einen Luftröhrenschnitt intubiert werden, ist komplett ans Bett gefesselt. Aber seine Augen kann er öffnen und er erkennt seine Frau und seine Töchter, die ihn mittlerweile auch besuchen dürfen. Mira pflegt ihn, so gut sie kann, rasiert ihn, massiert seine Hände und Beine, trägt Cremes und Salben auf seine trockene Haut auf, sorgt dafür, dass seine Lippen nicht aufspringen. Dinge, die das Krankenhauspersonal nicht schafft. Mira ist angewiesen, allzu engen körperlichen Kontakt zu meiden, doch ignoriert sie dies; wann immer sich die Gelegenheit ergibt, umarmt sie ihren Liebsten, drückt ihm Küsse auf Mund und Wangen. Soll mal einer was sagen. Eine Tochter beschafft ein Tablet; jetzt kann, wer ihn besucht, eine Verbindung zum Rest der Familie herstellen, mit Bild und Ton. Wieder ein wichtiger Fortschritt. Doch so richtig voran scheint es nicht zu gehen. Nach Weihnachten verlegen sie Karl zur Reha in eine Nachbarstadt. Eine Zeitlang liegt er noch auf der Akutstation, zwei oder drei Wochen, so genau weiß ich das nicht; und auch nicht, warum er danach auf Normalstation darf, so dass die eigentliche Reha beginnen kann. Mira darf sein Zimmer mit ihm teilen, wieder hat sie dafür gekämpft, und sie ist überglücklich. Doch dann fällt bei Karl ein Corona-Test positiv aus. Ihm macht das nichts, er kann sein Zimmer sowieso nicht verlassen, nicht mal sein Bett. Aber Mira muss mit ihm zusammen in Quarantäne, kommt zwei Wochen lang nicht raus, nicht nach draußen ins Grüne, nicht mal auf den Flur. Bewegung verschafft sie sich, indem sie ständig vom Fenster zur Tür und wieder zurück geht. Mehr Wanderstrecken hat dieses Refugium nun mal nicht zu bieten. Ich würde durchdrehen, denke ich, doch wenn ich in dieser Zeit mit Mira telefoniere, ist sie nie verzweifelt, im Gegenteil, ihre Stimme strahlt Ruhe und Gelassenheit aus und manchmal lacht sie sogar.

Jetzt, auf der Normalstation, beginnt für Karl die Reha. Logopäden und Physiotherapeuten kümmern sich um ihn, doch stets in wechselnder Besetzung, so dass sich keine rechte Beziehung entwickeln kann, nicht zu dem Patienten und auch nicht zu Mira, was einer Besserung seines Zustandes nicht unbedingt zuträglich ist. Trotzdem lernt Mira einiges, was sie später selber anwenden kann. Dehn- oder Streckübungen mit Arm und Fingern beispielsweise, vor allem auf der rechten Seite, welche ganz gelähmt ist. Irgendwann schafft Karl es, auf der Bettkante zu sitzen. Das ist ein Riesenfortschritt. Auch beginnen sie mit ersten Stehversuchen. Karl braucht jedes Mal viel Unterstützung, da er seinen Körper nicht genug kontrollieren kann. Und er kooperiert gut, er will, er will.


