KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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LANGE SCHATTEN. ANNA ROMAS - LETZTE BRIEFE
Diesmal will ich eine Autorin vorstellen, die über das Schreiben angesichts des nahenden Todes schreibt. Ich habe meine Briefantworten weggelassen, alles ergbt sich aus Anna Romas' letzten Briefen.
6.7.2003
Lieber Herr Bergmann,
… eine feine Sache sind Cafés im Allgemeinen – der Umschlagplatz von Espresso gegen bare Münze und Einsamkeit gegen Schreib-Zweisamkeit), Theater ist für mich ein magisches Wort (meine Tochter und ich sind diesbezüglich richtig süchtig und genießen selbst in der letzten Reihe den Duft der Bretter, die die Welt bedeuten).
… ich überarbeite selten etwas. Bin wie eine gebärende Hure – zeugen, gebären, das Kind vor dem ersten Waisenhaus ablegen, vergessen und wieder zeugen. … ich habe das Gefühl, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Wenn ich schon Ähnlichkeit mit Aglaja Veteranyi habe, warum dann nicht auch hinsichtlich des Endes.
Dennoch – das Schattenbuch liegt mir schon am Herzen, genauso wie einige düstere unveröffentlichte Erzählungen und ein unveröffentlichter psychol. Roman. „Latte macchiato“ wurde als Kontrapunkt zu den Schatten und zu meiner morbiden Lyrik geschrieben. Vielleicht war ich es satt, zu hören, dass ich nur über den Tod schreiben kann. So habe ich mich zerstückelt, um mir oder anderen etwas zu zeigen. Das schwarze Buch, das Kaffeebuch, einen grünen Lyrikband, unter Pseudonym einen harten erotischen Roman, sozusagen ein knallrotes Buch – demzufolge bin ich jetzt frei, das zu schreiben, was mir liegt. Vielleicht sollte ich mal alle Teile zusammenfügen, denn zerrissen läuft es sich schwer durch die Welt.
7.7.2003
Lieber U.B.,
manche reden von der Gnade oder dem Nachteil der zu frühen oder der zu späten Geburt. Ich rede jetzt von der Ungnade oder dem Versäumnis, Sie nicht viel früher kennengelernt zu haben. Einen Lektor wie Sie, einen Dichter und Denker hätte ich gebraucht, um allen Schrott, alles Übertriebene, Schmalz und Schnulze, Pathetik und Emotionsausbrüche aus meinen 3 (4) Büchern zu entfernen. Ich bin mir dieser Fehler bewusst, aber ich kann mich nicht aufrappeln, zu überarbeiten. Korrekturlesen mit Widerwillen und nicht mehr.
Und nun zu den "Gestammelten Erinnerungen" – seit 3 Jahren habe ich diesen Text nicht zu lesen gewagt, selbst nicht vor und nach Gerhards Laudatio, weil ich wusste, dass er schmerzt. Ich tat es heute, ich weinte (schämte mich nicht) und muss sagen, dass Sie Großartiges geleistet haben. Aus einem Gestammel aus dem Bauch heraus wurde ein Gedicht mit Kopf. Was soll ich denn da noch überarbeiten? Sie haben es ja getan. Die Fassung 7.7.03 UB ist die vorzeigbare Variante, nur stellt sich die Frage, wem wir sie zeigen könnten. Bin Ihnen sehr, sehr dankbar – Ihre Fassung sollte mir Muster und Lehre für andere Texte sein.
Freue mich auf Ihre "Kopflose Handlungen". Was es wohl sein mag? Was handelt
man sich damit ein? Bei "kopflos" fiel mir ein älteres Gedicht von mir ein:
ZEIT - TOT - SCHLAG
Geköpfter Tag
guillotinierte Kälte
getrennt der Rumpf
mit fallendem Geräusch.
Es rollt der Kopf
aus goldverbrämtem Kragen
in schwarzen Samt
und blutet aus –
heraus
aus staubbedeckten Kleidern
aus Tüten durchgelutscht und schal
aus alten Schuhen ohne Sohlen
aus Farbe, die nur Kreide war.
Und rollt
gefüllt mit grauer Masse
die gar nichts ist
und dennoch rollt
ins Tor von
ZEIT-TOT-SCHLAG
und
TOT-SCHLAG-ZEIT
Kein Requiem
keine Totenmesse
kein Beten
und kein Kreuz am Stein
dem toten Tag
der kopflos geht
und sinnlos war
im Faltenkleid der Zeit.
