Begegnung 2

Kurzprosa

von  Elia

Es ist verdammt kalt auf dem Weg zur Apotheke. Meine Hände am Fahrradlenker sind steifgefroren, die Nase läuft, der Himmel hängt schneeschwer über dem Parkplatz vor dem Einkaufscentrum. Es ist Donnerstagvormittag. Ich habe mich heute Morgen krankgemeldet, brauch jetzt was gegen das Fieber und ein paar Halsschmerztabletten. Im Absteigen vom Rad fällt mein Blick auf das alte rote Auto. Vorsichtig manövriert es in eine Lücke. So eins hatte sie auch.  

Eine alte Frau steigt aus, kurzes Haar, ein breiter grauer Ansatz. Nein, das kann sie nicht sein. Ihre Haare waren schulterlang und wellig. Ich habe sie zuletzt mit einer schmalen Jacke in Lila-Metallic gesehen, kitschig, leuchtend, nicht mehr wirklich zum Alter passend, aber, dem zum Trotz, zu ihr. Ich hatte nicht über ihr Alter nachgedacht. Es war nicht bedeutsam. Erst sie mich im ersten Lockdown bat, ihr am nächsten Tag unbedingt zu schreiben, weil es wichtig sei, dass es ein schöner Tag würde, wurde ich stutzig. Ich schrieb ihr jede Woche, nicht öfter, was war morgen? Geburtstag? Google kannte die Antwort. Vor zwanzig Jahren hatte sie einen Lyrikwettbewerb gewonnen und die Lokalpresse hatte darüber berichtet, mit Geburtsdatum. „Herzlichen Glückwunsch zu Deinen jungen 57 Jahren.“, schrieb ich ihr, und sie schickte mir das Gedicht. Es sei zwar nicht aktuell und auch eigentlich nicht für mich, aber … trotzdem. Und jetzt? Wenn es nicht für mich war, warum schickte sie es dann? „Es ist immer wieder schön, einen Liebesbrief zu bekommen.“  Was hätte ich sonst schreiben sollen?

Es wurde immer anstrengender mit ihr, aber irgendwie kam ich nicht raus aus der Nummer. Ich wartete ab, ließ die Liebeserklärung sacken. „Ich habe mich einfach erschrocken, dass Du mein Alter kennst und nimm es nicht so ernst, es ist längst vorbei.“, erklärte sie, aber ich glaubte ihr nicht. „Ich möchte es reduzieren.“, schrieb ich, „Ich bin einfach nicht gut darin, auf die Ferne Beziehungen zu pflegen.“. „Dann reduziere es.“, hatte sie geantwortet und sich wirklich nicht mehr gemeldet. Ehrlich gesagt, es wäre schlau gewesen, es dabei zu belassen, wären wir uns nicht im Sommer zufällig noch einmal begegnet und hätten wir nicht peinlich berührt voreinander gestanden. „Ich möchte mit Dir Kaffee trinken. Vielleicht schaffen wir es, eine Freundschaft daraus zu machen.“, hatte sie vorgeschlagen. „Ja, können wir machen, aber in den nächsten zehn Tagen habe ich keine Zeit.“, hatte ich geantwortet. „Dann überleg Dir, wann es passt und schreib mir das.“ Ich rührte mich nicht. Am nächsten Abend kam eine Mail von ihr: „Du, ich glaube, Du willst das gar nicht und, sei mir nicht böse, aber das halte ich nicht aus. Bitte schreib mir nie wieder.“ Ich war erleichtert, aber das konnte ich so nicht stehen lassen. „Ich habe Dich wirklich gern, wenn auch nicht ganz so wie Du mich. Und, nein, ich melde mich nie wieder, aber ich lüge, denn ganz bestimmt melde ich mich nochmal. Und alles Liebe und Gute.“ Ich weiß nicht, was mich geritten hat, nicht einfach zu schreiben: „Ich akzeptiere das und wünsche Dir natürlich auch alles Gute.“ Ich rechnete einfach nicht damit, dass sie sich nun nochmal „umdrehen“ würde.