Im Februar, drei Monate nach seinem Schlaganfall, wird Karl tatsächlich nach Hause entlassen. Fast fünf Etagen, wie schon gesagt. Hier ist schon vieles vorbereitet: das Krankenbett in seinem eigenen Zimmer, eine Sitzgelegenheit für die Badewanne, damit er geduscht werden kann, ein Toilettenstuhl, Windeln, ein Rollstuhl. Mira glaubt nicht, dass sie in ihrer geliebten Wohnung bleiben können, denn es gibt keinen Aufzug in dem Altbau, und sei erkundigt sich nach Möglichkeiten, wo sie unterkommen könnten. Eine Erdgeschosswohnung wäre am besten, barrierefrei, vielleicht in einer Einrichtung, welche auch Pflegedienste anbietet. Das scheint klar: dass Karl ein Pflegefall bleiben wird. Doch Karl will nicht weg von hier; das hat er seiner Frau deutlich gemacht. Ob man gartenseits einen Außenaufzug anbauen kann? Oder einen Treppenlift im Hausflur? Solche Überlegungen stehen jetzt an. Außerdem kommt jetzt zweimal am Tag der Pflegedienst. Morgens wird Karl gewaschen, er kriegt eine neue Windel, wird angezogen und in seinen Rollstuhl gesetzt. Den Tag verbringt er dann am Küchentisch sitzend. Mira ist immer da und er kann seine geliebten Vögel auf dem Balkon beobachten. Das ist immer was los. Abends dann das Ganze umgekehrt, die Pflegerin macht Karl bettfertig. Mira findet die Pflegekraft nicht so toll, vor allem, wenn sie übergriffig ist. Alles Mögliche soll angeschafft werden, der Hygiene wegen, und es verursacht unglaublich viel Müll, was Karl noch mehr missbilligt als sie selber. Im Laufe der Monate werden die Besuche aber weniger, kommt sie nur noch morgens und zum Jahresende hin sonntags überhaupt nicht mehr. Mira schafft das alleine. Außerdem kommen regelmäßig eine Logopädin und eine Ergotherapeutin und arbeiten mit Karl. Zur wichtigsten Figur aber wird Herr Raschid, der Physiotherapeut. Von eher kleinem Wuchs hat er doch eine unglaubliche Größe. Schon bald erklärt er, der Patient werde wieder ans Laufen Kommen und sogar wieder Treppen gehen können. Mira kennt ihn von früher, da hatte sie selber Therapie bei ihm, und schätzt ihn sehr, doch jetzt hält sie ihn für komplett übergeschnappt. Von wegen. Herr Raschid schafft es, dass Karl aus seinem Rollstuhl aufsteht und tatsächlich auf seinen Beinen steht. Macht erste Gehversuche mit ihm, lässt ihn dabei zuweilen auch los. Irgendwann schafft Karl die Strecke vom Küchentisch bis zum Fenster in seinem Zimmer. Es ist super anstrengend, aber er will, er will und Herr Raschid flößt ihm das nötige Zutrauen ein. Auch überwindet Mira ihre Angst. Herr Raschid kommt ja nur zweimal in der Woche, aber Karl soll jeden Tag üben, das sei so wichtig, und das geht nur, wenn Mira den Part des Therapeuten übernimmt. Und sie schafft auch dies. Entwickelt neue Fähigkeiten, neue Kräfte. Mira und Karl sind ein tolles Team. Eines Tages öffnet Herr Raschid die Wohnungstür und schon steht Karl im Treppenhaus. Nimmt eine Stufe, dann zwei, später eine halbe Etage, dann eine ganze und kurz darauf auch schon zweieinhalb. Das halbe Treppenhaus. Er will, er will und tatsächlich dauert es nicht lange und Karl steht vor der Haustür, viereinhalb Etagen tiefer. Man fasst es nicht, es ist ein Wunder. Abwärts ist schwierig, denn das Geländer läuft auf der rechten Seite und hier muss Mira ihn stützen. Links kann Karl seine Gehhilfe benutzen und vor ihm, das Gesicht ihm zugewandt, geht Herr Raschid, bereit Karl aufzufangen, falls er ins Wanken gerät. Aber das passiert nicht und es dauert nicht lange, da bewältigen er und Mira das Treppenhaus alleine, ohne Herrn Raschid. Und ohne Angst. Es braucht viel, viel Zeit, diese 86 Stufen, wie einfach war das doch früher, vor dem Schlaganfall, aber bringt das was, ein solcher Vergleich? Früher ist vorbei und jetzt ist etwas Neues und das Neue ist nicht nur schwierig, es birgt ja auch Wunder. Vor allem dank Herrn Raschid. Der ist nicht nur ein Experte, was Anatomie und so was angeht, sondern weiß auch einen Patienten einzuschätzen, das Optimum aus ihm herauszuholen, seine eigene Unbekümmertheit, seinen Optimismus, seinen Mut auf ihn zu übertragen.