9.7.2003
Ein Fötus nur im Bauch der Zeit
geworfen in die Dimensionen.
Der Zeiger kriecht dem Kreis entlang
verschluckt den Tag
zerfrisst den Stein
an den nur dunkler Staub erinnert.
7.8.2003
Lieber Herr Ulrich Bergmann,
danke für die schönen Worte. Obwohl Dichter mit Wörtern/Worten/Bildern arbeiten (setzt man doch voraus) sind die schönen Dialoge unter ihnen meist die Ausnahme in und um Stuttgart. Ich selbst vermisse diesen Austausch oft und ziehe mich dann in das mir sicherlich nicht undienliche Alleinsein (zu zweit mit mir selbst) zurück. Vor allem habe ich das in Salzburg genossen und war froh, dass auch mein Mann es verstanden hat, wie lebensnotwendig für mich das Alleinsein manchmal ist. … Vor einer ziemlich heiklen Lesung, bei der Hitze, mit etwas Kribbeln im Bauch konnte ich wirklich weder Ihre Variante lesen noch meinen Satz einfügen. So musste sich P. V. eben etwas gedulden. Als Dank für ihre schöne Mail ein flüchtiges Salzburg-Gedicht, geschrieben auf dem Kapuzinerberg und nicht mehr gefeilt.
FALTEN
Die Tage legten mir zwei Falten um die Lippen
mein Lächeln in Klammern zu setzen
meine Trauer in Frage zu stellen
wo beides falsch ist
oder nur geboren
aus selbstgeschlagnen Wunden
und selbsterlognem Glück.
Das eine wie das andre sind nur Worte
und Worte Zeichen oder vage Spur im Sand.
Ja, hätte niemand sie erfunden
wär fremd mir Schmerz
wär fremd mir Glück
ich könnte auch das Kreuz nicht spüren
die Dornenkrone riss ich lachend weg.
Und Falten wären nicht Symbole –
ich trüg sie ohne diese Scham,
ganz ohne Fragen, ob sie klammern
mein Lächeln oder meinen Gram.
[29. Juli 2003]
21.9.2003
Lieber Ulrich Bergmann,
der Sommer ist trotz seines verzweifelten Strahlens fast vorbei, die Urlauber kehrten zurück, … und der Kränkelei meinerseits muss ein Ende gesetzt werden.
Ich war einige Wochen lang krank – große Schwierigkeiten mit der Halswirbelsäule, nachdem zu einem Bandscheibenvorfall von letztem Jahr noch ein neuer dazugekommen ist. Schwindel, große Schmerzen, ein Ärzte- und Behandlungsmarathon, schlaflose Nächte und bleierne Tage. Was mich am meisten belastet hat, war die Tatsache, dass beim Lesen und Schreiben die Buchstaben vor meinen Augen einen wilden Reigen tanzten. Das war schlimmer als der Schmerz, den man ja mit Mitteln in Schach halten kann.
Seit einer Woche bin ich wieder in der Arbeit, nehme langsam auch alle verschobenen Literaturtermine nach und habe eine Krimi-Geschichte begonnen. Es ist ziemlich egal, wie sie ausfällt – wichtig ist nur, dass ich wieder Gestalten erfinde oder dem Leben abgucke, dass ich wieder diese Personen handeln lassen kann und die Sätze ruhig auf dem Bildschirm bleiben, ohne mir gleich ins Auge zu springen.
30.10.2003
Lieber Ulrich Bergmann,
ich habe mich in letzter Zeit in Schweigen gehüllt – aus dem Bedürfnis heraus, nicht reden zu müssen, weil zu viel auf mich einstürzte, das gedanklich bzw. auch physisch verarbeitet werden musste. Zuerst die Krankheit, dann Alice' Umzug von ihrem Freund zu uns und dann in eine andere Wohnung, gefolgt von einem Todesfall. Der Krebs-Teufel, der seit Generationen alle weiblichen Wesen mütterlicher Seite dahinrafft, hat wieder zugeschlagen. Die Schwester meiner Mutter, Taufpatin und Quälerin meiner Jugend, war jetzt an der Reihe. Der Tod glättet zwar die Lebens-Runen im Gesicht der Toten, die Ungereimtheiten und unausgesprochenen Gefühle lassen einen aber machtlos und verwirrt zurück.
