KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Samstag, 16. September 2006, 02:07
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Zuviel Ich auf KV

Ich zitiere im Folgenden einige interessante Gedanken der Bonner Schriftstellerin Juli Zeh über den Gebrauch und Missbrauch der Ich-Erzählperspektive. Das ist ein typisches Phänomen auf KV.

Juli Zeh
Sag nicht Er zu mir
oder: Vom Verschwinden des Erzählers im Autor

1) ICH schreibt ein Buch. ICH hat viel erlebt, also kann ICH auch viel erzählen.
Zu Anfang ein bisschen Statistik. Die beiden im Frühjahr 2002 erschienenen Anthologien "20 unter 30" (DVA) und "Vom Fisch bespuckt" (Kiepenheuer & Witsch) versammeln insgesamt 57 Erzählungen von 57 jungen und sehr jungen, weiblichen und männlichen Autoren.
Darunter sind 36 ICH-Erzählungen. Eine von mir.
Das macht 64,9 %. Der Anteil personaler Erzählungen liegt bei 22,8 %. Eine Geschichte benutzt "man" im Sinne von "ich", und bei den verbleibenden sieben Texten ist die Perspektive schwer bestimmbar. Das Durchschnittsalter der Autoren liegt bei 29,3 Jahren. Wie hoch ist die Raumtemperatur?
Und wer ist eigentlich dieser ICH, der zwei Drittel der Gegenwartsliteratur auf dem Gewissen hat?
Als ich klein war, gab es ICH noch nicht. Ohne dass es mir richtig bewusst gewesen wäre, benutzten meine Gedanken einen Erzähler. Es gab keine Gegenwart, sondern nur episches Präteritum, und für mich selbst gab es die dritte Person. Während ich von der Schule nach Hause kam, konnte ich zum Beispiel denken: Die letzte Stunde war schon wieder ausgefallen. "Hoffentlich gibt es Leberkäse zum Mittagessen", dachte sie und schob den Schlüssel ins Schloss der Haustür.
Brüllte ich dann "Hallo Mama!" ins Haus hinein, fügten meine Gedanken rief sie hinzu. ICH existierte nur in der wörtlichen Rede: "Ich bin schon da", sagte sie, als die Mutter in den Flur trat, "die letzte Stunde ist wieder ausgefallen."
Wann es anfing, weiß ich nicht mehr. Ich hatte lesen gelernt und verschlang viele Bücher, und bei "Hanni und Nanni" und den "Drei Fragezeichen" kam ICH nicht vor. Außer in der wörtlichen Rede
. Als mir klar wurde, dass ein Erzähler sich meiner Gedanken bemächtigt hatte, war ich alt genug, um an eine psychische Störung zu glauben. Ich arbeitete daran, mir diese Art des Denkens abzugewöhnen, ich zwang mich, von mir selbst in der ersten Person zu denken: ICH zu benutzen.
Wie man sieht, ist es gelungen. Heute bin ich in der Lage, sogar Essays über das Verschwinden der Erzählperspektive in der Ich-Form zu schreiben. Jetzt, da ich ICH habe, werde ich ICH nicht mehr los. Und das scheint, rein statistisch, zwei Dritteln der schreibenden Bevölkerung nicht anders zu gehen.
"Im Gedenken an alle, die beim Versuch, auktorial zu erzählen, den Verstand verloren" – dieses Motto stellte mein Freund D. neulich einer seiner Kurzgeschichten voran.