Ohne Herrn Raschid wäre Karl vielleicht bettlägerig geblieben oder höchstens an den Rollstuhl gefesselt. Und: sie können jetzt wohl doch in ihrer Wohnung bleiben. Wie das entlastet……


Ich selber besuche Karl regelmäßig. Das erste Mal, da ist er noch gar nicht lange zuhause. Er sitzt am Tisch in der Küche, in seinem Rollstuhl, leicht vornüber gebeugt, seine rechte Hand ist gekrümmt. Aber er hat mich erkannt und freut sich über meinen Besuch. Ich übrigens auch. Das zeigt sich in den nächsten Monaten: dass seine schwere Krankheit unserer Freundschaft nichts anhaben kann, im Gegenteil. Oft musste ich daran denken, dass Karl mich, als ich selber längere Zeit im Krankenhaus lag, besuchte, einmal brachte er, der alte Anarchist, sogar eine Flasche Wein mit und wir führten uns im Krankenzimmer ein Gläschen zu Gemüte, hatten Spaß. Mit Karl hatte man Spaß. Der Schalk sitzt immer in seinem Nacken, begleitet ihn quasi ständig und in Gesellschaft springt sein Schalk hervor und treibt mitten unter den Anwesenden seinen Schabernack. Das war Karl. Nein, das ist er, denn dieses verschmitzte Lächeln, diese Lust am Blödsinn, hat er nicht verloren. Doch fällt ihm das Sprechen so schwer. Er artikuliert undeutlich. Wenn er anhebt, merkt man, wie anstrengend es für ihn ist, immer wieder gerät er ins Stocken, kann nur Halbsätze formulieren, findet das rechte Wort nicht, bricht ab. Ein Lächeln spielt dann um seinen Mund und er führt die linke Hand nach oben, zum Kopf hin, gerade so, als wolle sie etwas dorthin bringen. Aber er hadert nicht mit sich, da ist keine Aggression zu sehen oder zu spüren. Er lebt im Frieden mit sich, trägt das alles anscheinend mit Humor.

Sein Gedächtnis hat ebenfalls Schaden genommen, meinen Namen kennt er wohl noch und mit Heike verbindet er auch etwas, aber wie ich ihn nach der Stadt frage, in der er und ich gearbeitet haben, will es ihm nicht einfallen. Ich muss ihm die ersten Buchstaben vorgeben, ehe er auf „Leverkusen“ kommt. Dasselbe beim Namen unserer alten Schule. Doch weiß er den Namen des blöden US-Präsidenten und dass der die Wahl verloren hat, sagt auch, dass er das gut findet. Oder ich lese ihm aus der Zeitung vor. Fußball interessiert ihn weiterhin, vor allem sein Lieblingsverein, von dem er einiges mitbekommt. Was er nicht kann, ist längeren Meldungen zu folgen oder über Artikel zu sprechen, nachdem ich sie ihm vorgelesen habe. Irgendwann, da ist schon Sommer, und mittlerweile kann ich ihn auch fragen, wie es ihm eigentlich geht in seinem Zustand, das heißt, er ist in der Lage, über sich selbst zu reflektieren – irgendwann also sagt er diesen Satz, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte: „Ich habe die Welt verloren.“ Mira ist an diesem Vormittag nicht da, sie hat die Gelegenheit genutzt und trifft sich mit Freundinnen in der Stadt. Ich bin alleine mit Karl und weiß noch, wie sich plötzlich, durch diesen Satz, etwas verdichtet hatte, etwas in der Luft lag, zum Greifen nahe war. Wie er das denn meine, will ich wissen, „ich habe die Welt verloren.“ Und tatsächlich, er kann es erklären. Sagt, die Bayern haben gestern verloren und der BvB hätte gewonnen, aber was davor war oder was noch so passiert sei gestern, das wisse er nicht, das habe er verloren. Ich nehme seine Hand und spüre seine Traurigkeit und auch meine, da ich jetzt verstehe, wie verlassen und einsam sich Karl manchmal fühlen muss. Dann denke ich aber: wie schön, dass Karl das hat sagen können, einfach so, und erklären können, dass er einem Mitmenschen überhaupt etwas erklären kann, was dieser nicht verstanden hat, und dass auf diese Weise ja eine Verbindung zur Welt, in dem Fall zu mir, herstellen konnte. Das versuche ich ihm zu vermitteln, er nickt, aber ich war mir nicht sicher, ob er mich verstehen konnte. Um die Mittagszeit kommt Mira wieder und ich berichte ihr davon und dass ich das kostbar gefunden habe und weiß noch, wie sie sich hinter Karl gestellt hat und ihm zärtlich über seinen Kopf gestreichelt hat.