Von jemandem Abschied nehmen, dem man im Leben Gutes und Liebes getan hat, ist vielleicht einfacher als von jemanden, an dem man das versäumt hat. Dies sei mir eine Lehre.
13.11.2003
Lieber Ulrich Bergmann,
ja, Sie sehen mich als einen Menschen, der mit gelassener Leichtigkeit das Leben, die Literatur, die Arbeit absolviert. Schon sonderbar, wie verschieden die Eindrücke sind, die man bei Menschen hinterlässt, obwohl doch immer das gleiche ICH agiert.
Es stimmt aber schon, dass die wilde Verzweiflung zur Zeit der "Wenn die Schatten...", das zerrissene Aufbäumen und Suchen aus etwa 50 Gedichten und 10 Geschichten, das Bild einer „stacheligen Furie“ (Valentin) von einer gewissen Gelassenheit abgelöst wurde.
5.12.2003
Lieber Herr Bergmann,
in 2 Wochen ist es soweit, dass die Eremitage vorgestellt wird, wir etwas vortragen dürfen und danach nach Esslingen fahren. Sie und Ihr Freund Arthur können sich ruhig Zeit lassen und selbstverständlich auch bei uns zu Mittag essen. Warnung: Vorweihnachtliches Geflimmer und adventischen Zauber wird man in diesem Haus nicht finden.
Hoffentlich habe ich bis dahin wieder meine alte Stimme. Augenblicklich bin ich zwar nicht sprachlos (Worte fließen auch ohne Stimmbänder), aber fast gänzlich stimmlos. Außer einem hohen Gequietsche oder heiseren Krächzen kommt gar nichts raus und alle lachen sich halb kaputt.
Etwas Erkältung, dann die vielen Lesungen in engen Räumen oder ein bisschen psych. Stress. Der Grund ist eigentlich unwichtig – wichtig ist nur, dass ich schnellstens wieder sprechen kann, denn am Sonntag (14. Dez.) habe ich eine Lesung in einem extrem kleinen und überfüllten Raum.
Am Dienstag war ich im Ratskeller – H. Hannig referierte über Haikus und präsentierte sein neues Buch (Eigenverlag) mit Haikus und Holzschnitten. Ein wahres Kleinod und auch nicht preiswert – vielleicht hilft ihm die Weihnachtszeit beim Absatz. Ich wünsche es ihm von Herzen, denn seine künstlerische Vielfalt, sein Fleiß und seine Ausdauer sind unübertreffbar.
Meine Lesungen bei den Buchwochen, bei den Esslinger Literaturtagen und selbst die Erotiklesung in einem kleinen Salon waren zu meiner Zufriedenheit. Mit so viel Publikum hatte ich nicht gerechnet. Mal sehen, wie es am 1. März in der Mannheimer Bibliothek sein wird. Man hat mich dorthin zu einer Lesung geladen.
22.6.2004
Lieber Ulrich Bergmann,
vielleicht kann kein anderer als ich sich besser in Ihre Lage, in die Ihrer Frau versetzen. Es ist furchtbar, wachen, wissenden Auges auf den Tod zu warten, obwohl man ihn nicht erwarten will. Manchmal erwache ich nachts schweißgebadet und frage mich im Halbschlaf, ob ich noch lebe. Erst wenn meine Hand die Kahlheit des Kopfes spürt, bin ich beruhigt – sonderbar, ein kahler Kopf als momentaner Garant für Leben. Sie, Ihre Frau und ich wissen, was diese Krankheit an Seele und Körper anrichtet. Ich wünsche allen, die ich kenne und mag, einen gnädigen Sekundentod, aber nicht dieses bang-hoffnungsvolle, langsame Sterben. Und doch lebe ich in letzter Zeit intensiver – alles noch EINMAL spüren, fühlen, aufsaugen. Ich habe mich so lange nicht gemeldet, da es mir nach der letzten Chemo sehr schlecht gegangen ist. Am Freitag steht schon die nächste an – wieder einige Tage Klinik, wieder die Qual. Ich wünsche Ihnen KRAFT.
