Ringelsocken

Kurzprosa zum Thema Selbstbild/Selbstbetrachtung

von  Citronella

 

Diesmal wurde Marianne im Fachärztezentrum nicht von der netten Ärztin vom letzten Mal aufgerufen, sondern von einem sympathischen jungen Mann. Beim Eintreten in das Behandlungszimmer versuchte sie, seinen Namen am Türschild abzulesen, was jedoch aufgrund ihres eingeschränkten Sehvermögens nach den vorausgegangenen Untersuchungen nicht ganz gelang. Aber den „Dr.“ vor seinem Namen konnte sie eindeutig erkennen.

Es gab keine Einwände gegen diesen jungen Arzt. Er erklärte ihr in aller Ruhe, was die Untersuchung ergeben hatte und wie es weitergehen würde. Fachlich wirkte er nicht weniger kompetent als die ältere Kollegin. Viel Neues war für sie nicht mehr dabei, aber er konnte ja nicht wissen, dass die Kollegin beim Ersttermin bereits weit vorgegriffen hatte. Er tackerte die Ergebnisse, die gleichzeitig als e-mail an den überweisenden Arzt gehen sollten mit erstaunlicher Geschwindigkeit in das System. Ob sie noch Fragen habe? Ja, doch, das eine oder andere fiel ihr noch ein, denn das ganze Thema war sehr komplex und für sie absolut neu. Während sie ihm gegenüber saß und er ihr zuhörte, bemerkte sie seine auffällig bunten Ringelsocken. Sie sahen selbstgestrickt aus, von Mutter oder Freundin wahrscheinlich, dachte sie. Unkonventionell im Kontrast zu seiner sonst sehr akkuraten Kleidung, das gefiel ihr.

Später zu Hause versuchte sie sofort, Näheres über diesen jungen Arzt herauszufinden. Auf der Website des Ärztezentrums gab es einen kurzen Lebenslauf, ohne Geburtsjahr, aber mit der Angabe der Studienjahre von ... bis ...  Sie rechnete. Er konnte noch keine 30 sein.

Und dann rechnete sie ein zweites Mal und erschrak: Dieser junge Mann könnte altersmäßig durchaus schon ihr Enkel sein. Bisher hatte sie bei Ärzten in den letzten Jahren manchmal gedacht: Der könnte ja glatt mein Sohn sein. Mittlerweile war sie einen von ihr gänzlich unbemerkt gebliebenen Schritt weiter.

Vielleicht hatte sogar seine Oma die Socken gestrickt.



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Kommentare zu diesem Text


 AlmÖhi (03.07.25, 17:29)
Na, dann ab an die Stricknadeln, Marianne!

In meinem Leben habe ich immer wieder gewisse Ausdrücke geprägt, die dann eine minimalregionale Verbreitung fanden. In der dritten Klasse habe ich mich im Umkleideraum über die bekloppten Socken lustig gemacht, die unsere Mütter uns kauften. Ich meinte, daß die "Ringelsöckchenpower" uns im Sportunterricht bestimmt helfen werde. Zu meiner Überraschung habe ich diesen Ausdruck noch später an der Grundschule gehört.

 Citronella meinte dazu am 03.07.25 um 18:08:
Da warst du also schon in der Grundschule kreativ – früh übt sich ...  :silly:

Auf diesen jungen Arzt könnte wohl jede Oma stolz sein, mit oder ohne Stricknadeln.  :)
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