Kurt ruft an
Ich wache auf. Es ist Montagmorgen halb acht. Ist das herrlich, ich muss nicht zur Arbeit. Hab mindestens ne ganze Woche frei. Mein Gesicht schmerzt ein wenig. Muss wohl drauf gelegen haben. Trotzdem. Ich genieße es, mal nicht mitten in der Nacht aufstehen zu müssen. Wirklich schön… wenn da nicht diese eine Sache wäre…
Und das kam so:
Das Telefon klingelte und riss mich aus meinem samstagnachmittäglichen Schönheitsschlaf. Das Display verriet mir: Kurt ruft an.
–Kurti, wo brennt’s? ,
gähnte ich.
-Moin, Alter,
sagte Kurt.
Kurt machte, seit er vor drei Jahren von Karin geschieden war, jeden Sommer Urlaub an der Nordsee. Seit dem war Kurt friesophil. Mit Tee in der Tasse, Dockermütze auf dem Kopf, Leuchtturm im Vorgarten und „Moin“ zu jeder Tages- und Nachtzeit.
-Ich denke,
sagte Kurt.
-Wir sollten heute Abend mal wieder ne Hafenrundfahrt machen. Was sagste?
Ich ahnte schon, was kommen würde, als ich seinen Namen auf dem Display las, und checkte im Geiste, noch bevor ich mich meldete, den Inhalt meiner Geldbörse.
-Gute Idee, sagte ich.
-Schnuppern wir mal wieder Seeluft. Um Acht?
-Ay, Käptn. Bin pünktlich da.
sagte Kurt.
Das war er. Nach zehn Minuten Fußmarsch öffneten wir die Tür zur „Pinte“.
Wie lange gilt eigentlich schon das Rauchverbot in Kneipen? Weiß nicht. Aber wenn du in dieser Kneipe dreimal eingeatmet hast, hast du den Rest deines Lebens um drei Monate verkürzt. Die Einrichtung, die Tapeten und Vorhänge hatten mindestens so viel Nikotin intus, wie die Lunge von Altkanzler Schmidt.
Kurt orderte zwei Steinhäger und zwei Pils. Damit der Wirt nicht immer wieder fragen musste, was wir trinken wollten, abonnierten wir die erste Runde bis auf Widerruf. Kurt und ich hatten eine Vereinbarung die besagte, dass wir am Ende die Zeche brüderlich teilten. Nach der dritten Lage beschlossen wir, auf die Rundfahrt zu verzichten und an Ort und Stelle Anker zu werfen. Das hing wohl auch damit zusammen, dass inzwischen eine Handvoll weiblicher Matrosen an Bord gekommen war. Ohne männliche Begleitung.
Der Wirt hatte wohl unser pubertäres Geschiele zum Damentisch bemerkt, und wollte uns was Gutes tun. Ich kann es mir nur so erklären, denn er schob eine CD in den Player. Schlager der 50er und 60er.
Als dann die ersten Takte von „Junge, komm bald wieder“ ertönten, hielt es Kurt nicht mehr auf seinem Hocker. Er steuerte geradewegs auf die fröhlich plappernden Damen zu und schob Sekunden später, kindisch lächelnd, eine hübsche Rothaarige über die knarzenden Dielen. Dann passierte es. Als Freddy davon sang, dass er in jedem Hafen einen Brief von seiner Mutter erhielt, kam ein Pfiff aus den Lautsprechern, die Musik verstummte und eine kleine blaugraue Wolke entstieg der Musikanlage, und verlor sich nach und nach in der alkoholgeschwängerten Pintenluft. Vielleicht war die Elektronik ja mit den Altlasten deutschen Liedgutes überfordert. Ich weiß es bis heute nicht, aber ich dankte ihr damals im Stillen für ihr selbstloses Verhalten. Ich ließ noch eine Lage kommen und Kurt brachte die Rothaarige an ihren Tisch zurück.
-Mann,
sagte Kurt, als er wieder neben mir saß.
-Die Kleine ist Spitze. Scheiß Anlage.
Dann kippte er den gerade angekommenen Steinhäger.
Der Wirt entschuldigte sich, versprach aber, so schnell, wie möglich, seine private Stereoanlage aus dem Wohnzimmer zu holen und anzuschließen. Das klang für mich in etwa so, als sagte mein Zahnarzt: ich gebe Ihnen eine Spritze, dann ist die Wurzelbehandlung völlig schmerzfrei.
-Die ist sicher verheiratet,
sagte ich.
-So gut, wie die aussieht, ist die bestimmt nicht allein.
-Is mir egal,
sagte Kurt.
-Vielleicht is ihr Alter auf Nachtschicht und sie braucht was Warmes im Bett.
Ab einem bestimmten Level kannte Kurt kein Erbarmen.
-Hör auf,
sagte ich.
-Die ist mit ihren Freundinnen hier und will sich nur nen netten Abend machen.
-Is doch mein Rede,
sagte Kurt.
Der Wirt kam aus seiner Wohnung zurück, und die Folter ging weiter.
-Komm, Alter,
sagte Kurt.
-Nimm dir auch eine. Das Fleisch ist warm und willig.
Diesmal startete der Wirt die CD mit dem zweiten Song, weshalb Catarina Valente im Traumboot der Liebe nach Hawaii fuhr.
Ich bekam plötzlich Hunger. Das kam wahrscheinlich von der vielen Seeluft, die durch die Lautsprecher hindurch in die Kneipe drang. Der Wirt bot mir Frikadellen an, die er am Nachmittag selbst gebraten hätte. Ich war einverstanden.
Kurt und seine Rothaarige schauten sich tief in die Augen und drehten sich im Kreis.
Die Fleischklopse schmeckten tatsächlich gut, und als ich gerade den zweiten in Angriff nehmen wollte, ging die Tür auf.
Fünf Kerle kamen herein und steuerten mit Hallo auf den Tisch der Damen zu. Bis auf einen. Der war noch keine drei Schritte von der Tür entfernt, als er Kurt und die Rothaarige erblickte. Ich kann mich noch gut erinnern, dass seine beiden Augenbrauen im selben Moment zu einer einzigen verschmolzen und er seine Lippen aufeinander presste, dass sie weiß wurden. Ich deutete dies als ein Zeichen von beginnender Verstimmung. Als er dann seine zwei Zentner, auf geschätzt ein Meter neunzig verteilt, auf meinen Kumpel und seine Tanzpartnerin zu bewegte, schwante mir augenblicklich nur das Schlechteste.
Rückblickend kann ich mir seinen Missmut nur damit erklären, dass Kurt seine Hände auf dem Hintern der Rothaarigen geparkt hatte, und seine Nase zwischen ihren Brüsten herumschnüffelte.
Dann ging alles ganz schnell. Mit seiner Linken riss er Kurti aus dessen Nahkampfstellung, um ihm mit seiner Rechten einen gezielten Punch auf‘s Maul zu knallen. Als Kurt nicht gleich zu Boden ging, holte der Große zum zweiten Schlag aus, was ich aber heldenhaft zu verhindern wusste.
Der Notarzt wusste mich aber zu trösten.
-Sie hatten etwas mehr Fortune als ihr Freund,
sagte er.
-Ihre Nase ist zwar gebrochen, aber das ist ein gutes Stück preiswerter, als zwei ausgeschlagene Schneidezähne.