2) ICH hat ein leeres Blatt Papier vor sich. ICH findet sich selbst am interessantesten auf der Welt. Das hat ICH so gelernt. ICH ist Individualist.
Die Ich-Erzählung ist keine Erfindung der vergangenen neunziger Jahre. Es gab sie schon immer und in allen Variationen: Das ICH kann Hauptfigur des Geschehens sein oder peripherer Beobachter, es kann ein Erlebnis aus der Erinnerung berichten oder vom Hörensagen, es kann nur im ersten oder letzten Satz einer Erzählung auftauchen oder in jeder Zeile. Wie man spätestens im Deutschgrundkurs gelernt hat, haben die ICHs aller Zeiten eines gemeinsam: Sie sind nicht mit dem Autor identisch.
Sind sie nicht? Ein Blick in die biographischen Tabellen der genannten Anthologien zeigt: Der Altersunterschied zwischen ICH und seinen Schöpfern und Schöpferinnen bewegt sich meist innerhalb einer Spanne von wenigen Jahren. In den Geschichten wird gebadet und Taxi gefahren, Geburtstag gefeiert in einer Cocktailbar, Lady Di stirbt, RTL läuft, Vater oder Mutter haben eine Meinung dazu. Das ICH hat häufig keinen Beruf, fast möchte man vermuten, dass es studiert oder gar zur Schule geht. Beim Lesen entsteht ein unbehagliches Gefühl. Es liegt nicht an mangelnder Abwechslung bei Wiederbegegnungen mit der immer gleichen Erzählhaltung, sondern am schleichenden Verdacht, bei ICH handele es sich womöglich gar nicht um eine literarisch notwendige Konstruktion, sondern um die Stimme des Autors selbst.
Wir kreisen um die eigene Person. Erzählen unsere Lebensgeschichten schon in jungen Jahren einem Psychiater oder einer Textdatei mit Namen "roman.doc". Wir haben noch nicht viel von der Welt gesehen und trotzdem beschlossen, Schriftsteller zu werden. Weil das eine intellektuellere Version von Popstar ist, weil man als Schriftsteller nicht gut aussehen oder zehn Jahre lang Gitarrenunterricht nehmen muss und morgens trotzdem liegen bleiben kann. Wir leben zwischen eigenem Bauchnabel und Tellerrand und schreiben darüber. Unsere Texte sind ICH-bezogen wie wir selbst.
Auf den ersten Blick scheint an dieser Erklärung etwas Wahres dran zu sein. Sie passt zu dem oft geäußerten, verworfenen und wieder aufgewärmten Vorwurf, die Literatur, insbesondere die deutsche und erst recht die junge Literatur, habe nichts zu erzählen. Sie sei Pop und U statt E, und ihre Autoren beherrschten vielleicht den medienwirksamen Auftritt, nicht aber das literarische Handwerk.
Schon möglich. Aber nichts erzählen könnten wir eigentlich auch in der dritten Person.
Wer dem ICH zu entkommen versucht, landet, wie die Statistik zeigt, im Regelfall bei der personalen Erzählhaltung: ICH wird umgetauft in Sylvie, Ulli, Nette, manchmal auch nur in "Er" oder "Sie". ER, der über die Straße geht, lacht, guckt, fühlt und denkt, trägt beim Erleben und Wahrnehmen die Kamera als Erzählperspektive mit sich herum. Der Leser erfährt nichts, was ER nicht weiß, sieht nichts, was ER nicht sieht, und kann nur im Schlepptau der Hauptfigur das literarische Geschehen durchleben. Der Blick auf die vom Text geschaffene Welt bleibt eingeschränkt durch das Schlüsselloch einer subjektiven Wahrnehmung.
Und das in einer Zeit, da Bewusstseinsströme, innere Monologe, autoanalytische Suada und überhaupt Spaziergänge durch den am besten kranken Kopf einer einzelnen Figur keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken dürften. Ja: Die Welt ist nichts als unser Blick auf sie. Klar: Eine objektiv zugängliche Wirklichkeit gibt es nicht. Spätestens seit der "Matrix" haben wir die Erkenntnis aus Platons Höhlengleichnis tatsächlich verinnerlicht und ausreichend trivialisiert. Aber warum sollte diese Erkenntnis dazu zwingen, literarisch nur noch aus der Subjektiven zu erzählen?
Der Mann ohne Eigenschaften, von dem hier erzählt wird, hieß Ulrich, und Ulrich – es ist nicht angenehm, jemand immerzu beim Taufnamen zu nennen, den man erst so flüchtig kennt! [...] – hatte die erste Probe seiner Sinnesart schon an der Grenze des Knaben- und Jünglingsalters in einem Schulaufsatz abgelegt, der einen patriotischen Gedanken zur Aufgabe hatte. Patriotismus war in Österreich ein ganz besonderer Gegenstand.
Jeder einzelne Satz aus Robert Musils unvollendetem Roman kann als Paradebeispiel herhalten für den Tonfall einer Stimme, die weder einem ICH noch einem personalen ER zugeordnet ist: An- und Einsichten des Romans sind nicht solche der Figuren. Das literarische Personal wird am langen Arm der epischen Distanz zu der ihm eigenen Subjektivität geführt: Über die Zeit bis dahin vermochte Ulrich heute den Kopf zu schütteln. Der Text bleibt Text, Ulrich bleibt Ulrich und damit eine literarische Konstruktion. Das ist strenge und vielleicht manchmal schwer verdauliche Trennkost im Vergleich zum Kochtopfrezept der neuen ICH-Erzählung, die Autor, Erzähler, Figur und Leser auf kleiner Flamme zu einer geschmeidigen Masse verrührt.
"Aber wenn ich versuche, auch nur den Anfang eines Textes auktorial zu konzipieren", sagt mein Freund D., "klingt es altbacken, oberlehrerhaft und vorgestrig."

