KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Wie ich ein Brillant werde
766. Kolumne
Ein dialektischer Dialog
FELIX: Ich verstehe nicht, wie man die militärischen Revanchebombardierungen Israels auf den Gazastreifen verteidigen kann. Sie sind keine materiellen Kollateralschäden, sondern bedeuten die Ermordung unschuldiger Zivilisten – das verstößt gegen die Menschenrechte.
DAMONTE: Und die Raketen der palästinensischen Terrororganisation Hamas? Die begann doch mit dem Raketenangriff auf Jerusalem, Tel Aviv, israelische Dörfer und Siedlungen ... Ich denke, es ist ein seit Gründung Israels bestehender Konflikt, der nicht lösbar ist, ein Dilemma, weil Juden und Palästinenser auf ihr Recht pochen, als Staat in der gleichen Region zu existieren.
FELIX: Ich verstehe nicht, wie sich unsere deutsche Regierung hier ihrer Verantwortung für die Menschenrechte entzieht. Der Bundespressesprecher weigert sich, Israels Gegenangriffe auf die Wohngebiete im Gazastreifen zu kritisieren.
DAMONTE: Nach der Ermordung von sechs Millionen Juden im ‚Dritten Reich‘ ist Deutschland gut beraten, ein Freund Israels zu sein und an seiner Seite zu stehen.
FELIX: Unter Freunden soll man sich in wichtigen Dingen die Wahrheit sagen.
DAMONTE: Ja. Aber es ist in diesem Fall besonders schwierig. Es gibt sicherlich nichtöffentliche Gespräche dieser Art. Bedenke, dass Israel seit sieben Jahrzehnten einen Überlebenskampf führt, umringt von einem feindseligen Antisemitismus islamischer Staaten.
FELIX: Mag sein, aber bei den Menschenrechten darf es keine faulen Kompromisse geben.
DAMONTE: Dein Idealismus ist natürlich berechtigt. Es wäre schön, wenn sich deine Vorstellungen in der Praxis umsetzen ließen.
FELIX: Man muss es wollen!
DAMONTE: Mein lieber Enkel, gut und schön, aber: Lass nicht zuviel uns an die Menschen glauben, heißt es in Schillers Wallenstein. Damit will ich sagen: Was du theoretisch mit dem größten Recht forderst, lässt sich nur schwer und nur mit moralischen Verlusten praktisch umsetzen, denn die Menschen sind fast alle nicht so, wie du sie dir wünschst. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen, sagt Wallenstein. Das meint in unserer heutigen Sprache die gegensätzlichen und konkurrierenden Interessen.
FELIX: Da haben wir’s wieder! Das ist das Denken der vom Leben abgeschliffenen Seelen, die am Ende den Kieselsteinen gleichen. So will ich nicht werden.
DAMONTE: Warten wir es ab. Du bist jetzt ein Rohdiamant. Das war ich auch, als ich jung war.
FELIX: Du hast mir mal erzählt, dass du 68 marxistisch dachtest. Aber dann hast du den ‚Marsch durch die Institutionen‘ angetreten, bist Beamter geworden, Lehrer ... Du hast das bestehende gesellschaftliche System nicht revolutioniert, sondern hast dich affirmativ verhalten, und so bist du allmählich immer mehr zu einem Kieselstein geworden.
DAMONTE: Nein, mein lieber Gedankenstürmer. Das System hat mich nicht in dem Sinne besiegt, wie du denkst.
FELIX: Jetzt bin ich gespannt, lieber Damonte.
DAMONTE: Du musst die Dinge des Lebens dialektisch betrachten, Felix, du liebst doch Hegels Dialektik.
FELIX: Ich höre, Grandpère, schieß los. Aber bitte ohne Schiller und Goethe ...
