Morphy und die Opernpartie

Kurzgeschichte zum Thema Zeitreise

von  Gabrielus

Auf dem Platz vor dem Eingang der Salle Ventadour hatte sich eine kleine Reihe Kutschen gebildet. Die Insassen mussten wenige Meter durch die nasse Kälte die Treppen zum Foyer hochgehen. Die meisten Besucher kamen aber zu Fuß und durften das regnerische Herbstwetter voll auskosten, was ihre Vorfreude auf die davorstehende Aufführung nicht schmälerte.

Paul Charles Morphy kam um sechs Uhr am Abend des 2. November 1858 an. Die Aufführung sollte in einer Stunde beginnen. Am Eingang des Opernhauses traf er auf Jacques, einen Polizisten den er aus dem Café de la Régence kannte.
«Gute Abend, Jacques. Bist du heute Abend im Dienst oder spielen wir noch eine Partie?»
«So gerne ich diesmal gewinnen möchte, aber ich bin noch im Dienst. Wenn alles ruhig bleibt, habe ich in einer Stunde Feierabend.»
Jacques, ein großer schlanker Mann, etwa vierzig Jahre alt, war einer von acht Gegnern in einer Blindsimultanpartie gegen Paul Morphy.
«Dann wünsche ich dir also, dass alles ruhig bleibt! Aber weshalb ist heute ein so großes Polizeiaufgebot rund um das Opernhaus?»
«Oh, darüber dürfen wir nicht reden.», antwortete der Polizist etwas verlegen.
Er wollte Jacques nicht noch mehr in Verlegenheit bringen, daher bohrte der junge Mann, der durchaus feinfühlig sein konnte, nicht weiter. Die Feinfühligkeit galt aber nicht für seine Spielweise beim Schach. Er war zu der Zeit der weltbeste Spieler, konnte mehrere Partien gleichzeitig spielen, ohne auf das Brett zu sehen.
«Aber was führt dich den her? Etwa nur die Aufführung oder geht es auch um Schach?»
«Da liegst du richtig! Es geht auch um Schach. Ich bin wieder Gast in der Loge des Herzogs.»

Paul verabschiedete sich und ging durch das Foyer und den Gang hinunter. Auf dem Weg zur Loge beobachtete er einen dunkel gekleideten Mann, der sein Gesicht zu verbergen versuchte. Er erreichte die Loge. Diese gehörte dem Herzog, inzwischen im Exil lebend. Obwohl nicht mehr an der Macht, blieb er für viele immer noch der Herzog von Braunschweig. Graf Isouard, der in Beratung mit dem Herzog spielen sollte, war bereits dabei, die Figuren aufzubauen.
«Mein lieber Paul, Ihr seid ja ganz durchnässt! Ein Glück, dass man Euch nicht verhaftet hat, bei dem Aussehen!», scherzte der Graf.
«Viel hat auch nicht gefehlt! Zum Glück erkannte mich einer der Polizisten. Aber wozu denn das große Polizeiaufgebot?»
«Ein gefährlicher Irrer soll gestern Abend aus Charenton geflohen sein. Früher soll er jeden Abend in der Oper als Sänger gewesen sein. Nach dem Attentat auf den Kaiser werden ja ohnehin alle Theater stark bewacht.»

Die Partie sollte wieder mit dem außergewöhnlichen Schachbrett des Herzogs ausgetragen werden, das der Graf bereits am Nachmittag vor dem Spiel abgeholt hatte. Karl von Braunschweig, standesgemäß gekleidet, kam gerade rechtzeitig, bevor der Vorhang aufging. Er wurde von seiner Kutsche von einem Mitarbeiter des Opernhauses abgeholt. Dieser begleitete den Herzog bis zu dessen Loge. Dieser Service war nicht Folge des Adelstitels, sondern der großzügigen Spenden des Herzogs.
«Verehrter Graf, Paul, mein junger Freund, seid gegrüßt!»
Die beiden Angesprochenen erwiderten die Begrüßung, dann kam auch schon der Dirigent ans Pult. Nach dem Applaus begann die Ouvertüre. Die Ouvertüre zu «Il barbiere di Siviglia». Paul konnte es kaum noch erwarten, die warme und kraftvolle Mezzosopranstimme von Marie, der Sängerin in der Rolle der Rosina, zu hören. Er kannte sie aus New Orleans, wo sie einige Monate zu Gast war. Er nahm sich vor, sie an diesem Abend anzusprechen und ihr seine Zuneigung zu gestehen. Da es die letze Aufführung der Saison des «Il barbiere di Sivglia» war und sie vermutlich bald abreisen würde, durfte er nicht zögern.

