Das Glückskind
Dietmar war ein Glückskind.
Von der ersten Sekunde seines Lebens an.
Er kam an einem sonnig-warmen Sonntag zur Welt und entwickelte sich zu einem gesunden und wohlgenährten Säugling.
Während seiner Schulzeit, gab es kaum ein Kind seines Alters, das weniger Probleme hatte als Dietmar.
Mit sechsundzwanzig hatte er einen ausgezeichnet bezahlten Job, der ihm zudem auch noch Spaß machte, und er fand eine Frau, die er über alles liebte und die ihm zwei gesunde Kinder schenkte.
Die beiden bereiteten ihm und seiner Frau viel Freude.
Ja, das Schicksal meinte es gut mit ihm.
Dann, als Dietmar die vierzig überschritten hatte, ging er eines Tages zum Arzt, um einen Check-up machen zu lassen. Nicht, weil er sich krank fühlte, sondern weil ihm seine Frau klar gemacht hatte, dass es dafür an der Zeit wäre, denn Dietmar hatte seit Jahren keine Arztpraxis von innen gesehen. Warum auch? Er fühlte sich fit und sein Tatendrang war wie eh und je ungebrochen. Aber seine Frau sorgte sich, da sie bemerkt hatte, dass er seit geraumer Zeit etwas an Leibesfülle zugelegt hatte. Und außerdem, man weiß ja nie, sicher ist sicher.
Es stellte sich heraus, dass Dietmars Blutdruck die üblichen Grenzwerte um einiges überschritt. Sein Körpergewicht war gut zehn Kilo über der für seine Größe gesunden Norm. Ebenso seine Cholesterin- Harnsäure- und Zuckerwerte.
Dietmar gelobte Besserung und nahm brav seine Medikamente.
Seine Frau drängte ihn, sich ein Fahrrad zuzulegen und mindestens zwei mal in der Woche damit auf Tour zu gehen. Bei der Essenszubereitung hielt sie sich streng an die neuen Erfordernisse, um Dietmars Gesundheit wieder auf Normalwerte zu bringen.
Drei Monate später war der Arzt sehr zufrieden mit Dietmar und bestärkte ihn darin, was Ernährung und Bewegung anging, genauso weiter zu machen.
Dietmar war stolz auf sich und gönnte sich zur Feier des Tages ein paar sündhaft teure Kopfhörer, mit denen er bei seinen einsamen Radtouren durch den Wald, seine Lieblingshits noch soundstärker genießen konnte.
An einem sonnendurchfluteten Sonntagmorgen im Frühsommer radelte Dietmar wieder auf seiner bevorzugten Strecke im Stadtwald entlang.
Seine Frau traf sich zum Frühstück mit ihren Freundinnen und die Kinder, beide Teenager, holten den Schlaf nach, den sie beim gestrigen Discobesuch versäumt hatten.
Die Musik aus seinen Kopfhörern versetzte ihn in eine euphorische Stimmung, was ihn dazu veranlasste, beim Bergabfahren einen neuen, persönlichen Geschwindigkeitsrekord anzustreben.
Den Jeep des Försters, der aus einem nicht einsehbaren Seitenweg Dietmars Rennstrecke kreuzte, hörte er nicht. Und als er ihn sah, war es zu spät.
Der Notarzt legte dem Förster, der mit den Nerven völlig am Ende war, eine Hand auf die Schulter und sagte:
„Glatter Genickbruch. Bei dem Tempo, das der drauf gehabt haben muss, nützt auch der beste Helm nichts mehr. Aber wenigstens ging es schnell, und er musste nicht leiden.“
Tja, Dietmar war auch in seiner letzten Sekunde ein Glückskind.