KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Besuch
694. Kolumne
Bei meiner 95-jährigen Mutter im Altenpflegeheim. Seit dem Frühjahr beginnt ihr Geist nachzulassen. Es ist noch schwankend, noch gering, aber es wächst sichtlich. Sie will sterben, einschlafen ohne es zu merken, das wünscht sich jeder, es ist ja kein richtiger Erfüllungswunsch mit einem Ziel und einem neuen Leben – meine Mutter glaubt(e) nur an die Richtigkeit des Kommunismus – sondern ein Vermeidungswunsch, ein Sehnen nach dem Ende der Einsamkeit, der Gebrechlichkeit, der Langeweile. Die Frauen – Männer gibt es ja kaum in diesem hohen Alter im Heim – schweigen sich meist an, und auch bei den Beschäftigungen ist alles lahm und trist. Sie haben sich alle weitgehend in sich selbst zurückgezogen und sind gebrochene Seelen.
Ich brachte beim Kaffeetrinken im Altenpflegeheim einige der alten Frauen ins Gespräch mit mir (die Männer sind hoffnungslos verstockt), unter anderem brachte ich Frau Mühlberg zum Reden, die ich seit zwei Jahren kenne und mit der ich mich schon oft unterhalten hatte. Nach dem Kaffeetrinken ging ich mit meiner Mutter auf ihr Zimmer und wir unterhielten uns über das seltene Gespräch beim Kaffee. Und dann geschah das kleine Wunder: Frau Mühlberg klopft an die Tür meiner Mutter ... Sie kommt mit einem Fotoalbum ... Beim Nachmittagskaffee erzählte sie nämlich von ihrer Jugend, sie war mit Ilse Patzelt in einer Schulklasse. Meine Mutter ist überrascht, Ilse Patzelt und ihr Mann waren ja auch gute Freunde von ihr und Onkel Gerhard, bis zum geheimnisvollen Tod des Paars, das in einem der beiden Hochhäuser am Ernst-Thälmann-Platz wohnte, oben im ‚Penthouse‘. Er, Ingenieur, brachte sie um, kurz darauf sich selbst, so stand es später in der Zeitung, daran kann ich mich erinnern. Tötete er seine Frau im Einvernehmen mit ihr, um den Altersmolesten zu entgehen? Es blieb unklar. Sie war schwere Raucherin und hatte zuletzt Lungenkrebs ... Ich kannte die beiden auch recht gut, vor allem in der Zeit der Invasion des Westens, als es noch die Kantine im „Anlagenbauer“ (gegenüber dem Haus des ehemaligen HWG-Sitzes in der Merseburger Straße mit dem schönen Wandbild von José Renau und Lothar Scholz „Die Arbeiterklasse nutzt den Sozialismus, die Kräfte der Natur für den Menschen“ - 1970/ 71 Majolikamalerei/Steinzeugfliesen -).
Und dann noch ein kleines Wunder: Frau Mühlberg, 92, fast blind Makuladegeneration altersbedingt, erzählt von ihrer Einsamkeit: Sie hat keine Verwandten mehr, keine Kinder ... 1945 wurde sie, als sie 18 war, ihr Abitur bestanden hatte und im RAD, sagt sie, ‚Soldat‘ wurde, in den letzten Wochen des Krieges von russischen Soldaten brutal vergewaltigt, körperlich und seelisch verletzt - so sehr, dass sie nicht heiratete, jeden Bewerber abwies (fünf waren es, sagt sie), um keinen mit ihrer schweren seelischen Wunde zu belasten. Ihrem Chef im Geiseltalmuseum – sie war wissenschaftliche Grafikerin – vertraute sie ihr Lebensgeheimnis an; sonst keinem ... Erst die Frauen, die vor Jahren im Fernsehen und in Zeitschriften über ihre Vergewaltigungen im Krieg sprachen, ermutigten sie allmählich, mehr darüber nachzudenken, was ihr selbst geschah. Und nun, wo sie im Altenpflegeheim vereinsamt, kommt alles wieder hoch in ihr, nun findet sie unter den alten, meist dementen Leuten keine adäquaten Gesprächspartner. Auch meine Mutter wird bald wegen ihrer schnell wachsenden Demenz wegfallen, und am Ende betrifft das Phänomen sie selbst.
Obwohl mich anfangs der Besuch bei meiner Mutter sehr bedrückte, vor allem am ersten Tag, hat mich die Begegnung mit Frau Mühlberg in eine bessere, in eine gute Stimmung versetzt, auch meine Mutter ein wenig, allerdings mag sie die Mitbewohnerin leider nicht. Ach, das ist ein Leid mit den Alten! Sie werden immer argwöhnischer, missgünstiger und eifersüchtiger aufeinander, je älter sie werden – und dann verstummen sie, sterben sozusagen bei lebendigem Leibe.
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