3) ICH drechselt nicht. ICH redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
Kann eine Erzählperspektive direkten Einfluss auf die sprachliche Qualität des Textes haben? Wie kann eine Erzählhaltung veraltet oder zeitgemäß frisch oder überhaupt irgendwie "klingen"? Die auktoriale Erzählhaltung bewegt sich aufgrund ihrer Distanz zu literarischem Geschehen und Figuren am anderen Ende der Fahnenstange. Ein auktorialer Erzähler stellt die Ereignisse aus der Vogelperspektive dar, unabhängig vom Wissensstand einzelner Figuren, in Ort und Zeit nicht zwingend an deren fiktive Biographien gebunden. Das aber müsste in lakonischen Fünf-Wörter-Sätzen oder verträumt-sarkastischem Prenzlauer-Berg-Duktus genau so möglich sein wie in seitenlangen Schachtelsatz-Gebäuden. Trotzdem ist die Ansicht weit verbreitet, man könne "so", nämlich wie Musil oder Mann, "heutzutage" nicht mehr erzählen.
Es muss daran liegen, dass junge Autoren sich nicht wohlfühlen in der auktorialen Haut. Beim Versuch, eine omnipotente Haltung einzunehmen, gerät man leicht in Gefahr, sich als Stimmenimitator zu betätigen: Lächerlich ist nicht das auktoriale Erzählen, sondern dessen misslungene Kopie. Nicht das auktoriale Erzählen schreckt uns ab. Sondern unser Unvermögen, es originär zu betreiben.

