Ein kleines Märchen

Märchen

von  Jericho

Sie zeigt mir Narben auf ihren Unterarmen und sagt sie hätte noch mehr, aber eine Präsentation hier im Café würde gegen irgendwelche Etikette verstoßen. Ich nippe an meinem Kaffee (schwarz mit Milch) und sage die wirklich schlimmen Narben sieht man eh nicht, meine Haut kräuselt sich vor Ekel ob dieser entsetzlichen Plattitüde, aber sie nickt, der Satz ist anscheinend borderline kompatibel. Sie hat rabenschwarze Haare, blutrote Lippen und eine schneeweiße Warze auf der Nase und ich überlege krampfhaft wie dieses Date überhaupt zustande kam.

"Was ist deine Superkraft?" fragt sie unvermittelt und bevor ich antworten kann erzählt sie von ihrer, wie sie bei Vollmond rückwärts einparken, jede Abseitssituation sofort erkennen und zudem auch noch Gift und Galle spucken kann. Das klingt erstmal nicht besonders räumt sie ein, das Gift würde bei Kontakt aber sofort tot machen.

Ich habe keine Superkräfte, nur diesen magischen Ring vom Flohmarkt, er bewirkt daß ich nie in Hundescheiße trete und Frauen durch ihre Kleidung hindurch nackt sehen kann, aber nur solche die mir nicht gefallen. Außerdem erzählt der Ring andauernd dreckige Witze, zum Beispiel den von den beiden Betrunkenen mit dem Würstchentrick oder den mit der hungrigen Katze. Die Witze kann nur ich hören und so lache ich oft in unpassenden Situationen so wie damals auf dem Polizeirevier, als ich unter Alkoholeinfluss Urkunden gefälscht hatte. Die blöden Witze und die vielen nackten Polizistinnen haben mich so genervt das ich den Ring tatsächlich wegschmeißen wollte, aber er ging nicht vom Finger. "Du kannst mich erst vom Finger nehmen wenn du drei gute Taten vollbracht hast" sagte er. "Was denn für welche?" fragte ich. Naja, zum Beispiel den Nahost-Konflikt lösen oder jemand über die Straße helfen, das würde er dann spontan entscheiden, was eine gute Tat wäre.

"Interessant... keine Superkräfte aber ein magisches Artefakt...wie viele gute Taten hast du schon?"

"Eine. Ich hatte zwei, aber weil ich im Rewe geklaut habe hat er der doofe Ring mir eine abgezogen. Hat er mir natürlich nicht gesagt, das dass so funktioniert. Und ich hab nur geklaut weil ich wissen wollte ob ich's noch kann, eine kleine Reminiszenz an meine Jugend."

"Keine" meldet sich der Ring auf einmal. " Du bist vorhin bei Rot über die Straße, das löscht den Punkt mit dem brennenden Haus und den zehn gelähmten Zwergen die du gerettet hast."

"Nicht dein Ernst..."stöhne ich.

"Ist was?" fragt sie, ich muss wohl ob dieser Nachricht etwas perplex ausgesehen haben, alles bestens sage ich, sie müsse sich noch etwas gedulden bis sie den Ring bekommen kann (das war alles sehr plump von ihr), aber dann würde ich ihn ihr für einen Topf voll Gold mit Freuden überlassen. Es kann allerdings ein Leben lang dauern, muss sie sich drauf einstellen.

"Aha" sagt sie und blättert in einem kleinen Büchlein mit Monden darauf, "komm doch heute Abend mit zu mir, da können wir uns ja weitere gute Taten überlegen".

Da ich sie komplett bekleidet vor mir sehe, scheint sie mir wohl zu gefallen. Also gehe ich gerne mit, während draußen Gewitterwolken aufziehen und der Wind den Hartriegel mit blutroten Fingern an die Scheibe kratzen lässt, als ob er Einlass begehre. Bis zum Abend reden wir nicht mehr viel.


Anmerkung von Jericho:

Keine Angst liebe Kinder, draußen wurde die böse Hexe auf wundersame Weise vom Hartriegel erwürgt und unser Held und sein Ring erlebten noch viele spannende Abenteuer, bis er dann schließlich ca. zwei Wochen nach dieser Geschichte auf tragische Weise überfahren (vom ersten autonom fahrenden Auto das sich entschied aus Protest gegen die Klimapolitik ein Attentat zu verüben) und zusammen mit dem Ring begraben wurde.

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