KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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ZEREBRALE SINNLICHKEIT – Vaga. II. Lyrik (5)
Irritation.
Durch mein offenes Fenster fließt Rot hinaus ins Grün.
Wind greift mir ins Haar.
Ich gleite über das Sims, rette mit mir alle Farben ins Freie.
Regenstriche verwässern das Bild.
Mit einer seltsamen Angst,
dass ich eines Tages
mich selbst nicht mehr deuten,
meine eigene Metaphorik nicht mehr entlarven kann,
erwache ich.
Dieses Gedicht beschreibt die Verunsicherung des erwachten lyrischen Ichs, das sich im Traum auflöste und mit der Außenwelt verschmolz – es ist fraglich, ob es sich hier um eine Angst oder einen Wunsch handelt. Vielleicht beides. Die Identität gerät einerseits in Gefahr, wenn ich die geschützte Innenwelt verlasse – andererseits muss ich aus mir herausgehen, um meine Identität und mein Selbstbewusstsein zu erproben und zu festigen. Das lyrische Ich ist in diesem Gedicht eine Frau, die von der Natur („Grün“) angezogen wird, es zieht sie hinaus, sie wird durch den Wind verführt, durch innere Erwartungen, die sich draußen erfüllen könnten. Die Vermutung liegt nahe, die Verse als ein kaum verschlüsseltes Liebesgedicht zu begreifen – zumal der Frau „Rot“ zugeordnet wird, das können die Haare sein, in die ein männlicher Wind der Anziehung greift, aber noch lieber sehe ich ein rotes, verlangendes Herz, zu dem das Fließen besser passt. Die Liebe ist ein Wagnis, das diese woman in red träumerisch einzugehen scheint: „Ich gleite über das Sims,…“ Interessant ist die folgende Formulierung: Ich „rette mit mir alle Farben ins Freie“ – sie verliert sich also nicht, sie behält ihre Identität, obwohl das „Bild“, ihre Erscheinung vom Regen verändert wird; die „Regenstriche“ streichen die Person nur optisch durch. Das lyrische Ich bleibt also bei sich, auch wenn es nach außen geht. –
Die im Traum erlebte Sicherheit wird in der Realität des Wachseins gebrochen und vollkommen in Frage gestellt: Die Wirklichkeit macht Angst, und das reale Bewusstsein erscheint zerbrechlich, wenn sich das lyrische Ich fragt, ob es sich „eines Tages“ – wenn es das Wagnis eingehen wird – verliert, sich selbst nicht mehr versteht, noch nicht einmal im Bild. Es verliert die „eigene Metaphorik“, das Selbstverständnis.
Das Gedicht verarbeitet den Traum einer Frau, die Neues sucht, vielleicht Liebe, aber noch vor dem großen Wagnis zurückschreckt, auf das Neue zuzugehen. Schön ist die Mehrdeutigkeit, die zum Schluss erreicht wird: Das rote Herz verlangt Einswerdung mit der Natur, es will mit sich selbst und der Umwelt harmonisch leben, ob es sich nun um die Liebe zu einem anderen Menschen handelt, einen beruflichen Aufbruch oder die nie endende Suche nach sich selbst.
Die Dichterin dieser Verse ist Vaga (Vagabundin), *1949. Sie kommt aus Niedersachsen. Sie bezeichnet sich als Beobachterin und Rastlose und meint: „Nichts beglaubigt das Wahre außer: Es ist. … Ich möchte in allen Sprachen schweigen können.“
zwischen Tuch und Haut.
in den Froststürmen
wenn wir wieder Mäntel brauchen
gleitest du mir
zwischen Tuch und Haut
weitab aller Winterängste
noch steht die Lerche
zittrig über uns
im blassblauen Dämmerlicht
In dem Gedicht „zwischen Tuch und Haut.“ wird das im ersten Gedicht nur implizit vorhandene Du direkt angesprochen. Das lyrische Ich beginnt mit dem verallgemeinernden „wir“ und bezieht uns so mit ein. Wir brauchen Wärme gegen die Kälte der Zeit oder einer Situation – die Froststürme stehen hier für harte Widrigkeiten, für existentielle Befindlichkeiten, in denen wir einsam sind. Das Winterbild bezieht sich hier zugleich auf den Beginn einer Liebe. Die große Nähe („gleitest mir zwischen Tuch und Haut“) ist noch primär körperlich, vermag aber schon Einsamkeit oder Schutzlosigkeit zu verdrängen. – In der zweiten Strophe wird klar, dass Frühling und Sommer, Aufblühen und Reifung, noch ausstehen. Der zarte, unsichere Beginn der Liebe wird in einem prägnanten Naturbild beschrieben: Der zarte Singvogel, der die Seelenverbindung der beiden Liebenden repräsentiert, fliegt unsicher im unklaren Licht der Frühe. Blassblau malt hier wie bei Trakl eine noch kalte, beängstigende Nähe zum Tod dieser Liebe, aber das „noch“ verheißt die Möglichkeit des Gelingens.
täglich. Mein Brot.