4) ICH will nicht Gott sein. ICH ist Demokrat.
Ein auktorialer Erzähler ist Herr in der Welt seiner Geschichte. Er ist den Geschehnissen nicht ausgeliefert, sondern steht über ihnen. Er mag selbst, sogar als "Ich", im Text eine Rolle spielen; im Moment aber, da er sich zurücklehnt und die Ereignisse erzählt, hat er alles überstanden und blickt darauf als einer, der Anfang und Ende kennt. Der auktoriale Erzähler ist im Text die unanfechtbare Autorität.
Zu der Zeit, da sich ein Erzähler meiner Gedanken bemächtigte und ich mich gemeinsam mit fünf Freunden und drei Fragezeichen auf der falschen rezeptionstheoretischen Ebene zu bewegen begann, war die Welt vielleicht nicht in Ordnung, aber sie hatte eine Ordnung: Ich war klein, und es gab einen Haufen Wesen, die im Vergleich zu mir allmächtig und allwissend waren. Kinder- und Jugendliteratur ist heute wie früher häufig auktorial erzählt und scheint auf diese Weise einer Weltordnung zu entsprechen, die in einer frühen Lebensphase immer noch Gültigkeit besitzt.
Später lernte ich, dass Gott entweder tot ist oder eine Frage der individuellen Selbstverwirklichung. Vater und Mutter, Klassenlehrer und Bundeskanzler sind nicht notwendig tot, aber auch nur Menschen und damit weit entfernt von allwissend oder omnipotent. Kritisches Nachfragen im Unterricht endet nicht in der Ecke oder beim Nachsitzen, sondern wird mit guten Noten belohnt. Wohin es führt, wenn einer führt, studieren wir im Geschichtsunterricht in aller Ausführlichkeit.
Seit dem zweiten Weltkrieg wird innerhalb unseres demokratischen Systems versucht, den Einzelnen nicht über seinen Platz innerhalb einer hierarchischen Struktur zu definieren. Wir sind mehr als die Sprosse irgendeiner Hühnerleiter. Wenn die Erzählperspektive eine Blickrichtung ist, eine bestimmte Sicht auf die Welt, die von persönlicher Identifikation und Sozialisierung beeinflusst wird, setzt sie sich ins Verhältnis zu jeder gesellschaftlichen Veränderung.
Einer erzählenden Autorität fehlt heute in Familie, Schule und Politik die Entsprechung. Ohne feststehende, hierarchisch gestützte Ordnungsprinzipien gibt es in unserem täglichen Erleben vor allem das dem Leben und sich selbst ausgelieferte ICH und darüber den blauen oder grauen Himmel.
Warum also sollten wir beim Schreiben die Haltung dessen simulieren, der alles weiß und deshalb regiert? Warum sollten wir beim Lesen eine solche Haltung akzeptieren? Ist auktoriales Erzählen nicht irgendwie "undemokratisch"?

5) Weil ICH nervt. Weil ICH beschränkt ist wie die Menschen selbst.
Und weil es Genuss bereitet, etwas erzählt zu bekommen, ohne im engen Kopf einer einzelnen Figur kauern zu müssen. Man schlägt das Buch auf, sitzt sogleich mit dem Rücken am Kachelofen, vor einem Lagerfeuer oder unter Deck eines Überseedampfers. Und betrachtet eine ganze Welt. Der auktoriale Erzähler kennt seine Geschichte und ihre Bedingungen, sonst würde er sie nicht weitergeben. Er hat sie erlebt oder erfunden, und er hat es nicht nötig, das Subjektive daran ständig in den Vordergrund zu stellen.
Ein großer Teil der Leserschaft scheint sich nach dieser Art des Erzählens zu sehnen. Wenn sie in Deutschland nicht zu haben ist, wird sie importiert: In den letzten Jahren stand lateinamerikanische Literatur hoch im Kurs – deren Autoren haben erheblich weniger Probleme mit Erzählpatriarchen. Dafür mehr mit Vätern, Göttern und Diktatoren. Marquez wollen alle lesen. Paradoxerweise will hier aber niemand so schreiben.
Wir fühlen uns nicht einer zwingenden Übermacht ausgeliefert, sondern der allzu großen Beliebigkeit, dem berühmt-berüchtigten anything goes. Die Freiheit zu wählen bringt den Zwang mit sich, unablässig Entscheidungen treffen zu müssen. Umso mehr kann das Eindringen in die von zentraler Instanz geordnete Welt eines Romans Erleichterung bedeuten. Man lässt sich alles zeigen und erklären, wird beim Lesen zum Kind, entledigt sich ungestraft für ein paar hundert Seiten jeder Verantwortung. Frei von Nebenwirkungen. Symptome einer auktorialen Persönlichkeitsspaltung nur bei Überdosierung: "Hallo Mama", rief sie, "ich bin schon da."

