Der Kakteenstachel
Gedanke
von Elia
Vermutlich war der Kakteenstachel schon Tage bevor meine überraschten Finger ihn fanden unbemerkt in die Kopfhaut gedrungen. Unruhig schob ich ihn einen Arbeitstag lang hin und her, zupfte, zog, vergebens. Auf dem Weg nach Hause, vor einer roten Ampel, verlor ich die Nerven. Statt ihn noch eine Viertelstunde zu tolerieren und im heimischen Bad mittels einer Pinzette herauszuziehen, knickte ich ihn gewaltsam ab.
In den nächsten Tagen schwoll die Stelle an. Kakteenstachel führen zu Entzündungen, vor allem wenn man sie in der Haut hin und her schiebt. Mit Glück eitern sie später heraus. Dieser nicht. Unerreichbar plan lag er unter der Kopfhaut und sorgte für ein fünf Zentimeter großes „Ei“ oberhalb der Schläfe. Ans Haare färben war nicht mehr zu denken. Dann bildete sich die Schwellung zurück und nur eine erbsengroße Erhebung, gut tastbar und schorfig blieb zurück. „Ich habe leider nicht die Instrumente, Ihnen den Stachel zu entfernen“, sagte der Hausarzt, „aber Sie können gern ins Krankenhaus fahren. Die chirurgische Ambulanz hat mehr Möglichkeiten. Ansonsten müssen Sie sich keine Sorgen machen. Der Schädel ist hart. Da wandert nichts durch.“ „Also kann ich auch einfach abwarten?“ „Ja, vielleicht zerbröselt er oder der Körper baut ihn ab. Bei sehr dünnen Stacheln kann das klappen.“
Ich beschloss, abzuwarten. Ein Nebeneffekt war, dass ich einen Grund hatte, die Haare nicht zu färben. Seit meinem vierten Jahrzehnt war ich grau. Im fünften trug ich einen Pixie, alt sein auf Probe. Im sechsten färbte ich wieder. Dann verliebte ich mich. Dann entliebte ich mich. Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, die inzwischen länger gewordene goldbraune Mähne zu schneiden.
Immer, wenn etwas Wichtiges geschieht, gehen Menschen zum Friseur. So war auch ich ein Leben lang zwischen Haarlängen und -farben gesprungen. Aber dieses Mal brachte ich es nicht übers Herz, denn klar war: Ließ ich nun die Haare schneiden und kehrte zum „vornehmen Grau“ zurück, dann würde es endgültig sein. Dann ergraute mit den Haaren auch die Hoffnung, die Romantik und der Traum. Natürlich haben graue Haare Charme, aber sie haben auch eine Botschaft: „Ich muss nicht mehr gefallen.“ Wenn in jungen Jahren eine Liebe endet, gibt es noch immer eine Zukunft. In meinem Alter nicht. So hielt ich an der Frisur fest und mit ihr an jenem ungewollten Lieben, das überraschend und unbemerkt in mein Leben gedrungen war und sich einfach nicht entfernen ließ. Als meine nackten Finger es ertasteten, war es direkt als Fremdkörper ausgemacht. Fasziniert hatte ich daran gespielt, versucht, mir das Lieben aus dem Sein zu ziehen und es, als das misslang, ungeduldig abgeknickt. Wie der Kakteenstachel lag es seither plan unter der Haut. Ließ ich es in Ruhe, schmerzte es nicht, aber tastete ich danach, entzündete es sich. Und dennoch mied ich den, diesem Vorbei würdigen, ultimativen Cut meines Haares und färbte weiter wie zuvor. Denn was, wenn wir uns doch noch einmal über den Weg liefen, irgendwo, in der Stadt, in einem Café oder Laden?
Und nun? „Ich kann mir die Haare momentan nicht färben. In meiner Kopfhaut steckt ein Kakteenstachel, nein, nicht schlimm, wahrscheinlich ein ganz dünner.“ Diese Antwort auf die Frage: "Wirst Du jetzt grau?" glaubte ich mir selbst. Es dauerte noch etwas, bis ich begriff, dass der Stachel nötig war.