Es war ein schmerzhafter Stich, mehr nicht. Mehr war es bei ihr nie, denn sie war eine Meisterin im Abfangen von Schlägen. Großmutter war tot und sie erfuhr es ganz nebenbei.
„Jetzt, wo deine Oma tot ist…“ Sie starrte ihre Mutter an.
„Ich dachte, du wüsstest das!“ fuhr sie fort. Anja antwortete ihr nicht. Sie dachte daran, dass sie Großmutter besuchen wollte und stattdessen eine Spritztour mit ihrem Freund gemacht hatte. Die Beerdigung fand zwei Tage später statt mit anschließendem Essen im Haus der Großmutter, wo auch ihre Eltern wohnten. Der in Kiel wohnende Onkel war nicht erschienen. Der zweite Onkel fuhr gleich wieder nachhause. Blieben nur Tante Angela mit ihrem Mann Clemens und ihre Eltern. Sie ignorierte die ausgestreckte Hand des Onkels und half ihrer Mutter, das Porzellan auf dem Tisch zu verteilen. Da sie keinen Appetit verspürte, ging sie nach draußen, um eine zu rauchen. Sie sog den Rauch tief in ihre Lungen und stieß ihn durch die Nase wieder aus. Ihr kleiner Sohn lachte:
„Mama, du siehst aus wie eine Lokomotive.“ Sie strich ihm die blonden Strähnen aus der Stirn und lachte ebenfalls. Als sie sich endlich zu den anderen an den Küchentisch setzte, hatte ihre Tante bereits das erste Stück Kuchen vertilgt und kratzte den Rest vom Teller. An ihren Mundwinkeln klebte Tortenguss, helle Gelatine, deren Anblick sie ekelte. Sie blickte über den Tisch. Eine Mutter, die seit fast 20 Jahren ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, ein Vater, der eine Vorliebe für kleine Mädchen und ein Onkel, der seine eigene Schwiegermutter gevögelt hatte und ganz nebenbei pädophile Züge aufwies. In welchem Film befand sie sich gerade? Sie starrte ihren Onkel an, er musste jetzt 73 sein. Er war noch feister als damals und besaß noch weniger Haare. Unter der fettigen Stirn saßen listige Schweinsaugen. Am meisten hasste sie seine wulstigen Lippen. Ihre Gedanken wanderten exakt 15 Jahre zurück. Man schrieb das Jahr 1961. Sie war 11 Jahre alt, ein hoch aufgeschossenes Mädchen mit hüftlangen Zöpfen und überschlankem Körper. Sie war ein ausgesprochen stilles Kind, sehr verträumt und in sich gekehrt. In ihren Tagträumen lebte ein junger Held namens Joschi, der sie beschützte und immer, wenn sie einsam war, für sie da war. In diesem Sommer ließ er sie zum zweiten Mal im Stich. Sie war, wie schon oft, zu Besuch bei ihrer Tante, die im Amtsgericht wohnte. Dort war der Onkel Hausmeister und bewirtschaftete mit seiner Frau zusammen die Kantine des Hauses. Diese zusätzliche Arbeit verrichtete sie neben ihrem Beruf als Telefonistin. Anja war immer gern dort gewesen. Tante Angela und sie verständigten sich oft auf französisch, was ihr ungeheuren Spaß machte, besonders, weil die Tante immer wieder staunte, wie weit ihr Sprachschatz sich schon entwickelt hatte. Sie half eifrig mit, in der Kantine Waren einzusortieren und kleinere Einkäufe zusammen zu stellen. Nach getaner Arbeit belohnte Tante Angela sie mit einer kleinen Flasche Malzbier, damit sie etwas zunähme. Den letzten Abend ihres Besuches verbrachte Anja mit dem Onkel. Die Tante hatte Spätdienst und Anja saß lesend auf dem Sofa, als Onkel Clemens sich mit einem Buch neben sie setzte.