Die Adligen spielten häufig Schach in ihrer Loge. Diese war direkt an der Bühne. Sie wurde mehr zum Schach spielen als Opernaufführungen zu genießen genutzt, so dass sich Paul fragte, wozu sie direkt an der Bühne sein musste. Er hatte mehrere Opernaufführungen in der Loge des Herzogs hören dürfen. Nur hören. Er saß mit dem Rücken zur Bühne. Um die Sängerinnen und Sänger zu sehen, musste er sich umdrehen. Er tat dies selten und konzentrierte sich auf die Musik. Das Schach spielen während einer Aufführung war ihm nicht besonders wichtig. Zum Schach spielen bevorzugte er die Atmosphäre des Café de la Régence.

Auf der Bühne sang der Bariton, der Figaro verkörperte, seine fröhliche Auftrittsarie «Largo al factotum», einer der gesanglichen Höhepunkte der Oper, den das Publikum mit tosendem Applaus feierte.


Morphy spielte mit den weißen Steinen und begann den Kampf. Nach seinem zweiten Zug konnten mehrere Eröffnungen entstehen. Er hoffte auf eine Fortsetzung, die zur Italienische Partie führen würde, ganz passend zum Opernabend im Théâtre-Italien in Paris.


Marie, in der Rolle der Rosina, sang ihre Cavatine «Una voce poco fa». Alle waren begeistert, besonders Paul. In der Loge wurde für einen Augenblick nicht an Schach gedacht.

Nach längerer Beratung entschieden sich die beiden Gegner des Schachgenies für die Philidor-Verteidigung. Mit ihrem nächsten Zug wurde eine Stellung erreicht, die dem Stand der Eröffnungstheorie von 1858 entsprach. Morphy sah in dem Zug bereits den ersten Fehler. Er machte aus Höflichkeit eine Pause und erwiderte dann, kurz bevor auch die Auffürung Pause machte, mit einem Zug der ein ernsthaftes Problem für Schwarz darstellte. Zum Glück hatten der Herzog und der Graf jetzt fast eine halbe Stunde Zeit zum überlegen.


Paul stand auf und wollte in die Garderobe von Marie gehen. Er wurde aufgehalten. Erst durch das Gedränge nach dem Verlassen der Loge und dann von Jacques, der inzwischen abgelöst wurde und nun als Zuschauer die Aufführung weiter verfolgen wollte. Kurz bevor die Pause zu Ende war, kam Paul wieder in die Loge, ohne Marie getroffen zu haben.

Am Schachbrett wurde immer noch leise über eine Antwort auf das vor der Pause gestellte Problem diskutiert. Während der zweite Akt lief, folgten am Brett mehrere Züge die Paul in eine überlegene Stellung brachten. In der Opernaufführung spielte das Orchester ein Gewitter.


Der Schuss war kaum zu hören. Karl von Braunschweig ging zu Boden. Die Aufführung wurde in der Mitte des zweiten Aktes unterbrochen. Die Schachpartie auch. Entsetzen und Panik breiteten sich aus. Karl von Braunschweig war schwer verletzt und rang um sein Leben. Der Graf rief einen Arzt aus der benachbarten Loge zu Hilfe. Dieser versorgte erstmal mit Unterstützung des Grafen die Schusswunde. Paul geriet nicht in Panik, entsetzt war er allerdings schon. Nicht nur wegen des Attentats auf den Herzog war er entsetzt. Von seinem Vater hatte er gelernt, dass eine Schachpartie durch Matt, Remis oder Aufgabe des Gegners beendet wird. Nicht durch Erschießen. Sowas sei unsportlich und beendet keineswegs die Partie. Sollte der Graf alleine die Partie beenden? War dies nicht auch unsportlich, da er ja in Beratung mit dem Herzog spielen wollte? Paul sah auf den schwer verletzten Herzog und hoffte, dieser würde überleben. Er überlegte auch, ob und wie die Partie beendet werden konnte und hielt diese Überlegung für völlig legitim. Diese Überlegungen endeten, als die Polizei kam, die Personalien aller Zuschauer und Bediensteten aufnahm und anschließend das Theater räumte.