Ein anderes Mal sitzen wir zu dritt am Küchentisch. Es ist schon Dezember und der Schlaganfall ist jetzt über ein Jahr her. Ich erzähle von meinem Treffen mit ehemaligen Kollegen und wie mich jemand in ihrem neuen Auto mitgenommen hat. Ein Hybrid war das. Karl horcht auf, schaltet sich ein. Spricht über Elektroautos, Hybridwagen, die Verkehrswende. Kein einfaches Thema, aber sein Mund will gar nicht mehr stillstehen, er hält einen regelrechten Monolog, fachsimpelt herum, kann deutlich sprechen, bildet schöne Sätze, ist ganz der Alte. Das fließt nur so aus ihm heraus. Mira und ich sitzen staunend daneben, sagen nix, lassen ihn reden. „Mensch“, sagt Mira irgendwann, „soviel hast du ja schon ewig nicht mehr gesprochen.“ Das war so ein schöner Moment.


Manchmal, wenn ich alleine mit ihm bin, spielen wir auch. Zum Beispiel ein Memory mit 15 oder 20 Pärchen. Es zeigt Tierbabies, niedliche Motive, über die wir auch gut sprechen können. Karl verliert zwar immer, aber nicht sehr hoch. Er spielt gerne. Auch Mensch Ärgere Dich Nicht. Gleich acht Püppchen hat jeder, das ganze Spielfeld ist also besetzt, aber Karl behält die Übersicht und er ist ein ebenbürtiger Gegner. Zwischendurch schütte ich neuen Kaffee auf, den liebt er, oder wärme uns das Mittagessen auf, das Mira vorbereitet hat. Vergesse ich, die Kaffeemaschine auszuschalten, oder steht die Spülmaschine auf Standby, macht Karl mich auf diesen Missstand aufmerksam. Das darf nicht sein und er muss für Ordnung sorgen. So vergeht die Zeit und mir ist nie langweilig mit ihm. Es ist schön Zeit mit Karl zu verbringen. Dieser kranke Mensch hat auf seine Weise etwas sehr Gesundes an sich, ich kenne das an ihm von früher her und es hat sich nicht verloren. Mein Freund Karl tut mir gut.

Übrigens, was Sprache und Gedächtnis angeht, bin ich mir bei ihm manchmal nicht so sicher. Fallen ihm Sachen wirklich nicht ein oder tut er nur so, mit seinen Mitmenschen quasi spielend, weil er seinen Spaß dabei hat? Noch ziemlich zu Beginn war das, dass Mira zu mir sagt, „stell‘ dir vor, da frag‘ ich ihn, wer ich bin, und der antwortet tatsächlich ‚Greta Thunberg‘“. Dabei lacht sie. Ich auch. Und sag‘ zu ihr: „Bist du sicher, dass er dich nicht auf den Arm nehmen wollte?“ Nein, sagt Mira da, sicher sei sie sich da nicht.


Was Mira leistet, wird mir nochmals klar, als ich Karl helfe vom Wohnzimmer auf den Balkon zu gehen. Das sind zwei Stufen hoch und ich weiß nicht mal, auf welcher Seite ich ihn stützen muss. Er weiß es auch nicht. So hangeln wir uns Zentimeter für Zentimeter vor, mühsam ist das und immer diese Angst, dass er mir hinfällt. Aber alles geht gut und Karl sitzt sicher in seinem Stuhl, die Mittagssonne im Gesicht. Doch bedrückt ihn etwas, er fasst sich ständig ans Bein. Achje, seine Socken sind ganz nass, irgendwas ist mit dem Katheter. Ich rufe Mira an und wir lösen das Problem über Telefon: das Ventil über dem Beutel war offen, anscheinend hatte die Pflegerin vergessen es zu schließen, und ich kann das Problem schnell beheben. Ziehe ihm auch frische Socken an, wasche ihn so gut ich kann, wische über den Balkonboden. So, alles wieder in Ordnung und Karl geht es wieder gut. Alles halb so schlimm


