KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 17. Januar 2025, 22:21
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Wuwei

Wuwei   无 为 
und die Liebe
 
 
Heute fand ich in einem Offenen Bücherschrank am Bonner Stadthaus ein Büchlein des Niederländers Henri Borel mit dem Titel „Wu Wei – Laotse als Wegweiser“. Und ich schrieb an Wolfgang Kubin, den immer noch in Shanghai lehrenden Sinologen, der mich vor zehn Jahren nach China an die Meeresuniversität in Qingdao geschickt hatte, um dort über Kafka und die moderne deutsche Literatur zu unterrichten: 
 
Lieber Kubinfutse, immer wieder beschäftigt mich der taoistische Begriff Wuwei, den ich von dir im Zusammenhang mit deiner Erzählung „Die Farbe Weiss, die Farbe Schwarz oder Das neue Buch der Wandlungen“ lernte. Ich begriff ihn als ‚Nicht widernatürlich handeln‘. In deiner Erzählung gehst du so weit, dass in der wahren, also taoistischen Liebe der Mann den Samenerguss zurückhält. Aber ist diese Art von Nichthandeln nicht selbst widernatürlich? Oder ist der Samenerguss taoistisch gesehen nur dann gerechtfertigt, wenn er der (gewollten) Erzeugung neuen Lebens dient? (Das wäre dann ja auch orthodox römisch-katholisch ...) Oder muss ich Tao, den Weg, noch konsequenter weiterdenken: Im Taoismus ist letztlich eben auch die Verneinung des (physischen) Lebens gemeint. Wäre dann also die wahre taoistische Liebe nur ohne physisches Eindringen vollkommen? Also ein geistig-seelisches Glühen bis zur äußersten sich nie entladenden Anspannung, einer Sexualität der seelischen Berührung, die den Orgasmus aufhebt und als Synthese ‚ewige‘ Lust erzeugt? Wenn sich Mann und Frau (taoistisch) gegenseitig umschlingen, dann sollen sie sich in doppeltem Sinn gegenseitig aufheben. Der Mann ist nicht mehr Mann, die Frau nicht mehr Frau; sie geht in ihm auf, er in ihr. 
 
 

 
 
Das wäre ja geradezu hegelianisch gedacht. Aber die völlige Aufhebung, die im Tod endet, im Nichtleben – ist die auch gemeint? Ist der ‚Tod‘ im höchsten, immerwährenden Moment der Liebe ein doppelter Tod – Flug der Seele und Aufhebung der Physis? 
Am Ende deiner Weiss/Schwarz-Erzählung heißt es: 
 
... Seine Hand glitt da unter ihr Leichenkleid ... Und so umschlang sie ihn, als hielte sie sich zum letzten Mal an etwas fest, welches sie auf immer aufzugeben sich bereit erklärt hatte. Nie war sie ihm näher gewesen. (S. 89)
 
Im zweiten Akt von Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ kommt es zur Nacht der Liebe. Tristan und Isolde finden sich im Liebesdialog, der im Kern nichts anderes meint als die körperliche Vereinigung, in einer Mixtur von posthegelianischer Schwurbelei und präfreudianischem Gestammel: 
 
(Beide.) 
... 
O ew’ge Nacht! 
Süße Nacht! 
Hehr erhabne, 
Liebesnacht! ... 
Nun banne das Bangen, 
Holder Tod, 
Sehnend verlangter Liebestod! ... 
In ungemeßnen Räumen 
Übersel’ges Träumen. 
Du Isolde 
Tristan ich, 
Nicht mehr Tristan, 
Nicht mehr Isolde, 
Ohne Nennen, 
Ohne Trennen, 
Neu erkennen, 
Neu Entbrennen; 
Endlos ewig 
Ein-bewußt 
Heiß erglühter Brust 
Höchste Liebeslust! 
(Sie verbleiben in verzückter Stellung.) 
 