***

Paul stand etwas durchnässt am Eingang des Opernhauses. Er wusste nicht, wie er dahin gekommen war. Sonst errinnerte er sich an jede Kleinigkeit und nun stand er verwirrt im Regen. Er war zu jung, um zu vergessen, woher und wie er zum Opernhaus gekommen war. Nachdem er Jacques am Eingang gegrüßt hatte, machte sich Paul auf den Weg zur Loge des Herzogs. Er ignorierte einen Mann in dunkler Kleidung, der sein Gesicht verbarg. Der Graf, bereits in der Loge, grüßte freundlich und machte eine Bemerkung zur nassen Kleidung des jungen Mannes. Kurz bevor die Ouvertüre begann, kam auch der Herzog dazu.

Der Herzog? Wurde nicht auf ihn geschossen? War das Attentat ein Traum gewesen? Das Schachgenie zweifelte nicht nur an seiner Genialität sondern auch an seinem Verstand. Was war hier los? Auf den Herzog wurde während einer Aufführung geschossen. Und nun ist Karl von Braunschweig unverletzt und stellt die Figuren auf. Wie auch immer, auch ein Genie muss nicht alles verstehen!

Die Ouvertüre begann. Es war wieder die Ouvertüre zu «Il barbiere di Siviglia», dem Meisterwerk von Rossini. Schon wieder diese Oper? War die letzte Aufführung der Saison nicht gerade erst gewesen?


Die beiden beiden Gegner setzten die letzte Figuren auf das wertvolle Brett. Es war aus edlem Holz und enthielt Einlegearbeiten aus Ebenholz und Elfenbein. In den Ecken der Spielfelder waren kleine Diamanten eingelassen. Die schwarzen Figuren waren aus Ebenholz, die weissen aus Elfenbein. Aber am wertvollsten an dem ganzen Schachspiel waren die Diamanten der beiden Damen. Jede von ihnen, so erzählte es der Herzog, hatte von ihrem König einen wertvollen Diamanten als Kopfschmuck erhalten. Jeder der beiden Diamanten war mehr wert, als die einundachtzig Diamanten, die im Brett verarbeitet waren. Böse Zungen behaupteten, das wertvolle Schachspiel war für den Herzog der Ersatz für seine fehlende Spielstärke. Diese Behauptung entsprang wohl eher dem Neid mancher Gegner des Herzogs. Dieser spielte ein durchaus gutes Schach für einen Amateur. Mehr wollte er im Schach auch nicht sein. Das wertvolle Schachspiel besaß er schlicht, weil er es sich leisten konnte. Nicht umsonst wurde er als Diamantenherzog bezeichnet.


Paul dachte an Marie und daran, wie sie sich kennengelernt hatten. Sie kam eines Abends nach der Vorstellung ins Foyer. Marie hatte schulterlange schwarze Haare, mittlere Größe, war schlank und zart. Ihr Gesicht strahlte und betonte ihre Schönheit. Der junge Mann sprach sie an. Sie fanden sich gegenseitig sehr sympathisch. Dann trat er seine Eurpareise an. Er hatte sein Jurastudium abgeschlossen, durfte aber vorerst nicht als Anwalt tätig sein. Nach dem Recht seines Heimatstaates war er noch nicht volljährig. So kam er nach Europa um Schach zu spielen und verlor Marie aus den Augen.

Sowohl Oper als auch Partie nahmen ihren Lauf. Die Auftrittsarie der Rosina klang immer noch wunderbar und die Philidor-Verteidigung war mit der gewählten Fortsetzung für Schwarz immer noch problematisch. Dann, nach der Pause, fiel wieder ein Schuss, der Herzog wurde getroffen, Entsetzen, Panik, Unterbrechung der Opernaufführung und der Schachpartie, Polizei, Räumung des Italienischen Theaters.

***

Paul stand drei weitere male durchnässt am Eingang des Opernhauses bevor er langsam seine Verwirrung überwand. Er traf wieder auf Jacques.
«Wie lange ist unsere Partie bereits her?», fragte er unvermittelt jedes mal nach der Begrüßung und meinte damit die Simultanpartie.
«Die Partie hat doch erst gestern, am 1. November, stattgefunden!», antwortete jedes mal der Polizist etwas verwundert.
Auf dem Weg zur Loge war es nicht schwer nachzurechnen. Wenn die Simultanpartie am 1. November stattgefunden hatte, dann wäre es also wieder der 2. November 1858! Die Begegnung mit dem dunkel gekleideten Mann und auch, dass auf dem Programm erneut «Il barbiere di Siviglia» stand, überraschten ihn nicht.