6) ICH beschreibt, was ICH sieht. Was ICH nicht sieht, braucht der Autor nicht zu beschreiben.
"Die volle erzählerische Möglichkeit", sagt mein Freund D., "liegt bei der auktorialen Instanz. Und genau da liegt auch das Problem."
Beim auktorialen Erzählen kann die Handlung an beliebig vielen Orten spielen, abwechselnd, gleichzeitig, hintereinander, in beliebig vielen Zeiten und Epochen, ohne dass die Auswahl beschränkt wäre durch den Lebensweg, das Wissen und die Wahrnehmung einzelner Figuren. Der Autor steht auf der Schwelle eines unbegrenzten Spielfelds, eines Paradiesgartens. Totale Freiheit.
Seit wir sie haben, stehen wir mit der Freiheit auf ebenso schlechtem Fuß wie mit hierarchisierenden Autoritäten, die wir nicht mehr haben. Antiproportional zum Wachsen der Auswahlmöglichkeiten sinkt die Fähigkeit zu wählen. Alles kommt in Frage. Da ist es wieder: anything goes.
Entscheidungen werden anhand und mit Hilfe von Prinzipien getroffen, und auch davon besitzen wir nicht mehr viele. "Du sollst nicht töten" gilt weiterhin, hilft aber nicht beim Schreiben. Woher soll der Autor wissen, was ins Buch gehört und was nicht? Ganz einfach: Das Gute ins Töpfchen. Pro bono contra malum. Nur lässt das Gute sich schlecht identifizieren, wenn es nicht einmal gültige ästhetische Kriterien kennt. Erst recht diktieren Moral und Ethik uns nichts in die Feder, und politische Intentionen sind etwas für ostalgische Ossis und Rest-Feministinnen. Sicher: das zu erzählende Geschehen stellt Forderungen, die es beim Schreiben einzulösen gilt. Aber das Geschehen ist nur das Skelett des späteren Textes, und entgegen einer verbreiteten Auffassung ergibt sich alles andere auch beim begabten Schriftsteller nicht etwa von selbst. Die große Freiheit ist schwer zu verwalten.
Einen überschaubaren Radius im Land der unbegrenzten Möglichkeiten schafft das ICH. Es trifft eine Vorselektion: Eine Szene, die ICH nicht erlebt hat, kann nicht erzählt werden. Es sei denn, ICH hat sie geträumt oder davon gehört. Dieses Verfahren schränkt stark ein und teilt dadurch vom horizontlosen Tummelplatz einen Laufstall ab, in dem sich gerade junge Autoren, die Verfasserin inklusive, wohler fühlen als auf freier Wildbahn.
Junge Autoren sind also Anfänger, und auktoriales Erzählen ist für Fortgeschrittene? Vielleicht ein bisschen. In diesem Fall müsste jedoch ein Haufen schlechter auktorialer Erzählungen existieren. Oder waren wir je vernünftig genug, um nichts zu beginnen, das wir nicht beherrschen?