Es ist Herbst geworden und für meinen Besuch heute hat Mira etwas Besonderes vor. Um die Ecke liegt der Garten der Religionen und ein kleines Restaurant bietet einfache Speisen an. Die Sonne scheint, es ist warm, man kann schön draußen sitzen. Aber zuerst muss der Rollstuhl die 86 Stufen runter, Mann, ist der schwer. Danach nehme ich Herrn Raschids Rolle ein und gehe vorneweg, Mira auf Karls rechter Seite. Sehr aufregend. Der linke Fuß klappt gut, aber rechts fehlt Karl die Kontrolle. Trotzdem: bald sind wir unten und hinaus geht‘s in die Herbstsonne. So verbringen wir eine schöne Zeit und es ist fast wie früher, dass man mit Karl irgendwo einkehrt und sich‘s gutgehen lässt, dass es in seinem und Miras Leben wieder Normalität gibt, Dinge, die beide genießen können oder zusammen mit Freunden.

Zur Normalität gehören auch Arztbesuche, die Mira jetzt mit Karl machen kann. Sie fährt ihn zum Zahnarzt, bringt ihn zum Hausarzt zur Covid-Impfung. Jedes Mal den schweren Rollstuhl runter und wieder hoch tragen, dazu gehört schon was. Eines Tages kriegt sie dann auch Angst sich und Karl mit Corona zu infizieren. Die Zahlen steigen seit Wochen schon, es ist eine blöde Zeit. Sie erzählt mir, wie sie ihn gefragt habe: „Was ist, wenn wir beide jetzt Corona kriegen und sterben müssen?“ Und seine Antwort war: „Nicht so schlimm. Die Kinder sind versorgt und stehen auf eigenen Füßen.“ Das nahm Mira schlagartig all‘ ihre Sorgen. Wie schön, einen starken Partner an ihrer Seite zu wissen.


So, das war die Geschichte von Karl und Mira. Krankheit hat sie aus der Bahn geworfen, aber ihrer Beziehung hat das nichts anhaben können. Im Gegenteil ist ihre Bindung enger geworden und sie wissen, was sie aneinander haben. Manchmal bin ich ganz schön neidisch. Aber es ist Neid ohne Bitternis, ohne Ressentiments. Neid, den man zugeben kann. Oder ich sehe unsere auf Gesundheit fixierte Gesellschaft, nur so können wir ja funktionieren (und funktionieren sollen wir ja schließlich, nicht wahr), und denke, es gibt vielleicht doch Wichtigeres als gesund zu sein. Keine so schlechte Erkenntnis eigentlich.




II


Charlotte und Andreas, genannt Andy, betreiben seit Jahren dieses kleine Zeichenatelier gleich bei mir um die Ecke. Schüler, junge zumeist, aber auch Erwachsene, werden hier eingeführt in die Kunst des Malens und manchmal ist in den beiden Räumen auch eine Ausstellung zu sehen. Dann bleibe ich gerne vor dem großen Schaufenster stehen und schaue mir die Bilder an oder lasse meinen Blick umherschweifen. Eine richtige Kunstwerkstatt ist das mit Pinseln, Farbtöpfen, Tuben, Leinwänden und Staffeleien. Findet gerade ein Malkurs statt, dann sind noch zusätzliche Scheinwerfer eingeschaltet, die das Atelier in ein helles, warmes Licht tauchen. Und fast immer liegt Raffi, eine Retrieverhündin, träge auf der zerschlissenen Ledercouch, halb wach, halb schlafend.

Wenn Zeit ist, kommen Andy oder Charlotte rasch vor die Tür und wir wechseln ein paar freundliche Worte. Man müsste doch mal an einem warmen Abend in dem kleinen Hof vor ihrem Haus ein Gläschen Rotwein trinken oder ob ich nicht selber mal gerne einen Kurs bei ihnen belegen würde. So was halt. Oder wir begegnen uns auf der Straße, „hallo zusammen, wie geht‘s ?“, kurzer Plausch meist, immer nett. Teilen sogar Sorgen, die man hat wie zum Beispiel, als Charlottes Mutter krank wird. Sie lebt in Berlin, sie holen sie nach Köln, wo sie leider bald stirbt.