„Weißt du, wie ein nackter Mann aussieht?“ Sie wich seinem Blick aus und schwieg. Sie hätte es noch nicht in Worte fassen können, aber sie spürte ganz genau, dass das, was er sagte, nicht in Ordnung war. Er rückte näher zu ihr heran und schlug das Buch auf. „Schau mal hier!“ Sie sah flüchtig hin und erkannte ein Wirrwarr von nackten Leibern. Bevor sie kapierte, was vor sich ging, drehte er ihren Kopf und stieß seine Zunge in ihren Mund. Sie versuchte auszuweichen, aber seine Hände schlossen sich wie Schraubstöcke um ihre Arme. Und während der Klumpen in ihrem Mund Bewegungen machte, die bei ihr Brechreiz auslösten, griff er nach ihren winzigen Brüsten. Erst jetzt löste sich ihre Erstarrung. Es gelang ihr, sich aus seinem Griff zu winden und sie begab sich rückwärts zur Wohnzimmertür. Sie sah auf die Uhr in der Küche, in der das schmale Gästebett stand, auf dem sie geschlafen hatte. Es war 23.25 Uhr. Sie glaubte zu wissen, dass der letzte Zug kurz nach Mitternacht fuhr, also musste sie sich beeilen. Sie warf ihre Kleidungsstücke in den kleinen Koffer, den ihr Großmutter geschenkt hatte. Ihr Onkel redete unablässig auf sie ein, aber sie beachtete ihn nicht. 10 Minuten später verließ sie das Gerichtsgebäude und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Nach einigen Minuten fuhr ein dunkles Auto dicht neben ihr her. Einen Moment lang war sie versucht, sich klein zu machen, aber dann reckte sie den schmalen Körper und machte schnellere Schritte. Die Bahnhofsuhr zeigte 23.55, als sie eintraf. Der Zug war soeben abgefahren, aber es gab noch einen, der um 1 Uhr fuhr. Sie stellte sich mit dem Rücken zur Wand und behielt die große Eingangstür im Auge. Nach einer Weile betraten die Tante und ihr Mann die Halle und redeten auf sie ein. Sie erinnerte sich nicht mehr an den Wortlaut, nur noch daran, dass sie schrecklich müde war, fror und nachhause wollte. Sie antwortete nicht und nach einer Weile gaben sie auf. Eine halbe Stunde später saß sie im Zug. Sie überlegte, was sie ihrer Mutter sagen würde, wenn sie mitten in der Nacht zuhause ankam. Der Zug bummelte durch die Nacht, sie sah die bunten Lichter der Hütte vorbeifliegen und bemühte sich, nicht einzuschlafen. Es war 2 Uhr nachts, als sie in ihrer Heimatstadt eintraf. Eine halbe Stunde noch, dann hatte sie es geschafft. Die Klingel war so laut, dass sie zusammen zuckte. Ihre Mutter starrte sie an: „ Wo kommst du denn her?“ Sie hatte die Antwort schon zurechtgelegt: „ Onkel Clemens hat versucht, mich zu küssen.“ Eine halbe Stunde später lag sie sehr erleichtert auf der Couch. Sie kamen 2 Tage später. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte weder Anjas Mutter noch ihr Vater Fragen zu den Vorkommnissen gestellt. Alle 4 standen in der Küche und zwar jeweils mit verschränkten Armen. Sie selbst ebenfalls. Es war ein Bild, das sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Das Gespräch nahm schon nach wenigen Worten eine Wendung, die sie nicht erwartet hatte.
„Clemens war schon immer ein sehr geselliger Mensch!“ argumentierte ihre Tante. Und: “Anja hatte immer schon eine äußerst lebhafte Fantasie.“ Spätestens jetzt würde ihre Mutter eingreifen. Anja suchte Blickkontakt zu ihrer Mutter, aber sie sah an ihr vorbei. Sie ignorierte sie. Ein paar Tage später gab es noch eine peinliche Befragung von Seiten ihrer Großmutter, die genau wissen wollte, wo der Onkel sie angefasst hatte. Aber Anja schwieg, aus ihr war kein Wort hervor zu locken.
Ihr kleiner Sohn griff nach ihrer Hand: „Mama, wann gehen wir denn endlich?“
Sie hatte es plötzlich sehr eilig, ihr Elternhaus zu verlassen.