KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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ÜBER NIETZSCHE
»…alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!«
Ich habe jetzt endlich das Ende von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ gelesen. So merkwürdig wie schon das ganze Buch war, so merkwürdig ist schließlich auch der Schluss.
Aber irgendwie denke ich, dass ich diesem noch näher stehe als anderen Teilen des Buches, oder besser: Der ‚philosophischen Ideensammlung’.
Wo ich Schwierigkeiten mit seiner Idee des Übermenschen hatte (da ich finde, dass dies ein sehr elitäres Denken ist), kann ich doch trotzdem den zentralen Gedanken in den Passagen 10 und 11 gut nachvollziehen: „Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Das ist sehr lebensbejahend, so zu empfinden.
Ewigkeit zu wollen - egal ob sich in ihr auch Schmerz mit Lust verbindet - bedeutet, das Leben so sehr zu lieben, so viele Möglichkeiten des Lernens und Erfahrens darin zu sehen, dass man selbst im Schmerz eine wichtige Erfahrung sieht. Diese Erkenntnis macht Zarathustra - um Mitternacht, der Stunde des Umbruchs.
Gleichzeitig ist dies der Mittag, die Tageszeit, wo die Sonne am höchsten steht, so wie seine Erkenntnis.
Weiter noch glaube ich ihm (oder besser: stimme mit ihm überein, denn wir sollen uns ja nicht von einem Propheten leiten lassen, sondern selbst erkennen): „Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt - …“
Alles ist mit allem verbunden, Schmerz mit Lust, Nacht mit Sonne, Weisheit mit Narretei. Man erlebt niemals nur Lust in seinem Leben, denn ohne das Gegenteil, den Schmerz, würden wir sie gar nicht erkennen. Und auch der Schmerz bringt uns weiter, lehrt uns etwas und verbindet sich so letztendlich wieder mit Lust.
So müssen wir auch den Schmerz wollen, wenn wir Ewigkeit wünschen, um der Erkenntnis willen. Einen Kreislauf beschreibt Nietzsche da - wie schon sein ganzes Buch: Lust und Schmerz in Abwechslung verbinden sich zu Erkenntnissen, Erfahrungen, die uns weiterkommen lassen. Ich denke auch, dass der Mensch viel zu lernen hat, einen weiten Weg zu gehen, bis er aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit aufsteigen kann, wie Kant es formulierte.
Aber sollten wir nicht hoffen, dass alle Menschen dies lernen können, und nicht, wie Nietzsche dies nur einer kleinen, elitären Gruppe zugestehen?
Ich denke, dass wir heute so weit sind, den Staat als eine Ansammlung von Individuen zu begreifen, die alle nach persönlichem Glück streben.
Natürlich war und ist Nietzsches Philosophie nie eine der Masse gewesen, denn es geht ja zentral um Selbsterkenntnis und Ablösung von oktroyierten Werten.
Trotzdem denke ich, dass wir heute eine Philosophie brauchen, die uns das Leben in der Gesellschaft, in einem Staat, ermöglicht. Nietzsche aber fordert Selbsterkenntnis und Auflösung der Werte in einem Maße, das aus uns allen Eremiten oder Wanderer zu machen scheint - zumindest was manche seiner Ideen anbelangt. Mit der Idee der lebensbejahenden Ewigkeit verhält es sich meiner Meinung nach aber anders: Sie ist von ihrer Natur aus persönlich und für jeden begreifbar.
In einer Gesellschaft wie der unseren, wo uns Glück durch Konsum vorgegaukelt wird, ist die Erkenntnis wichtig, dass wir uns auf das Schöne (Wahre) konzentrieren können. Natürlich wollen wir Ewigkeit, doch wenn wir nicht begreifen, dass Lust ohne Schmerz nicht möglich ist, so leben wir leere Scheinleben in einer Wirklichkeit, die nur aus Traum und Hollywood besteht.
Dieselbe Erkenntnis macht Nietzsches Zarathustra trunken - fragen lässt sie ihn, was er nun für die höheren Menschen sei, die dieser Erkenntnis nahe stehen oder sie schon gemacht haben. Zarathustra kann sich nicht mehr einordnen, er empfindet sich als ein bisschen von allem und als nichts komplett.