Dass der Herzog wohlauf war, hielt er fast schon für logisch. Er wartete auf den Schuss. Als dieser kam, war er endgültig davon überzeugt, dass sich die Erreignisse des Opernabends, zumindest für ihn, wiederholten.


Als er zum fünften mal der Abend des 2. November 1858 erlebte, nahm sich Paul vor, die Ursache für die Wiederholungen zu finden und diese zu beenden. Er war davon überzeugt, dass er seine Gegner mattsetzen musste. Dann würden auch die Wiederholungen enden. Mattsetzen konnte er aber nur, wenn die Partie bis zum Ende gespielt würde. Dafür musste er als erst das Attentat verhindern. Er achtete zunächst darauf, woher der Schuss kam. Dieser kam aus einem der Ränge gegenüber der Loge des Herzogs. Dort sah einen Mann in dunkler Kleidung mit einem Gewehr in der Hand. Mehr konnte er nicht erkennen.

***

Wieder am Eingang des Operhauses, war der junge Mann aus New Orleans zwar durchnässt aber keineswegs verunsichert. Es war ihm klar, dass sich die Ereignisse des Opernabends wiederholten. Dies geschah mit Abweichungen und er hatte den Eindruck, er könne auch auf die Ereignisse Einfluß nehmen. Zunächst wollte er endlich Marie wiedersehen. Er nahm einen anderen Weg, um nicht auf Jacques zu treffen. So ging er bereits vor der Aufführung zur Garderobe von Marie.

Marie war, trotz Anspannung vor der Aufführung, sichtlich erfreut über den unerwarteten Besuch.
«Paul, welch wunderbare Überraschung!»
«Wunderbar ist es, dich wiederzusehen, Marie!», erwiderte diesert. Er betonte „dich“ dabei. «Ich habe in den vergangenen Monaten nur an dich gedacht und mir so sehr gewünscht, dich wiederzusehen.»
«Lüg mich nicht an! An Schach hast du vermutlich auch gedacht, was ich so gelesen habe!», schimpfte sie mit einem liebevollen Lächeln im Gesicht.
Paul verschlang Marie mit den Augen. Nicht nur weil sie wunderschön war. Sie war auch stets freundlich, humorvoll und nicht zuletzt hatte sie eine traumhafte Stimme. Sie unterhielten sich noch kurz, dann musste sich Marie auf ihren Auftritt weiter vorbereiten. Schnell vereinbarten sie noch ein gemeinsames Mittagessen am nächsten Tag. Paul war ein Optimist!

Beim Verlassen der Garderobe sah er ein Bild, auf dem Marie neben einem Mann zu sehen war. Marie war dreißig Jahre alt, der Mann neben ihr wenige Jahre älter. Auch wenn sich Paul, mit seinen einundzwanzig Jahren, keine Hoffnungen auf mehr als eine platonische Freundschaft mit Marie machte, war er vom Bild des unbekannten Mannes irritiert.

Die Ereignisse des Abends nahmen ihren Lauf und endeten zwei Stunden nach Beginn der Aufführung mit dem Attentat auf den Herzog.

***

Es war sechs Uhr am Abend des 2. November 1858. Das war Paul klar, als er wieder einmal die Stufen vor dem Eingang zur Salle Ventadour hochstieg. Er hatte sich daran gewöhnt, dass sich die Ereignisse wiederholten. Doch er machte sich Gedanken darüber, dass er nur drei Stunden Zeit hatte. Drei Stunden Zeit um das Attentat zu verhindern, seine Gegner mattsetzen, die Wiederholungen zu beenden und sich dann endlich mittags mit Marie zu treffen. Letzteres war ihm besonders wichtig.

Nach kurzem Gespräch mit Jacques traf er wieder auf den Mann in dunkler Kleidung. Dieser konnte nicht schnell genug sein Gesicht verbergen. Paul war für einen Augenblick sprachlos. Es war der Mann, dessen Bild in der Garderobe von Marie hing.
«Verzeihung, mein Herr, seid Ihr vielleicht …», weiter kam er nicht. Der Mann war schon verschwunden.
Wieso war die Kleidung des Mannes trocken, während seine durchnässt war? Wurde der Mann auch durch einen Regenschirm, wie der Herzog, geschützt? Er hatte keinen Regenschirm gesehen und hielt es auch für unwahrscheinlich, dass er von einem Bediensteten abgeholt wurde. Der Mann muss vor Beginn des Regens bereits im Opernhaus gewesen sein. Paul verdächtigte den Mann. War dieser der Attentäter? War Marie etwa seine Komplizin? Das wollte und konnte er sich nicht vorstellen.

