Bevor die Menschen kamen, bedeckte der Wald noch jede freie Fläche des Kontinents. Er erstreckte sich bis an die Meere, kletterte jeden Berg hinauf, umschloss Seen und Flüsse und Moore mit seinem undurchdringlichen Dickicht. Technisch gesehen war es ein Urwald, aber dieses Wort erschient mir nicht ganz passend dafür. Nennen wir ihn lieber den alten Wald. Kein Mensch weiß, wie es im alten Wald aussah, weil ihn kein Mensch je betreten hat. Sicher, es gab Menschen, aber noch hatte keiner von ihnen den Kontinent betreten. Noch kannten sie nur ihr eigenes Land, ihre eigenen Wälder, ihre eigenen Geschichten über das, was in diesen Wäldern hauste. Aber der alte Wald war anders. Er war dichter, dunkler, und er umklammerte das Land mit einer Entschlossenheit, die bei anderen Wäldern selten war. Das, was in diesem Wald lebte, hatte keine Namen, und es gab keine Geschichten darüber. Eine andere Form des Lebens, die an keinem anderen Ort der Welt hätte existieren können. Geschöpfe, die den kalten, feuchten Nebel des Waldes tranken, anstatt Luft zu atmen, und deren Augen fernab des Sonnenlichts wie Sterne funkelten. Ihre Pfoten hatten Schwimmhäute und schienen den Waldboden nie ganz zu berühren.
Mit Sicherheit kann das natürlich niemand sagen, denn als endlich der erste Mensch seinen Fuß auf den Kontinent setzte, hatte sich der Wald bereits verändert, hatte es aufgegeben, das gesammte Land zu umklammern, und war auf einen Bruchteil seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft. Die Luft war jetzt dünn und trocken genug, dass ein Mensch sie atmen konnte, und die Bäume ließen gerade genug Licht durch, um einem menschlichen Auge das Sehen zu ermöglichen. Die Geschöpfe des Waldes hatten sich an diese neuen Bedingungen angepasst und waren kaum noch vergleichbar mit denen, die den alten Wald bevölkert hatten. Dennoch war der Wald, zumindest aus menschlicher Sicht, riesig, größer und dunkler als alles, was die Menschen aus ihren Geschichten kannten, und die meisten von ihnen wagten es nicht, ihn zu betreten. Diejenigen, die dennoch in die Eingeweide des Waldes vordrangen, wie Ameisen, die mit winzigen Schritten in ein neues Gebiet vorkrochen, fanden Dinge vor, die sich kaum von Fieberträumen unterscheiden ließen, und in der Tat weiß niemand, wieviel von ihren Geschichten der Wahrheit entsprach und wie viel vielleicht doch eher der fremden Luft und der Wirkung der giftigen Pflanzen des Waldes geschuldet war. Aber diejenigen von ihnen, die zurückkehrten, brachten mehr als nur Geschichten mit, denn die Gifte der Pflanzen dienten den Menschen sowohl als Heilmittel als auch als Waffe gegen ihre jeweiligen Feinde. So veränderte der Wald Mal um Mal den Verlauf der Geschichte.
Dann aber waren es die Menschen, die den Lauf der Geschichte selbst in die Hand nahmen und Städte, Straßen und Fabriken bauten, ihre eigenen Wunder vollbrachten und immer seltener auf die wenigen Mutigen angewiesen waren, die in den Wald eindringen und dessen Wunder bergen konnten. Der Wald, ob nun aus Rücksicht oder aus Resignation, zog sich ein weiteres Mal zurück, bis nur noch ein Wäldchen übrig blieb, das harmlos und zähmbar erschien und von der Menschen kaum noch Beachtung erfuhr, bis einer meiner Vorfahren schließlich das Grundstück aufkaufte und es sein "Wunderwäldchen" nannte. In den vergangenen Zeiten wäre das ein tödlicher Fehler gewesen, doch nun war von den fiebertraumhaften Geschöpfen des Waldes nichts mehr übrig geblieben; stattdessen wurde er zum Wiederentdecker der heilenden Pflanzen, die er im Wunderwäldchen ernten ließ, was seiner Familie zu einem phantastischen Reichtum verhalf.
Es ist dieser Reichtum, der mir und meinen Geschwistern heute ein bequemes und sorgenfreies Leben ermöglicht, auch, wenn unsere Familie inzwischen hauptsächlich Schiffe verkauft und keine Arzneimittel mehr. Das "Wunderwäldchen" aus den alten Zeiten beherbergt keine geheimnisvollen Kräuter mehr, tatsächlich ist nur ein einziger Baum übrig geblieben. Er ist groß und alt und knorrig, ganz so, wie ich mir auch die Bäume des Wunderwäldchens vorstelle, und er riecht nach Moos und Nebel. Manchmal meinen wir, dort die Stimmen fremdartiger Wesen flüstern zu hören, aber meistens spendet er uns einfach Schatten oder Schutz vor dem Regen. Als ich meine Eltern gefragt habe, ob sie schon gelebt hatten, als der Baum noch jung war, haben sie gelacht und gesagt, in ihrer Kindheit sei er mindestens genau so groß und knorrig gewesen. "Mindestens?", habe ich gefragt, und sie haben etwas verlegen zugegeben, dass sie ihn eigentlich sogar als noch älter und größer in Erinnerung haben. Als ich meinen Großeltern dieselbe Frage stellte, stellte sich heraus, dass sie ihn sogar als uralt und gigantisch in Erinnerung hatten.
Meine Enkel hingegen werden den jungen Baum erleben, und ihre Kinder werden darauf herumklettern, seine seltsam geformten Früchte pflücken und aus den Samen Halsketten machen. Das Familienunternehmen wird es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr geben, das Vermögen auch nicht, aber die Familie wird am Grundstück festhalten, solange sie kann. Eines Tages wird auch das nicht mehr gehen. Wenn sich die Kinder unter Tränen vom Baum verabschieden werden, wird er in voller Blüte stehen und sie werden seinen Stamm umarmen, der inzwischen schmal genug dafür sein wird. Der Baum, von dem sie Abschied nehmen werden, wird weder groß noch knorrig sein, aber wunderschöne Blüten haben und Insekten in allen Farben und Formen anziehen.
In ferner Zukunft, wenn die Menschheit, einst neu auf diesem Kontinent, ihrem Ende entgegen blicken wird, wird da, wo jetzt der Baum steht, nur noch ein Spross erkennbar sein, klein und grün und leicht zu übersehen in der größtenteils menschenleeren Weite. Das Leben wird hart und einsam sein für diejenigen, die noch übrig sein werden, die auf den in der Sonne verblassenden Trümmern der menschlichen Zivilisation ihr Dasein fristen werden, und für sie wird dies ein Ort sein, um zusammenzukommen und Geschichten zu erzählen. Sie werden den Sprössling gießen, wenn sie Wasser entbehren können werden, und im Gegenzug wird er ihnen ein wenig Hoffnung spenden.
Wenn der letzte lebende Mensch an diesen Ort kommen wird, wird auch der Sprössling verschwunden sein. Nichts wird ihn an die Vergangenheit der Menschheit erinnern können außer der Kette, die er um den Hals tragen wird, mit einem seltsam geformten Baumsamen daran. Und da er die Kette nicht mehr brauchen wird, wird er den Samen an diesem Ort setzen und einen Baum pflanzen, der in der Zeit rückwärts wächst.