Tristan und Isolde sind in dieser Szene körperlich nicht vereint, doch für das beiwohnende Publikum sind sie es durch die Musik und die Worte. In der aktuellen Bayreuther Tristan-Inszenierung stehen Tristan auf der Bühne weit auseinander. Als hätte die Regisseurin dein Buch gelesen! Das hat alles etwas Taoistisches. Die Liebe wirkt über dem Tod, sie wirkt über ihn hinaus. Wagners Nacht der Liebe deutet schon auf die Schlussszene der Oper hin, da ist Tristan weit weg, er ist tot. Isolde singt, als lebte er noch, als glitte sie mit ihrer Hand unter Tristans Leichenkleid: „... Wie er lächelt, Wie das Auge Hold er öffnet ... Seht ihr’s nicht? ... Wie das Herz ihm Mutig schwillt ...“ Und Isolde singt in der Musik der Nacht der Liebe, es ist wie eine Auferstehung ihrer Liebe zu einer höheren Ebene: „... Höre ich nur Diese Weise ... Alles sagend ... Aus ihm tönend, In mich dringet, Heller schallend, Mich umwallend, Sind es Wellen Sanfter Lüfte? Wie sie schwellen, Mich umrauschen, Soll ich atmen, Soll ich lauschen? Soll ich schlürfen, Untertauchen? ... Mich verhauchen? In dem wogenden Schwall, In dem tönenden Schall, In des Weltatems Wehendem All – Ertrinken, Versinken – Unbewußt – Höchste Lust!“ Natürlich, das ist vor allem die deutsche Romantik in ihren letzten Zügen, und doch können sich hier, unbewusst, Ideen über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg wiederholend berühren. Mir ist auch klar, Richard Wagner ist weder Hermann Hesse noch war er in China, aber den Weg nach innen haben viele gesucht und nur wenige gefunden. Und Tao, das ist auch die gegenseitige Umschlingung oder Dialektik von Weiß (Leben und Liebe) und von Schwarz (Nacht und Tod). 
Dein Bao Wuli     包悟礼
 
 
Kubinfutse[1] antwortete:
 
Lieber Taoist, danke für Deinen schönen Brief.
Wuwei wird verschiedentlich übersetzt: meist mit „nicht“ (wu) „handeln“ (wei). Ich übertrage es mit „geschehen lassen“, nämlich die Natur (vor uns und in uns) walten lassen.
Ziel der Vereinigung von Mann und Frau im Tao (alte Schreibung) der Liebe ist, Unsterblichkeit bzw. Langlebigkeit zu erlangen. Es geht um das Qi[2] im Rückenmark. Dieses erlangt man durch den Coitus „interruptus“. 
Bis dahin hat Madame aber in Fahrt gebracht zu sein. Sie kann das Qi des Mannes natürlich auch ‚klauen‘, d.i. den Samen. Der Mann wird sterben, und die Schöne wird leben.
Darüber ist verschiedentlich geschrieben worden, am besten von van Gulik. Die taoistische Liebestechnik (schriftlich seit Han) ist heute in der Volksrepublik China in der Regel nicht zugänglich, obwohl gespickt mit tiefsten Erkenntnissen vom Wesen der Frau.
Danke für die neuerliche Lektüre meiner vierten ‚Erzählung‘. Tut gut.  
Dein K. aus Meidling (Wien)
 
 
Der von Kubinfutse (Wolfgang Kubin) verwendete Begriff der Unsterblichkeit ist dehnbar, er kann konkret erhofft werden (meist als ‚ewige‘ Gesundheit), lässt sich aber auch metaphorisch verstehen – und so finden wir auch zurück zu der Assoziationen-Kette Hegel, Wagner und Romantik, Yin und Yang ... und Wuwei.  
 
8.8.2024    
 


[1] Die in meinem Nickname für Kubin steckende Anspielung auf Konfuzius (chinesisch Kong Fuzi oder Kong Futse, d. i. Lehrmeister Kong) ist im Kontext der taoistischen Liebestechnik ironisch aufzufassen, da die konfuzianische Lehre sich davon strikt abgrenzt, ebenso die Kommunistische Partei der Volksrepublik, die in vieler Hinsicht den Konfuzianismus der eigenen Ideologie ‚anpasst‘. 
  
[2] Qi meint die Kraft, Energie(ströme) im menschlichen Körper und ist materiell aufzufassen. Im Zusammenhang mit Yin und Yang (42. Kapitel im Daodejing), dem Seins-Prinzip dualer, sich gegenseitig ergänzender Kräfte, wird Qi auch als Teil geistiger Kräfte und geistig-materieller Wandlungen auffassbar. 

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 DanceWith1Life (17.01.25, 23:21)
Ich denke, das "geschehen lassen" ist dem westlichen Denken so fremd wie es nur sein kann. Deshalb musstest Du es auch als eine mit der Natur harmonisierende Handlung interpretieren, während das östliche Denken, und gerade das von Buddha und Laotse und anderen inspirierte, in der Meditation gerade das übt, wissend, dass es Teil dieser Natur ist, in all ihrer Weisheit und Abgestimmtheit. jeder einzelnen Lebensform.
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