5.6.2004
Lieber Ulrich Bergmann,
danke für Ihre Worte. Ja, der Körper wusste viel mehr, das Unterbewusstsein erahnte den großen Lungen-Tumor, der sich auf ein Stimmband gelegt hat (es lähmte) und dann auch Herzgefäße einengt. Jetzt weiß ich, warum ich so viele unveröffentlichte Texte schrieb, traurige Begebenheiten, normale Alltagsszenen, bei denen immer eine Frau einen Druck (schwarzen Vogel) auf der Brust hatte und schließlich am Herzen starb. Dennoch – ich kämpfe. Innerhalb einer in Deutschland noch nicht zugelassenen Studie mache ich eine Pferdekur an Chemo und Bestrahlungen durch – bis Juli in Stuttgart, danach in Tübingen. Erst dann wird man sehen, ob der Kerl zu einer operablen Größe geschrumpft ist – falls er mich bis dann nicht erstickt hat. Seit einigen Tagen schreibe ich wieder und interessiere mich für das lit. Geschehen. Bis jetzt war der Schock und die Klinik-Belastung zu groß.
4.7.2004
Lieber Ulrich Bergmann,
mir fehlen die Worte, aber ich kann alles so gut verstehen. Ich habe Ihre Mail meinem Mann vorgelesen – er hat geweint und gemeint, er wünscht sich so sehr, nie so etwas schreiben zu müssen. Er muss auch auf alles vorbereitet werden. Wir, die Kranken, fühlen die Anwesenheit des Todes von Anfang an. Wir schöpfen Hoffnung, fühlen sein Zurückweichen und Wiederkommen. Die Angehörigen, Freunde und Verwandte haben es noch schwerer.
30.7.2004
Lieber Ulrich Bergmann,
ich bedanke mich für die Gerda-Aufzeichnungen, die mir Einblick in die seelische und physische Verfassung Ihrer Frau und auch in die Ihrige geben. Irgendwie sah ich beim Lesen meinen eigenen Weg vorgezeichnet. Ab Dienstag, 3. August, bin ich 4 Wochen lang stationär in Tübingen wegen Bestrahlungen und Chemo. Ob es was bringt, wird die Zukunft zeigen.
7.1.2005
Lieber Peter Valentin,
nach nur 3 Tagen bin ich wieder zurück aus dem Krankenhaus. Dies aus dem Grunde, dass alles schlimmer geworden ist: Metastasen in der anderen Lunge und in der Leber, alles inoperabel. Es gibt noch EINE Chance: Tabletten, die in Deutschland noch nicht zugelassen sind, mir aber vom Krankenhaus aus Amerika bestellt und als Studie verabreicht werden.
Peter, ich weiß nicht, wie schnell es jetzt abwärts geht, aber ich setze keine große Hoffnung in die Tablette, die bei 20% anschlagen soll. Ich will nicht lange leiden müssen.
Das Lob über meinen Text hat mich sehr, sehr gefreut. Eitel bleibt der Mensch bis hin zur Todesstunde.
11.1.2005
Lieber Peter,
danke für deine Worte. Ab Mittwoch bekomme ich die Tablette, die viele Nebenwirkungen verursachen wird. Laut meinem Onkologen bekomme ich sie so lange, bis ich wieder therapiefähig (Chemo, Strahlungen) bin. Ob ich diesen Tag erlebe? Wahrscheinlich nicht, aber ich, die ich mich immer mit Zeit, Tod, Sein auseinandergesetzt habe, bin erstaunlich ruhig. Könnte ich diese Ruhe und Gelassenheit meiner Familie übergeben! Sie sind alle so fertig und ich fühle mich so schuldig, weil sie meinetwegen leiden. Nachts bin ich nicht so ruhig, denn da hat das Unterbewusstein das Sagen. Ja, nachts schreit Leid und all das Versäumte schauerlich um Hilfe.
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
Ja, ich habe genug Gedanken. Aber ich will nicht IMMER über KV schreiben. Diese Briefe wären an anderer Stelle nicht so gut unterzubringen. Es sind fast alle. Mehr habe ich nicht. Ich lernte Anna Romas leider erst ziemlich kurz vor ihrem Tod kennen, ich sah sie nur zwei Mal, sprach mit ihr ein einziges Mal.
Veröffentlichung dieser Briefe: in einer Literaturzeitschrift.
Vielen Dank für deine Gedanken und Anregungen. Liebe Grüße, Uli.