Paul nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit erneut Marie zu besuchen und zu klären, wer der Mann sei. Die nächste Gelegenheit war vermutlich die nächste Runde in der Zeitschleife, wie er die wiederholten Ereignisse inzwischen nannte. Er versuchte trotzdem schon in der Pause Marie zu sprechen. Diesmal kam er zur Garderobe durch, sie war aber nicht da. Zurück in der Loge, überlegte er, wie das Attentat zu verhindern sei. Leider fand er nicht rechtzeitig eine Lösung und konnte das Attentat auf den Herzog nicht verhindern.

***

Am selben Abend und zur selben Uhrzeit war Paul wieder am Eingang des Opernhauses. Er schlich sich an Jacques, der gerade in eine andere Richtung sah, vorbei und ging direkt zur Garderobe von Marie. Sie ließ ihn herein und schien überhaupt nicht von seinem Besuch überrascht zu sein, fast so, als hätte sie ihn erwartet.
«Paul, ich verliere den Verstand!»
Er sah sie fragend an.
«Wann wir uns zuletzt gesehen?», fragte sie und schien tatsächlich nicht überrascht zu sein, ihn wiederzusehen.
«Wieso fragst du das?», kam die ausweichende Antwort.
Diesmal sahen sich beide fragend an.
«Ich muss das wissen, antworte bitte!»
«Das ist nicht so einfach. Es war zur gleichen Uhrzeit wie jetzt. Aber war es heute? Oder Vorgestern?», antwortete Paul und hoffte, nicht noch mehr Verwirrung gestiftet zu haben.
Erneut sahen sie sich fragend an.
«Ergibt das für dich Sinn? Wann hast du mich denn zuletzt gesehen?», fragte Paul.
«Ja. Das ergibt Sinn. Aber eigentlich auch nicht. Die Erreignisse scheinen sich teilweise zu wiederholen. Ich habe dich zuletzt an diesem Abend gesehen. Ja, es war genau dieser Abend. Wir haben uns zum Mittagessen verabredet!», antwortete sie und hatte Tränen in den Augen. «Ich habe mich so sehr gefreut, dich wiederzusehen und traute mich nicht dir zu sagen, dass ich den Abend schon mehrmals erlebt hatte. Zwar ohne dich, aber es war bestimmt immer wieder dieser Abend. Bin ich verrückt?»
Sie sah ihn traurig an. Er wollte sie umarmen und trösten. Etwas hielt ihn zurück.
«Jetzt muss ich mich aber für meinen Auftritt vorbereiten. Eine Rosina mit verheulten Augen? Das geht doch nicht!», sagte Marie, die ihren Humor und ihren Optimismus wiedergefunden hatte.


Nach einem erfolglosen Versuch, noch bleiben zu dürfen, verließ Paul die Garderobe und ging zur Loge von Karl von Braunschweig. Er nahm einen anderen Weg durch das Theater und traf somit nicht erneut auf den Mann, dessen Bild in der Garderobe hing. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Angesichts der Überraschung, dass Marie die Wiederholungen des Abends auch wahrnehmen konnte, hatte er vergessen, dass er etwas klären wollte. Er musste das schnellstens nachholen. In der Pause der Aufführung blieb er ruhig sitzen. Er dachte an Marie, erfreute sich an dem Gedanken, dass sie beide gemeinsam in der Zeitschleife waren und vertraute auf die nächste Runde, die der Schuss des Attentäters auch kurze Zeit später ankündigte.

