Als ich zum ersten Mal die Insel erreichte, taufte ich sie "Mittland". Sie ist klein, ein kaum sichtbares Fleckchen Land in endloser Weite. Und ich meine endlos. Mittland ist nicht auf Landkarten zu finden, und das, was in sich zyklisch aufbäumenden und dann wieder verschwindenen Wellen an seine Klippen schlägt und mit Kinderbuchzitaten beschriftete Papierboote und ausgeblichene hölzerne Fensterläden an den Strand schwemmt, ist kein Wasser, sondern Leere. Das Meer besteht aus wirbeldem Nichts. Mittland hingegen besteht hauptsächlich aus fruchtbarer Blumenerde, die durch Dinosaurierknochen zusammmengehalten wird. Zwölf verschiedene Spezies, und von jeder Spezies genau ein Skelett. Wenn man die Insel mit einem Metalldetektor absucht, findet man keinerlei Metall, dafür aber bunte Murmeln in Dutzenden von Farben. In meinem kleinen Haus nahe der Mitte der Insel liegen ein paar davon auf den Fensterbrettern.
Das Haus war schon da, als ich nach Mittland kam, verlassen, aber noch warm, als wäre kurz zuvor jemand dort gewesen. Der Schlüssel steckte von der anderen Seite im Schloss, also schob ich ein Blatt Papier unter der Tür durch und drückte ihn mit einem Stöckchen heraus. Was mit einem dumpfen Aufschlag auf das Papier fiel, erwies sich bei näherer Betrachtung als schwerer, verschnörkelter Eisenschlüssel. Als ich die Tür aufschloss, ließ sie sich nur schwer, aber seltsam lautlos öffnen. Im Haus verbreiten bestickte Sofakissen und weiße Vorhänge einen Geruch von frisch gewaschener Baumwolle. Ich habe nichts am Haus verändert, abgesehen von der Schaukel, die ich mir aus einer alten, hellblauen Holztür, die als Treibholz angespült wurde, gebaut und am Baum vor der Tür aufgehängt habe. In der Küche koche ich Tee für die Gäste, die mich manchmal auf Mittland besuchen kommen.
Es ist nicht möglich, Mittland auf einer Weltkarte einzuzeichnen, weil es zwischen allen möglichen Welten liegt. Und von diesen Welten kommen die Besucher, mit denen ich im Wald spazieren gehe oder am Strand Tee trinke. Zu meiner eigenen Verwunderung handelt es sich dabei nicht um Orks, Elfen oder Zwerge. Ein guter Teil meiner Gäste ist menschenähnlich in jeder Hinsicht, ununterscheidbar von den Leuten, die meine Verwandten zu sich nach Hause einladen. Beim restlichen, etwas kleineren Teil meiner Besucher handelt es sich um Wesen, die einem Menschen zumindest äußerlich kaum unähnlicher sein könnten, und seltsamerweise scheint es nichts zwischen diesen beiden Extremen zu geben.
Warst du schon mal im Regen spazieren mit einem Wesen, das nur aus blassgrauen Haaren besteht? Ich schon. Wir teilten Sandwiches und eine Thermoskanne mit schwarzem Tee, und ich wunderte mich schweigend darüber, das mein Begleiter im Gegensatz zu mir keine Spuren auf dem Waldboden hinterließ. Hier und da brach das Wesen Zweige von den Bäumen ab und pflanzte sie mit der Spitze nach unten in die matschige Erde. Binnen weniger Tage ließ der Regen daraus Bäume wachsen, die ihre Blätter und Knospen unter der Erde haben, wo sie niemand sehen kann, während ihre Wurzeln hoch zum Himmel wachsen und sich zu komplizierten Mustern verzweigen und wieder verflechten.
Als ich eine Woche später allein über die Insel spazierte, sah ich, dass diese Wurzelbäume nicht zufällig, sondern in konzentrischen Kreisen angeordnet waren. Mir war gar nicht aufgefallen, dass wir in Kreisen gegangen sind. Langsam durchquerte ich die Baumkreise und arbeitete mich zur Mitte der Insel vor. Der kleinste Kreis war nur ein wenig größer als der kreisrunde Schacht, durch den man hinunter zum Herz der Insel sehen kann. Es liegt im Brustkorb eines Sauriers und leuchtet flackernd, wie ein übergroßes, himmelblaues Glühwürmchen. Wenn man die Hand hineinstreckt, fühlt es sich wie Wasser an, es umspült in die Finger und schwappt in Wellen am Handgelenk hoch.
Das Herz stammt nicht von Mittland, sondern aus dem Hühnerstall meines Onkels. Ich war sieben Jahre alt, als ich in der Abenddämmerung alleine in den Stall ging und es dort liegen sah. Sollte ich meine Eltern holen und ihnen zeigen, was ich gefunden hatte? Stattdessen griff ich nur ungläubig nach dem flimmerden Ding, das da vor mir lag. Streckte meine Hand hinein, dann meinen Kopf, dann beide Schultern. Fiel durch das leuchtende Blau und reiste an den Ort, der immer schon mein Zuhause war. An diesem Tag kletterte ich mit Blumenerde an der Hose aus dem Schacht in der Mitte der Insel, die ich Mittland nennen sollte.
Heute hat das Meer aus endlosem Nichts eine grüne Flasche angeschwemmt. Ich ziehe den Korken heraus und begutachte den Inhalt: Es ist eine Lichterkette. Ich nehme sie und laufe damit den Rand der Insel ab, befestige sie an den Wurzelbäumen und schaffe so einen Kreis aus kleinen Lämpchen. Den Stecker bringe ich zum Schacht und versenke ihn im blauen Herzen Mittlands. Funken sprühen in der Tiefe, dann beginnen die Lichter der Kette zu leuchten. Von oben betrachtet muss es wie ein leuchtender Ring in der Leere aussehen, mit einem kleinen blauen Punkt in der Mitte. Vielleicht lockt es ja neue Gäste auf meine Insel.