DAMONTE: Die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem Land und in der Welt ist ein wichtiges Ziel, jeder Einzelne sollte es im Auge behalten. Ich war in dieser Hinsicht ein Rohdiamant wie du. Viele sind in ihrer Jugend Rohdiamanten. Aber leider nicht alle. Und nun komme ich zu der dialektischen Entwicklung im Leben eines Menschen: Es geht um den Schliff für den Diamanten, der ein leuchtender Brillant werden soll. Ohne Schliff bleibt der Diamant matt, er strahlt nicht. Schliff bedeutet zweierlei: die Konfrontation mit der Wirklichkeit, der Prozess, in dem ich mich in den gesellschaftlichen Wirklichkeiten einrichte, teils notwendigerweise affirmativ, teils aber auch progressiv, also verändernd. Der zweite Aspekt ist meine Selbsterziehung, die viel mit Selbstdisziplin zu tun hat.
FELIX: Hm.
DAMONTE: Diese beiden Bewegungen sind ein Wechselspiel: Ich lerne und erkenne, und das wirkt sich aus in meinem Handeln und wirkt auf die bestehenden Verhältnisse zurück, in denen ich stehe, und in dieser Weise verändere ich die Verhältnisse, wie diese auch auf mich wirken.
FELIX: Das klingt nicht gerade revolutionär.
DAMONTE: Revolutionen sind nicht der Regelfall in der Geschichte. Wenn es zur Revolution kommt, lief vorher die evolutionäre, dialektische Entwicklung allzu lange schief.
FELIX: Da sind wir doch wieder bei den Kieselsteinen.
DAMONTE: Ach was, die Kieselsteine sind deine Metapher für deine Ungeduld.
FELIX: Das ist weises Geschwätz, Damonte.
DAMONTE: Weisheit muss nicht, wie Brecht in der Dreigroschenoper sagt, Resignation bedeuten.
FELIX: Na dann.
DAMONTE: Du bist ein Stürmer und Dränger, und das ist gut, denn es führt dich genau in diesen Erfahrungsprozess hinein, der dialektisch notwendig ist.
FELIX: Mir fehlt noch die Erfahrung, das ist dein Totschlagargument.
DAMONTE: Das kann ich dir nicht ersparen. Mein Widerspruch gehört zu den Voraussetzungen, die dir den Schliff geben, ein Brillant zu werden, wie ich.
:-)
Ulrich Bergmann, 15.5.2021
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
Alle in der Teestube mochten dieses Lied von, damals noch Cat Stevens, Father and Son.
Ein wiederkehrendes Thema, auch hier wird es so behandelt.
Ich kann mich auch immer noch gut an den inneren Aufruhr erinnern, der bei Begegnung dieser beiden "Parteien" in mir aufflammte.
Alle die sich damit beschäftigen, und lange genug überlebt haben, mussten ihn zurücklassen. ( in stillen Gedenken an eine ganze Reihe von Musikern und Künstlern die um die 30 sterben)
Nicht, weil es falsch war.
Nicht weil es weltfremd war, auch wenn man das oft zu hören bekam.
Nicht, weil es die Basis des menschlichen Zusammenlebens ignorierte, ganz und gar nicht.
Es fand einfach seinen Platz nicht, in unserer Welt und weil jedes und alles nunmal auf einen Platz zum überleben angewiesen ist;
Spielte jeder von uns "Aschenputtels" neidische Schwestern.
Leider gurrten die Tauben nur ganz leise, das ist der falsche Schuh, das ist die falsche Königin, das muss die falsche Hochzeit sein.
Und natürlich bietet dieser Kommentar in einer Welt wie der unseren, die umstrittigsten Interpretationsmöglichkeiten.
Aber halt nur, wenn man von der, ich nenne sie mal "unschuldige Rebellion" und ihrem Wunsch nach einem menschenwürdigen Leben abdriftet, in die unsicheren Gewässer unserer seit Jahrtausenden genährten Konflikte, die brauchen und beanspruchen den ganzen Platz.
Steht ihnen aber gar nicht zu.