Manifest zum Thema Abgrenzung
kEinFluss zerstöre mir
das GradeAusgebet
mein Ja ist Amen nur
wenn ich es will
hängt nicht mehr kläglich
hinter meinen Bitten
schon auf der Zunge Grund
[im Knie noch Splitterholz]
geschehe Wille mir
nie wieder weil er soll
Das dritte Gedicht wendet sich wieder der Ich-Stärke zu. Dieses Ich will Souveränität, will keinen falschen Einfluss („kEinFluss“); keinen Fluss (kein Zerfließen, vgl. „Irritation“), sondern Festigkeit. Dieses Ich will geradeaus gehen, nicht mehr beten (Ausgebet = Gebet aus, es verbittet sich Bitten und Beten). Es sagt nicht mehr Ja und Amen zu dem, was es soll, sondern es sagt nur Ja zu dem, was es will. Das Ja in der früheren Abhängigkeit war so verinnerlicht, dass es „schon auf der Zunge Grund“ lag, bevor es gesprochen wurde, es war zu schwach: „[im Knie noch Splitterholz]“. Fazit: Es geschehe nur sein Wille, nicht das, was geschehen soll.
Das Gedicht lehnt sich an die biblische Sprache an, am Schluss klingt das Vaterunser durch. Es ist ein Gebet, das sich aufhebt und zum Manifest der eigenen Mündigkeit wird.
Glaszeit.
malst mir Blässe ins Gesicht
und hochkant sitze ich dir Akt
mein Hals ist eigenwillig lang
verrückt der Rücken
bis zur Nackensteife
ein Kälteschweif
streicht über meine Brust
zieht mir das Weiche aus der Haut
Gebrechen mischt
sich ins Szenarium
Glas schlägt mir an die Stirn
der Rahmen ist die Welt
die mich umgibt
Glas fällt aus meiner Hand
auf glatten kalten Boden
die Füße ungelenk
im Wasserspiegel
verharre ich
zum Aquarell verwischt
entzieht sich
uns die Kunst der Stunde.
Im letzten Gedicht sieht sich das lyrische Ich wieder im Bild. Das lyrische Ich, das von einem Du gemalt (nur blass, also unzutreffend interpretiert, begriffen, verstanden, definiert) wird, wird hier gnadenlos verdinglicht: Es wird zu einem Bild, das später aufgehängt wird, und in diesem Bild erstarrt das gemalte Ich, ist darin gefangen – auch hier ist die Korrespondenz zum Biblischen denkbar: Du sollst dir kein Bildnis machen…! Schon beim Mal-Akt sind die Zwänge genannt: Das Ich muss stillsitzen in widernatürlicher Haltung („verrückt der Rücken bis zur Nackensteife“), in dieser gezwungenen Zuwendung an das Du wird der „Hals eigenwillig lang“, das deutet vielleicht die unterdrückte Gegenwehr an. In der zweiten Strophe wird das Ich abgeriegelt vom Du und der Welt: Das kalte Glas wird aufs Aquarellbild gelegt, ein gläserner Käfig entsteht, Seelenverhärtung ist die Folge („… zieht mir das Weiche aus der Haut“), das Denken wird behindert („Glas schlägt mir an die Stirn“).
Überraschend ist die Wendung in der vierten Strophe: Das verdinglichte Ich hält sein Bild selbst in der Hand – das ist ein toller Einfall! Dieses Ich durchschaut seine Situation und zerschlägt das Bild, das sich das Du von ihm machte, und befreit sich so. Es betrachtet sich schließlich selbst („im Wasserspiegel“) – aber es wird wieder zum Bild! Es verharrt, nun frei, vor diesem Bild und erkennt, das eigene Bild ist verwischt, wahre Selbsterkenntnis ist nicht möglich – dieser Gedanke wird im „wir“ verallgemeinert, im verwischten Bild „entzieht sich / uns die Kunst der Stunde“. Die Erkenntnis, dass Selbsterkenntnis mit keiner Kunst möglich ist, führt zur Angst im ersten Gedicht zurück: „…dass ich eines Tages / mich selbst nicht mehr deuten, / meine eigene Metaphorik nicht mehr entlarven kann“.
Es gibt nicht viele Gedichte von dieser zerebralen Schönheit im sinnlichen Gewand so genauer und wohl komponierter Metaphorik.
Ulrich Bergmann