So ging das lange Zeit, ohne dass wir aber Freunde geworden wären. Ich mag die beiden gut leiden. Andy ist Anfang Mitte siebzig, Charlotte schätze ich fünfzehn Jahre jünger, eher mehr. Man trifft sie immer zusammen an, oft gehen sie Hand in Hand, teilen ihr Leben und ihre Arbeit. In ihren Gesichtern kann ich lesen, dass es eine gute, gesunde und glückliche Beziehung ist. Sehr inniglich, sehr eng und vertraut miteinander und gleichzeitig sind die Türen nach außen offen geblieben. Im Viertel kennt sie jedenfalls jeder.


Irgendwann ist mir aufgefallen, dass nur noch Charlotte vor die Tür kommt. Auch seltener. Treffe ich die beiden auf der Straße, steht Andy im Hintergrund, ist nicht wirklich involviert, schaut mal hierhin und mal dorthin. Wie abwesend. Charlotte spricht, während er schweigt oder höchstens mal sehr kurze Sätze äußert. Eine ganze Zeitlang denke ich mir nichts dabei, bis Charlotte mich eines Tages fragt, ob sie mich mal anrufen dürfe. Es ginge um Andy und dabei macht sie eine leichte Kopfbewegung in seine Richtung. Sie wirkt sehr bekümmert. „Klar“, sage ich. So erfahre ich, dass bei Andy vor zwei Jahren eine Demenz begonnen habe. Zunehmend verliere er Orientierung und Gedächtnis. Es müsse immer jemand bei ihm sein, ihn betreuen, auf ihn aufpassen und sie selber könne das nicht immer, weil sie ja unterrichten muss. Noch bräuchten sie das Geld. Ob ich vielleicht dienstags nachmittags diese Aufgabe für drei Stunden übernehmen würde? Montags würden sich Terence und seine Frau Trudi abwechselnd kümmern – Terence kenne ich vom Studium, da war er Dozent, und jetzt wohnen sie ganz in der Nähe - , mittwochs und donnerstags käme ein junger Mann Andy abholen. Freitags ist ihre Schule geschlossen. Sie hätte überlegt, wen sie ansprechen, an wen sie eine solche Anforderung herantragen kann, und da sei ich ihr eingefallen. Ich weiß nicht so recht, wie ich reagieren soll. Wir sind nicht eng befreundet und ich hatte nie mit demenzkranken Menschen zu tun. Das stelle ich mir schwer vor. Gleichzeitig ehrt es mich, dass jemand mir soviel Vertrauen entgegenbringt. Nicht, dass ich unter einem Helfersyndrom leide, aber ich kann schwer Nein sagen, wenn man mich um etwas bittet. Ich sage, ich muss mir das gut überlegen.

Was muss man wissen, worauf achten, wenn man mit einem Demenzkranken zu tun hat? In den nächsten Tagen mache ich mich schlau. Meine Nachbarin und eine alte Freundin kennen sich aus. Soviel ist das gar nicht. Immer eingehen auf das, was einem der andere erzählt, auch wenn ich es schon 1000mal gehört habe; ihm nicht widersprechen oder in Abrede stellen, was er erzählt, egal wie glaubhaft es ist; vor allem ihn nicht aus den Augen lassen. Okay, verstanden. Scheint nicht so schwer. Ich sage Charlotte, dass ich es versuchen werde. Mann, hat die sich gefreut.