***

Paul stürmte vom Eingang des Opernhauses an dem erstaunten Jacques vorbei direkt zur Garderobe von Marie. Fast hätte er das Anklopfen vergessen.
«Marie, ist das dein Ehemann?», fragte er ohne Einleitung und auf das Bild zeigend.
«Aber nein, Paul! Ich bin nicht verheiratet.», antwortete sie schmunzelnd. «Das ist Arthur, mein Bruder. Er ist auch Opernsänger, Tenor, um genau zu sein. Das Bild entstand nach einer gemeinsamen Aufführung im vergangenem Jahr.»
Paul musste sich eingestehen, dass er erleichtert war.
«Singt er heute Abend?», fragte er nach kurzem Nachdenken, obwohl er die Antwort erahnte.
«Nein, er singt schon lange nicht mehr, leider. Seitdem er in der psychiatrischen Klinik in Charenton ist, singt er nicht mehr.»
«Was ist ihm denn passiert? Und wieso Charenton? Ist das nicht ein Irrenhaus?»
«Nun ja, er hatte etwas Pech, auch wenn er sich teilweise tatsächlich wie ein Irrer aufgeführt hat. Seine Verlobte hatte eine Aff äre. Er ist deswegen mehrmals ausgerastet, bis er letztendlich in Charenton eingeliefert wurde.»
«Das tut mir sehr leid.», sagte Paul und machte eine kurze Pause. «Wann wurde er den aus Charenton entlassen?»
«Er wurde noch nicht entlassen. Ich habe ihn vor einer Woche dort besucht und da war an eine baldige Entlassung nicht zu denken.»
«Du hast ihn also seit einer Woche nicht mehr gesehen?»
«Nun ja, seit einer Woche, wenn man diese verrückten Wiederholungen nicht mitzählt. So, jetzt musst du gehen und ich sigen.»
«Warte noch, ich muss dir noch etwas wichtiges sagen!»
«Geht leider nicht, es ist schon spät und ich habe noch nie meinen Auftritt verpasst. Sag mir das morgen, oder bei der nächsten
Wiederholung!», scherzte sie. «Aber weist du was?», fragte sie mit verführerischer Stimme und machte langsam zwei Schritte auf ihn zu. «Meine Cavatine singe ich nur für dich.»
«Danke! Ich werde zuhören und genießen!», sagte Paul, dessen Herz nach den Worten seiner Angebeteten schneller schlug.
«Dann geh jetzt. Auch wenn die Auffürung im zweiten Akt abgebrochen wird, im ersten Akt möchte ich mitsingen. Ach, und vergiß nicht, was du mir sagen wolltest.»


Paul ging überglücklich über das Foyer zur Loge. Er traf weder auf Jacques noch auf Arthur. Er plauderte mit dem Herzog und dem Grafen und jeder konnte merken, wie glücklich er war. Dann begannen die Aufführung und die Partie. Endlich sang Marie ihre Cavatine. Für ihn. Sie kam sehr nahe an die Loge in der Paul sass. Er hatte sich umgedreht und himmelte sie an. Als die Arie endete, war für einige Sekunden vollkommene Stille im Saal. Das Publikum war ergriffen. Dann begann ein tosender und endos anhaltender Applaus. Marie stand dankbar auf der Bühne und blickte abwechselnd in den Saal und zu Paul.

In der Pause stieg Paul mehrere Treppen hoch, bis zu dem Rang, aus dem vermutlich in einer früheren Wiederholung geschossen wurde. Er öffnete die Tür zu einer Gruppe von Sitzplätzen und sah sich dort um. Hinter ihm gab es ein Geräusch. Er wollte sich umdrehen, doch kam er nicht mehr dazu. Er bekam einen Schlag auf den Kopf, ging zu Boden und verlor das Bewusstsein.

***

Wieder einmal war es sechs Uhr am Abend des 2. November 1858 als Paul wieder auf Jacques traf. Leider konnte er ihm nichts davon erzählen, dass er niedergeschlagen wurde. Allem Anschein nach, konnte Jacques die Wiederholungen nicht warnehmen. Er überlegte, ob er es Marie erzählen sollte, entschied sich aber dagegen und ging stattdessen zur Loge, in der Hoffnung, auf Arthur zu treffen. Dies geschah jedoch nicht. So half er dem Grafen beim Aufbau der Figuren und fragte sich, ob Marie ihre Auftrittsarie wieder für ihn singen würde. Als es soweit war, tat sie dies. Sie kam wieder sehr nahe an Paul heran. Es gab keinen Zweifel, dass sie die Arie nur für ihn sang.

Dann kam die Pause und er wollte es nochmal versuchen und diesmal vorsichtiger sein. Er stieg also wieder die Treppen zum Rang hoch und versicherte sich erst, dass niemand hinter ihm war. Es waren neun Sitzplätze in der Gruppe die er bereits gesehen hatte, jeweils drei in einer Reihe. Er sah sich die Reihen an, beginnend mit letzten direkt nach der Tür und ging die Stufen herunter bis zur ersten. Aus dieser Reihe konnte man die gesamte Bühne sehen und hatte ausserdem einen ausgezeichneten Blick auf die Loge des Herzogs. Auf dem Boden in der ersten Reihe war ein Gewehr zu sehen. Paul wollte das Gewehr aufheben, als er schnelle Schritte hinter sich hörte. Er drehte sich um und sah Arthur, der sich auf ihn stürzte. Sie kämpften miteinander, wobei Arthur die Oberhand behielt. Es war in der Pause laut genug im Saal, damit niemandem der Kampf auffallen konnte. Arthur fesselte seinen Gegner und ließ diesen auf ein Stück eines Vorhangs beissen, so dass dieser kein Laut von sich geben konnte.

