KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Die Ordnung des Absurden - Lyrine. II. Lyrik (13)
Lyrine ist eine Lyrikerin von großer Begabung. Sie schreibt fast manisch Tag für Tag neue Gedichte, zunehmend auch Prosa. Die meisten ihrer Gedichte weisen Reim und Metrum auf, oft in Sonetten, aber es gibt auch immer wieder moderner geschriebene Gedichte, in denen sie ihre Welterfahrung und ihr eigenes Leben verarbeitet, teils allgemeingültig, teils auch sehr subjektiv, so dass es nicht leicht ist, ihr Ich von einem allgemeinen lyrischen Ich zu unterscheiden.
Lyrine ist eine Meisterin der leisen und hochgeladenen Metaphorik, es gibt immer wieder ganz neue Bilder. Ich glaube, in den Gedichten will sie das Bisschen Sinn unseres Lebens festhalten, ihm wenigstens eine Form geben. Nie gleitet sie ins Zynische, auch nicht dann, wenn sie klagt und elegische Ordnungen des Absurden erfindet, um es aushalten zu können.
Und halte den Schmerz!
Ich habe am Morgen ein Kindchen geboren.
Am Nachmittag hat es schon nicht mehr geschnauft.
Und kurz danach hab ich die Beine verloren.
Da hab ich mir tiefblaue Schuhe gekauft.
Ich habe dem Leben ein Häuschen errichtet
und in seinen Trümmern nach Zahngold gewühlt.
Dann habe ich mich einer Liebe verpflichtet,
die hatte ein Holzbein. Ich hab es gefühlt.
Ich sah meine Schiffe im Hafen versinken
und kroch über’s Wasser dem Sonnenschein zu.
Und irgendwer schlug in die Zunge mir Klinken.
Ich scheuche den Zorn, wenn ich denk: Ja, auch du.
Ich habe die Haut von der Stirne gezogen.
Der Wind war die Salbe. Er floh mit dem Schmerz.
Ich hab mich geschämt und gelacht und gelogen.
Und du liebst den Tiefsinn? Dann such ihn im Scherz!
Die vier mal vier Verse arbeiten mit Bildern tiefer Gegensätze, die den Sinn kaum verbergen. Das lyrische Ich ist eine Frau. In der ersten Strophe verliert sie ihr am Morgen geborenes Kind; vielleicht ist das Kind hier ein Gedanke, eine Idee, ein Ordnungsversuch, der schon bald nicht mehr taugt oder aufhört Sinn zu haben. – Gleich darauf verliert sie ihre Beine, sie kann nicht mehr gehen, ihre Lebensreise ist unmöglich geworden, und doch kauft sie sich tiefblaue Schuhe (eine Anspielung an Himmel und Meer, an ein anderes Laufen – nicht auf der Erde), weil sie leben will. Die Gründe für die Verluste werden nicht genannt, sie liegen wohl im Leben selbst.
Sie will heimisch werden in ihrem Leben auf dieser Erde. Aber das Haus geht in Trümmern, sie verliert jede materielle Sicherheit, in ihrer Armut sucht sie nach dem letzten Rest, der ihr bleibt (Zahngold). – Auch eine andere Heimat, in der Liebe, gelingt nicht. Sie heiratet einen Mann, dessen Nähe sie nie spürt. Er ist spröde wie Holz, unfähig zur Leidenschaft, ein seelischer Krüppel.
Ähnlich wie der Verlust der Beine ist das Versinken der Schiffe – ihrer Pläne für ein Leben weit weg von hier. Wenn die materiellen Grundlagen fehlen, sind auch die ideellen Entfaltungsmöglichkeiten reduziert, und so kriecht sie übers Wasser zur Sonne: Das ist ein unüberbrückbarer Gegensatz, ein Oxymoron: Immer absurder, sinnentleerter wird das Leben, immer geistiger, verinnerlichter, virtueller. Es fehlen die konkreten, äußeren Entsprechungen. – Wieder trifft sie einen Menschen, der will sie verstehen, der will ihr mit Klinken den Mund öffnen wie eine Tür, aber sie ist unrettbar skeptisch: Auch du wirst mich verraten, verletzen. Den Zorn darüber vertreibt sie in Gedanken, bevor er wahr wird – aber das ist so widersinnig wie vergebens.
In der letzten Strophe zieht sie sich die Haut von der Stirn – sie gibt ihr Denken und Fühlen vollkommen nackt dem Wind hin, sie will Antwort, will aufgehen in einem Sinnganzen, jenseits der Menschen, die sie enttäuschten. Der Wind ist ihre Salbe, aber es bleibt eine Wunde, die immer schmerzt, eine Wunde der Erkenntnis, dass es keinen Sinn gibt im Leben. Das lyrische Ich schämt sich seiner Lügen in der Konstruktion von Sinn, es lacht sich aus, es lacht aus Verzweiflung und ruft sich – wie dir, dem Leser – zu: Es gibt keinen tieferen Sinn, es sei denn, du kannst dein Leben begreifen als eine schmerzenden Laune der sinnlosen Natur, des sinnlosen Zufalls.