Ab da unternehmen Andy und ich regelmäßig dienstags Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung. Spaziergänge, Besichtigungen, Veranstaltungen im Freien, irgendwann sogar kleine Fahrradtouren und im Sommer zum Schwimmen an einen See. Oder wir spielen Tischtennis. Man kann soviel machen. Andy liebt das und er ist körperlich fit. Schwieriger ist es, wenn das Wetter schlecht ist und man draußen so recht nichts machen kann. Dann gehen wir zu mir und eine Weile spielt Andy Gitarre und singt dazu. Er war ein ausgezeichneter Musiker und ab und zu blitzt sein Können noch auf. Oder er malt Mandalas aus. Dabei kann er sich richtig gut konzentrieren und will auch von mir wissen, wie ich seine Bilder finde. Jedoch wird er nach einer Zeit unruhig. Ihm fehlt die Bewegung und er möchte raus, nach Hause oder sonst wohin. Nur mit Mühe kann ich ihn dann bei mir halten. In letzter Zeit passiert es auch draußen, dass er schweigsam ist, traurig und deprimiert. Ob ich ihn hängenließe, will er zum Beispiel plötzlich von mir wissen. In solchen Momenten kann ich ihn kaum beruhigen und fühle mich ganz hilflos. Was aber hilft, ist mein kleiner Hund, der uns stets begleitet. Andy mag ihn sehr und durch das Tier findet er Ablenkung von sich und seinen Problemen. Dann erzählt er von früher und von seiner Familie und dass sie immer Hunde hatten.

Oft hat Charlotte uns Kuchen und Kaffee eingepackt, dann picknicken wir irgendwo, oder sie gibt uns Geld für einen Cafébesuch. „Mach‘ Foto“, bittet sie mich und freut sich wie Bolle, wenn ich es ihr schicke. Oder ich nehme auf, wenn Andy singt, das tut er für sein Leben gern, und schicke ihr das. „Sag‘ Andy, dass ich ihn ganz doll lieb hab‘“, schreibt sie mir manchmal zurück. Wie gut ihm der Ausflug getan hat, höre ich dann von ihr, und wie froh sie ist, wenn er nach Hause kommt und ihrem Liebsten geht‘s gut. Sie sorgt sich immer ein wenig, wenn sie ihn nicht unter ihren Fittichen hat. Ich erzähle ihr, wie gut Andy kooperiert: schwimmt er mir davon, rufe ich ihn zurück; er müsse in meiner Nähe bleiben, ich könne nicht so gut schwimmen wie er. Das stimmt ja auch. Zeigt die Ampel Rot, bremst er sein Fahrrad rechtzeitig ab. Ist er verschwitzt, zieht er sich mit meiner Hilfe, sonst kommt er durcheinander, brav um und lässt sich von mir den Rücken abrubbeln. Charlotte gibt immer Wechselsachen und ein Handtuch mit. Alles klappt richtig gut, es gibt nie Probleme. Und trotzdem ist da immer diese Sorge bei Charlotte, es könnte was schiefgehen. „Bin halt ‚ne Glucke“, sagt sie dann.

Und muss auch einiges aushalten mit ihrem Andy. Es ist häufig überhaupt nicht schön, für sie nicht, für ihn nicht. Die Krankheit wird ja nicht besser, sondern schlimmer; das konnte ich über das Jahr, wo ich mit Andy zu tun habe, schon beobachten. Demenz ist nicht heilbar. Tabletten können helfen, meist Psychopharmaka, aber es ist schwierig den Patienten einzustellen und es kommt vor, dass die Medikamente seine Traurigkeit und seine Depression verstärken oder seine Ängste: die Angst verlassen zu werden oder gar zu sterben. Außerdem muss Charlotte auf so vieles achten. Anders als Karl ist Andy ja voll mobil, doch darf er nie alleine raus, weil er sich verlaufen würde. Mit dem Waschen, dem Anziehen muss sie ihm immer mehr helfen. Aufpassen, dass er nicht zu viel isst und noch mehr an Gewicht zunimmt. Denn er hat schon eine ganz schöne Wampe und vergisst einfach, dass er schon viel gegessen hat und eigentlich satt ist. Ihn erinnern, dass er auf Toilette geht. Einmal hat nicht mehr einhalten können, bei mir zuhause war das, und Charlotte erzählte mir hinterher, wie fertig ihn das gemacht hat. Weil er sich schämte. So muss sie ihn fast ständig reglementieren, fühlt er sich fast ständig bevormundet. Es ist auch nicht so, dass ihm verborgen bleibt, was mit ihm los ist; das merkt er schon noch, dass sein Kopf nicht mehr funktioniert, er an Gesprächen im Grunde nicht mehr teilnehmen kann, den Kontakt zu seinen Mitmenschen, auch zu seiner Liebsten, mehr und mehr verliert. Dann brechen sich Verzweiflung, Frustration, manchmal auch Wut Bahn, wird Charlotte zur Zielscheibe all‘ dessen. Das muss man erst mal aushalten. Sehr schwierig sind die Ferienzeiten. Sie unterrichtet dann nicht, Andy braucht keine Betreuung und sie hat ihn ständig um sich, muss sich für jeden Tag etwas ausdenken, was ihn möglichst körperlich fordert, aber auch sein Gehirn zum Arbeiten zwingt. Eine Wahnsinnsaufgabe. Nein, sie will ihn nicht weggeben, in eine Einrichtung zum Beispiel, eine Tagesbetreuung, noch nicht; sie kann ihren Andy doch nicht den ganzen Tag fremden Leuten anvertrauen. Er gehört doch zu ihr, hierher, in diese Wohnung, so wie sie zu ihm gehört. Sie braucht doch auch ihn, der Liebe wegen, und überhaupt: hat es nicht damals bei der Hochzeit geheißen, und das ganz zu Recht: „in guten wie in schlechten Zeiten.“ Also bitteschön.