7) ICH weiß, dass ICH nichts weiß.
Es steht zu befürchten, dass der subkutane Widerstand dagegen, vom Autor zum Erzähler zu werden, eine weitere Ursache hat. Das ICH ist nicht bloß einfacher zu meistern. Es ist nicht nur die bessere Entsprechung einer autoritätsfreien Umwelt und nicht nur alter ego einer bauchbespiegelnden, unpolitischen, popigen Individualistengeneration.
Wir haben Höhenangst. Uns ist der Wille zur Draufsicht verloren gegangen, in der Vogelperspektive wird uns schwindlig.
Der Erzähler berichtet seinen Lesern von der Welt. Zunächst von der selbstgeschaffenen, und über diese auch ein kleines Stück von der wirklichen Welt. Er gibt vor, etwas davon zu verstehen, und vielleicht versteht er wirklich etwas. Der Patriotismus ist in Österreich ein ganz besonderer Gegenstand - wer würde es heute noch wagen, einen solchen Satz zu schreiben? Ein Historiker. Ein Essayist vielleicht, oder der Politikredakteur einer überregionalen Tageszeitung. Sätze dieser Art sind für Sachverständige, für Ethikexperten, Gentechnologie-, Wirtschafts-, Umwelt- und Balkanspezialisten. Ein Schriftsteller würde schreiben: "Der Patriotismus", sagte der Typ mit dem Backenbart, "ist in Österreich ein ganz besonderer Gegenstand." In den Haaren über seiner Oberlippe hing ein gelblich angetrockneter Tropfen, Dotter vom Frühstücksei, das sich dort verfangen hatte. Ich konnte meine Augen nicht abwenden.
Die Teilnehmer an öffentlichen Diskursen hießen einst "Intellektuelle" oder gar "Philosophen", und zur ersten Kategorie durfte ein Schriftsteller sich zählen. Jetzt heißen sie "Spezialisten", "Sachverständige" oder eben "Experten". Sie reden mit im Gespräch über eine angeblich immer komplexere Welt. Der Schriftsteller ist kein Spezialist, außer für sich selbst und die ganze Welt.
Die Welt war, ehrlich gesagt, schon immer ziemlich komplex. Nur war unser Informationsstand nie so hoch, der Zugang zu Wissensquellen nie leichter und die Möglichkeit zur Teilnahme an Kommunikationsprozessen nie so weit verbreitet. Wachsendes Wissen, das ist eine alte Erkenntnis, geht mit dem wachsenden Gefühl des eigenen Nichtwissens einher. Diese Unsicherheit gälte es auszuhalten, um meinungs- und sprachfähig zu bleiben.
Es ist einfach, jemanden mundtot zu machen, indem man ihn bei fehlendem Expertentum ertappt.
Wir haben das Feld geräumt, uns auf die letzte Bastion individuellen Expertentums, nämlich das streng subjektive Erleben zurückgezogen. In die literarische Froschperspektive. Die Stimme aus dem Off, sie schweigt. Die Gedanken sind frei, vor allem die eigenen, und wenn es brenzlig wird, können wir die Mär vom literarischen Erzählen wiederbeleben: Das habe doch nicht ich gesagt, sondern ICH, und ICH ist, wie jeder weiß, mit dem Autor nicht identisch.

8) ICH könnte mal Pause haben. ICH könnte den Mund halten, wenn andere reden.
Vielleicht sollten wir wieder bei Hanni und Nanni oder den Fragezeichen beginnen. Uns mit dem Rücken an Kachelöfen lehnen, Überseefahrten unternehmen, dreimal täglich vor dem Badezimmerspiegel sagen: Musil hat es auch überlebt. Unsere Persönlichkeiten spalten, bis wir genügend Leute haben für ein breites literarisches Figurenpersonal. "Hallo Mama", rief sie. "Wir sind schon da." Stadtrundflüge durchführen zur Überwindung von Höhenangst, autoritär-hierarchische Strukturen verinnerlichen bei der Bundeswehr. Dreimal täglich vor dem Badezimmerspiegel sagen: Patriotismus ist in Österreich ein besonderer Gegenstand.
"Es wäre gut", sagt mein Freund D., "mal eine auktoriale Erzählung zu schreiben."
Oder wenigstens einen auktorialen Essay.
ICH meint ja nur.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 AlmaMarieSchneider (22.09.06)
Nicht nur auf KV und wenn einer Geschichte die ICH-Erzählperspektive fehlt kommt sofort der Vorschlag, daß diese doch besser wäre.
Das ICH -ein Synonym unserer Zeit? Die Erzählperspektive nur ein Ausdruck dafür?

 Bergmann (29.09.06)
Ich gebe zu, ein Link zu Juli Zeh's Artikel hätte es getan. Kommt nicht wieder vor. Es geschah in Zeitnot. Rechtlich bestimmt dann ein Problem, wenn ich die mit unseren Kolumnen verfolgten (Diskussions-)Interessen einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Literatur nicht hätte. Grenzfall.
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