Der zweit Akt begann. Der Herzog und der Graf wunderten sich über das Wegbleiben von Paul. Das Orchester spielte das vertonte Gewitter. Arthur griff nach dem Gewehr. Er zielte auf den Herzog und schoss. Er ließ das Gewehr liegen und rannte davon. Paul wurde Augenzeuge eines Attentats. Kurze Zeit später fand die Polizei den gefesselten Paul. Dieser verschwieg mit Rücksicht auf Marie, dass er nicht nur den Attentäter gesehen hatte, sondern dass er auch wusste, wer dieser war.

***

Am 2. November 1858, sechs Uhr abends, besuchte Paul abermals Marie in ihrer Garderobe.
«Marie, ich weiß wer der Attentäter ist!»
Sie sah ihn erschrocken und fragend an.
«Du musst jetzt stark sein, Marie. Es ist dein Bruder.»
Sie war immer noch erschrocken und auch sprachlos. Beide sahen sich schweigend an.
«Nein, das kann nicht sein! Er ist doch in Charenton.», sagte sie, als sie den ersten Schreck verdaut hatte.
«Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Da gibt es keinen zweifel, es war Arthur.»
Er erzählte ihr von dem im Rang versteckten Gewehr und von dem Kampf mit Arthur. Es fiel ihr schwer, aber sie glaubte ihm.
«Paul, du musst das Attentat verhindern. Mach das bitte behutsam, er soll zurück nach Charenton, aber nicht noch mehr verletzt werden. Arthur ist kein schlechter Mensch. Die Affäre seiner Verlobten hat ihn verständlicherweise verletzt und er ist zudem etwas von Sinnen. Es tut mir so leid, dass er dich angegriffen hat.», sagte sie und sah ihn dabei traurig an, während sie seine Haare berührte.

Paul versprach sein Bestes zu tun. Wie er ein Attentat behutsam verhindern sollte, war ihm allerdings nicht klar. Er ging zurück zum Eingang des Opernhauses und bat Jacques, der immer noch Dienst hatte, um Hilfe. Er erzählte Jacques von Arthur und von Maries Bitte. In seiner Erzählung ließ er aus, dass das Ganze sich in einer Zeitschleife wiederholte.

Während Paul zur Loge ging, alarmierte Jacques seine Kollegen und die Suche nach Arthur begann. Auch die Aufführung und die Partie in der Loge begannen. Arthur sah die vielen Polizisten, die eifrig während der laufenden Vorstellung Türen öffneten und die Sitzreihen mit den Augen absuchten. Er erkannte die Gefahr, lief zu seinem Gewehr und feuerte noch vor der Pause.

***

Paul traf vor Beginn der Vorstellung wieder auf Arthur und sprach diesen an.
«Es ist unerheblich, woher ich das weiß. Sie möchten den Herzog erschiessen. Wieso?»
Arthur sah ihn verdutzt an, blieb aber stehen. Woher wusste der Unbekannte dies?
«Wieso möchten Sie den Herzog erschiessen?», wiederholte Paul die Frage.
«Er muss büßen!», antwortete Arthur und machte dannach eine Pause.
«Aber wieso?»
«Er hat meine Verlobte verführt. Das ist für mich Grund genug, ihn zu erschiessen! Außerdem hat er mich ins Irrenhaus gebracht.»
«Wie wäre es, wenn der Herzog Ihnen eine Entschädigung zukommen lassen würde?»
«Das kann er nie wieder gutmachen!», rief Arthur wütend und rannte davon.

Paul blieb nichts anderes übrig, als sich wieder an Jacques zu wenden. Er erzählte diesem das, was wer wissen musste. Die Polizei wurde alarmiert und Suche nach Arthur begann erneut.

Bevor die Aufführung begann, erreichte Paul, der inzwischen einen Plan hatte, die Loge. Sowohl der Herzog als auch der Graf waren schon da.
«Eure Durchlaucht, darf ich mir einen Vorschlag erlauben?»
«So spreche er.», antwortete der Herzog.
Pauls Vorschlag war eher eine Wette. Wenn der Herzog und der Graf seine Dame schlagen würden und er ohne seine Dame mattsetzen würde, dürfte er die geschlagene Dame behalten. Die Partie müsse bis zum Matt oder Remis gespielt werden. Aufgeben sollte ausgeschlossen sein. Sollte er die Wette verlieren, könne der Herzog den Einsatz nach seinem Ermessen festlegen. Der Herzog liebte Wetten, sowohl am Schachbrett wie auch an der Börse, und nahm die Wette an.