Aber es ist unvermeidlich. Damit sie selber weitermachen kann, Kraft genug hat für ihren Mann , für ihre Arbeit, für sich selber und damit ihre Beziehung nicht durch diese Krankheit zerstört wird, geht er nach dem Sommer regelmäßig tagsüber in eine Einrichtung. Dort sind Therapeuten und Pflegekräfte, deren Profession es ist, mit solchen Patienten zu arbeiten. Er wird morgens früh abgeholt und nachmittags wieder gebracht. Zunächst einmal in der Woche, dann zweimal. Andy möchte das auch so, der Hauptimpuls für diese Entscheidung ging von ihm aus. Das weiß er wohl, dass das nicht mehr anders geht. Charlotte willigt ein, froh letztendlich, dass sie so rasch eine Einrichtung finden konnten, die Platz hat für ihn. Aber es ist ihr sehr schwer gefallen, ihn aus der Hand zu geben. Es entlastet sie, natürlich, und auch ihre Beziehung. Und trotzdem weiß sie manchmal nicht ein noch aus. Sie muss den Haushalt schmeißen, sich um die Steuern kümmern, Unterricht vorbereiten, dazu die Arzttermine. Da bleibt keine Zeit für einen selbst. Oft schläft sie schlecht; denkt sie an die Zukunft, dann werden ihre Sorgen noch größer. Aber diese Freundlichkeit, die ist in ihrem Gesicht geblieben, und auch diese warmherzige, liebevolle Art, welche sie Andy entgegenbringt. „Ich hab‘ den so doll lieb“, sagt sie dann.

Die Krankheit kann ihrer Liebe nichts anhaben.

Ich gucke zwar nur von außen drauf gucke und bin nicht so sehr involviert, außer dienstags halt und manchmal in den Ferien oder am Wochenende - aber auch dann nur stundenweise -, aber ich denke, auch wenn die Krankheitsbilder sich sehr unterscheiden, ist es bei den beiden so wie bei Karl und Mira, nämlich, dass ihre Gefühle füreinander sie durch die schweren Zeiten tragen.








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Kommentare zu diesem Text


 Thal (06.03.22, 17:20)
Trotz der ausführlichen Länge immer wieder berührende Passagen dabei.
.. leider sind viele völlig allein gelassen und Pflegekräfte oder der Gleichen können selbst, wenn sie mit ganzem Herzen dabei sind, niemals das ersetzen, was Parter, Familie oder Freunde zu geben im Stande sind.

 Dieter_Rotmund (07.03.22, 11:43)
Das ist zu lange, das würde ich portionieren.

Die ersten drei Absätze haben mir ganz gut gefallen.

 Dieter_Rotmund (12.08.22, 17:08)
Herr Bertie ist nicht mehr dabei.
Zur Zeit online:
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