Diesen Schmerz der Erkenntnis will sie festhalten.
Gibt es denn wenigstens im Dichten noch einen Sinn?, fragt sich Lyrine. Nein und Ja.
Ja: Ich schreibe mein Herz in Worten auf und schieße es wie ein zerknülltes Papier als Kugel in die Welt. Ungesagt bleibt die Wirkung: Wen trifft es, wer öffnet das Herz? Ja: Ich erbreche mein Leid (Knebelsterne) in Worten, ich bleibe nicht stumm – aber das ist schon alles. Punkt. Ich habe nichts davon.
Nein: Mein Dichten war nur das Rotzen – und jetzt wisch ich mir mein verrotztes Gesicht an der Realität ab, an der Hauswand einer nur vorgestellten Heimat, die mich nicht birgt. Nein: Ich komme nicht hinein in eine Welt, die mich wärmt. Ich bleibe draußen.
Punkt
Also machst du ein Gedicht.
Du schreibst: Ich knülle mein Herz
in die Realität. Und: Ich kotze mir die Knebelsterne
aus dem Mund.
Ja. Punkt.
Und dann ziehst du dein Gesicht
an der Hauswand entlang.
Draußen.
Ulrich Bergmann
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
Das Einfühlen ist ein Vermögen, das du besitzt und das dir niemand streitig machen kann. Aber - wem sage ich das: Einem, der auszog KV zu retten!?!?! .
Der Schmerz ist der Dieb! Er floh mit der Liebe indem er blieb … ein Frau hatte keine Fehlgeburt … das Kind war schneller erwachsen als die Frau realisieren konnte und entband sie ihrer Aufgabe. Für dieses Kind hat sie ein Heim geschaffen, das aus ihrer Sicht eigentlich "kariös" war und dann kam eine neue Liebe … vielleicht hat sie sich gerade deswegen verliebt, weil sie wusste, dass diese Liebe hinkt und zum scheitern verurteilt ist. Sie war ebenso nicht mit beiden Beinen auf der Erde sondern in Wolkenkuckucksheim ....
Ihre scheinbar heile Welt ging unter und sie kroch wie in einer Wüste … dort findet das Wort den Schreiber oder umgekehrt, öffnet Türen und baut Brücken … über die Abgründe der Realität!
Am Ende steht die Scham mit einer Blöße, die schlimmer als alle Nacktheit ist … die Poesie schreibt sich auf ein Feigenblatt…
Vielleicht ist darauf ein Witz geschrieben oder ein Punkt, ein Kreis, ein Loch …gebrannt!
Für mich ist Bettina eine begnadete Poetin - Danke Uli!
(15.04.07)
alles Interpretieren ist letztlich Unterstellung, selbst Fiktion, Metaphysik. Es gibt allenfalls subkektiv für wahr gehaltene Realität (ein metaphysischer Akt), vielleicht auch noch intersubjektiv geglaubte.
Panta rhei!
Schreiben als Luststeigerung oder Lastminderung - bei mir überwiegt die Lust. Es gibt allerdings auch Texte, die wollen geschrieben sein, und ich fühle mich dann wohler, wenn sie geschrieben sind. Solche Texte helfen mir beim Formulieren, also in der Entstehung, Erkenntnisse zu gewinnen. Interessanterweise gelingt das auch, wenn ich einfach nur mit der Sprache spiele - und am das Spiel (mal mehr mal weniger) auf mich beziehe.
Ich misstraue aber der Sprache und halte nicht allzuviel von meinen literarisch gewonnenen Erkenntnissen, als Schreiber oder Leser. Mir scheint, als sei alles Schreiben immer wieder nur selbstbezüglich, Literatur schreibt über sich, nicht so sehr über das Leben. Im sprachlichen Text entsteht Welt durch Sprache und bleibt sprachliche Welt. Ich will die psychischen Wirkungen solcher Erschaffungen auf mich und mein Leben nicht abstreiten. Sie sind gering. Ja, ich bin ein Gefangener meiner ästhetischen Sinne. Ich suche gar nicht Wahrheit über mir, ich will Schönheit, also Wahrheit in mir.
Das ist meine Religion: Das sprachliche Kunstwerk. Ich empfinde Lust in der geistigen Konzentration der lebendigen Welt in Worten, Bildern, Tönen.
Und ich genieße die Minuten, in denen ich eine kulinarische Bockwurst mit Senf Bauzen esse! Ich liebe das Zusammensein mit Menschen: Das Gespräch mit ihnen. Ich liebe mich selbst, mein Alleinsein. Und ich liebe die Lieb. Ich liebe es, geliebt zu werden. Ich liebe es, zu lieben. Was fehlt noch? Ja, ich liebe die Arbeit, die gesellschaftliche, also meinen Beruf! Ich liebe die Zeit, die bleibt auf Erden.
Ich bin ein Hedonist.