Aber einige Monate später schrieb sie. Sie habe sich überlegt, sie könne meine Tante sein und ich ihr Neffe, denn für eine Freundschaft sei der Altersunterschied zu groß und aus genau diesem Grunde käme auch eine Liebesbeziehung nicht in Betracht, eine Mutter hätte ich schon, aber ob ich auch eine Tante hätte? Sie würde sich wünschen, wir fänden eine Form, die es uns erlauben würde, die Beziehung zu gestalten, so dass sie mich bis zum Ende ihres Lebens nicht verlieren müsse. Ehrlich gesagt, sie hatte mich nicht nur längst verloren, sie hatte mich auch nie „gehabt“. Ich bin ein flüchtiger Mensch, ein bisschen wie ein Schmetterling, immer unruhig, immer neugierig auf Neues.  Etwas Dauerhaftes hatte ich nie gewollt. Und auch nicht gekonnt. Ich wusste, bei allem guten Willen, ich würde sie wieder enttäuschen. Außerdem war dieser Sommer nach dem ersten Lockdown unerwartet gut gewesen, Italien, das Meer, wieder Treffen mit Freunden. Niemand wusste, dass es bald wieder einen Lockdown geben würde. Aber dass es so etwas gab wie eine allgemeine Einsperrung, das hatte mich darin bestärkt, das Leben so gut zu nutzen wie möglich. Sie war in meinen Gedanken verblasst wie Kreide an einer Tafel und verdammt, eine Tante brauchte ich nicht. Ich war erwachsen. Also antwortete ich: „Ich habe mich inzwischen damit abgefunden, dass Du den Kontakt nicht mehr wolltest und ich möchte nicht noch einmal abgebissen werden. Bitte versteh das. Aber wenn wir uns zufällig treffen, bekommst Du natürlich wieder eine Umarmung.“ Sie schrieb: „Dass wir uns zufällig irgendwo begegnen, ist unwahrscheinlich und falls doch, dann werden wir sehen, ob das mit der Umarmung noch passt.“

Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Darum: Die Frau dort neben dem roten Auto, ist sie es, oder nicht? Ich erinnere mich, wie sie aussah, damals, als ich wir uns zuerst begegneten. Sie trug zu weite Hosen und darüber lange Baumwollpullis in Schwarz oder Blau, die ihre Figur kaschierten. Aber dann wandelte sie sich, verlor jede Woche Gewicht. Nach wenigen Wochen hatte sie eine Figur wie eine Zwanzigjährige und damit wechselte sie den Kleidungstil. Die Jeans wurden eng, die Shirts bunt. Sie hatte eine Vorliebe für Boho-Klamotten. Ihre Beine waren schlank und muskulös. Sie trug kurze Röcke. Sie erzählte, dass sie mehrmals in der Woche ins Fitnessstudio ging, und ich musste mir das Lachen verkneifen, als sie mir stolz ihren Bizeps präsentierte. „Größe 36 passt nur deshalb nicht, weil ich meinen Bizeps nicht in die Ärmel kriege.“ Sie konnte mit Makeup umgehen, auch wenn sie zu Beginn nie welches getragen hatte und im Ergebnis sah man ihr die siebenundfünfzig Jahre nicht an. Man hätte sie eher auf Mitte Vierzig geschätzt, hübsche Mitte Vierzig. Wie es zu dieser Metamorphose kam? Ich ahnte lange nichts. Es war einfach nicht denkbar.

Inzwischen muss sie über Sechzig sein. Die Frau dort neben dem roten Wagen erinnert mich an ihren Auftritt ganz zu Beginn unserer Bekanntschaft: weite Hosen, schwarz, ein schwarzer Pulli, darüber eine dunkelblaue Daunenjacke, mollig, eine wirklich alte Frau. Vom Schmetterling zur Raupe? Sie kommt auf mich zu. Schnell. Sie hatte immer einen schnellen Schritt. Wenn sie es ist? Was dann?

Eilig drehe ich mich zur Wand und beschäftige mich mit meinem Fahrradschloss, schließe es auf, schließe es zu, schließe es auf. Die Schritte kommen nah, halten kurz inne, eilen dann an mir vorbei, drei, vier Sätze. Sie läuft. Läuft sie weg? Ich bemühe mich, stur nach unten zu blicken. Erst als es einige Sekunden still ist, wage ich es, schräg in Richtung der verklungenen Flucht zu linsen. Niemand mehr da!

Zur Apotheke gehe ich außen herum, dann ab auf‘s Rad und vorbei am alten roten Wagen. Ob sie es wirklich war?



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Kommentare zu diesem Text


 Aron Manfeld (22.02.25, 20:02)
Das klingt ja wie ein Beipackzettel, liebe Elia.
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