Kurz vor der Pause viel ein Schuss. Trotz alarmierter Polizei konnte das Attentat wieder nicht verhindert werden.

***

Paul bat Jacques, als er diesen erneut am Eingang traf, ihm nach oben zu den Ränge zu folgen. Jacques tat dies. Paul zeigte ihm das verseteckte Gewehr. Jacques nahm es an sich und meldete das seinem Vorgesetzten.

Als nächstes ging Paul zu Marie. Sie freute sich sehr, ihn wiederzusehen und hätte ihn am liebsten umarmt. Sie erfuhr, dass er alles im Griff hatte. Er würde ihr am Ende der Vorstellung einen Blumenstrauß zuwerfen. Diesen solle sie unbedingt mitnehmen. Er würde ihr später mehr erzählen. Marie freute es, dass er vom Ende der Vorstellung, das sie lange nicht mehr erlebt hatte, sprach.

Er ging zur Loge. Die Aufführung und die Partie begannen. In der Pause schaffte er es, trotz Gedränge, einen sehr schönen Blumenstrauß zu kaufen. Arthur wurde festgenommen, als er das versteckte Gewehr suchte. Außer, dass er unerlaubt Charenton verlassen hatte, konnte man ihm nichts vorwerfen. Das Attentat war verhindert. Jetzt musste Paul noch mattsetzen. Dann, so hoffte er, konnte er der Zeitschleife entkommen.

Er opferte in einer traumhaften Mattkombination seine Dame und setzt ohne diese Matt. Die Wette wurde zwar in der vorherigen Runde vereinbart, aber er hatte sie eindeutig gewonnen. Der Herzog und der Graf hatten die Opernpartie verloren, waren aber dennoch von der Spielweise des jungen Schachgenies begeistert.

Das Ende der Aufführung wurde erreicht. Endlich! Auch die schönste Oper kann in einer Dauerschleife etwas nerven. Es gab stehende Ovationen und insgesamt dreizehn Vorhänge. Paul fand das lustig. Er hatte genau dreizehn mal in der Zeitschleife das Opernhaus betreten. Als sich Marie zum dreizehnten mal vor dem Publikum verbeugte, warf ihr Paul den Blumenstrauß zu. Sie fing ihn auf und sah Paul liebevoll und dankbar an.

***

Als Paul aufwachte, wusste er noch bevor er die Augen aufmachte, dass etwas anders war. Er war nicht auf den Stufen am Eingang des Opernhauses. Außerdem war ein ihm wohlbekannter wunderbarer Duft zu spüren. War er wirklich schon wach? Er öffnete die Augen. Marie lag neben ihm und sah ihn verliebt an. Er sah den Blumenstrauß, den er Marie zugeworfen hatte.
«Schön, dass du ihn aufbewahrt hast.»
«Ich kam noch nicht dazu, ihn wegzuwerfen!», scherzte sie.
Paul griff nach dem Blumenstrauß und holte die mit Diamanten geschmückte weiße Dame hervor. Marie staunte.
«Hast du den Herzog beklaut?»
«Er hat die Dame an mich bei einer Wette verloren. Da er sich nicht mehr daran erinnert hat, habe ich sie einfach mitgehen lassen.»
Sie staunte erneut.
«Du bist also Schachgenie, Anwalt und Dieb?»
«Wie gesagt, es war eigentlich eine Wette.»
«Eigentlich!», wiederholte sie lachend.
«Im Übrigen ist die Dame für Arthur. Gib sie ihm bitte wenn er wieder bei Sinnen ist, als Wiedergutmachung vom Herzog.»
Sie gab ihm einen Kuss als Dank.
«Los Paul, steh jetzt auf! Wir sind schließlich zum Mittagessen verabredet!»
Es war der 3. November 1858! Endlich!




Anmerkung von Gabrielus:

Paul Charles Morphy, die Hauptperson, hat tatsächlich gelebt und war in den Jahren 1858 bis 1861 der weltbeste Schachspieler. Die Handlung ist von einer tatsächlich gespielten und in die Schachgeschichte eingegangenen Partie inspiriert. Ansonsten ist die Kurzgeschichte rein fiktiv.

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