Auch dieses sind Gedanken, die unsere heutige Gesellschaft dringend brauchen kann. Oft werden wir in Kategorien gesteckt, nummeriert, katalogisiert und Funktionen untergeordnet, die der Gesellschaft nützlich sind.
Was wir aber brauchen, ist mehr Freiheit, mehr Möglichkeit, alles und nichts zugleich zu sein, uns selbst zu entwickeln.
So sind die zwei Passagen 10 und 11 aus dem „Trunkenen Lied“ auch ein Plädoyer für die Erkenntnis des zutiefst dialektischen Charakters der Welt - alles ist mit allem verbunden, und so wenig wir uns nur auf die angenehmen Dinge des Lebens konzentrieren können, so wenig können wir das komplizierte menschliche Wesen in eine einzige Kategorie stauchen. Das würde zu Stagnation, Unzufriedenheit und Aggression führen.
Gerade wir Jugendlichen wissen heute oft nicht, was wir wollen, wohin wir gehen. Eine Spaßgesellschaft seien wir, wird uns vorgeworfen. Aber ist es nicht natürlich, dass wir, die wir den Glauben an den Himmel verloren haben, auf Erden das Paradies suchen? Wieder aber mit demselben Fehler, alles Hässliche, alle Schmerzen auszublenden.
Was uns Nietzsche geben kann, ist ein Glaube an uns selbst, die Fähigkeit, uns zu entwickeln und über uns selbst hinauszuwachsen. Als eine solche Idee bin ich bereit den Übermenschen zu akzeptieren. Wir müssen lernen, das was man uns beibringt nicht als wahr hinzunehmen, sondern zu hinterfragen und, wenn möglich, für uns selbst als wahr zu erkennen. Auch dies lehrte uns Zarathustra.
Nietzsche spricht in seinem Buch für die Mündigkeit, die Selbsterkenntnis und die Lebensliebe, die jeder Mensch für sich selbst erlernen muss.
Wenn sich also in Kapitel 11 die Lust nach den höheren Menschen - also jenen, die sich selbst erkennen - und nach ihrem Weh sehnt, so dürstet sie eigentlich nach der schmerzlichen Tiefe des Begreifens der Menschen. Diese Metapher, die die Lust personifiziert, dreht die Verhältnisse um: Die Lust sehnt sich nach dem, was der Mensch begehren sollte.
Auch dies spiegelt den immer dualistischen, lyrisch-spielerischen Charakter von Nietzsches Philosophieren wider. Denn es ist eine schöne Erkenntnis, die Nietzsche uns im „Trunkenen Lied“ vermitteln will: Lebe so, dass du in jedem Augenblick für immer leben willst, egal ob es Schmerz oder Lust ist, die du gerade empfindest, denn das eine folgt immer auf das andere, im ewigen Kreislauf.
Wir können immer lernen, von Erkenntnis zu Erkenntnis mehr und mehr. Wir können uns immer verbessern und in unserem eigenen Lebenskreislauf dem Morgen der dämmernden Erkenntnis den Mittag der Erfahrung und schließlich den Abend der Erschaffung und die Mitternacht der Neuschöpfung (und Selbsterschaffung) folgen lassen.
Das, denke ich, will uns Nietzsche durch Zarathustra nahe bringen, und wir können es, wenn wir wollen, in seinem Buch erkennen. Denn was uns schließlich bleibt, wenn Hollywood uns keine Märchen-Leben mehr propagiert, sind nur wir selbst und das, was wir wirklich gelernt haben. So ist Zarathustra für den Erkennenden vielleicht wirklich ein Duft und Dunst der Ewigkeit - ein Gedanke, der uns führt, uns selbst zu einer Ewigkeit zu verhelfen.
Eine Ewigkeit, die wir in jedem Augenblick empfinden und nach der wir uns für immer sehnen können.
Elisabeth B.
Grundkurs Deutsch 13,1 (Bergmann) - Klausur vom 29.11.2007
Aufgabe: Schreibe die längere Tagebuchnotiz eines Lesers von heute, der Nr. 10 und 11 des Abschnitts „Das trunkene Lied“ mit konkretem Bezug zu Problemen unserer Zeit interpretiert und Nietzsches Philosophie, wie sie im „Zarathustra“ vorliegt, erörtert.
10
Ihr höheren Menschen, was dünket euch? Bin ich ein Wahrsager? Ein Träumender? Trunkener? Ein Traumdeuter? Eine Mitternachts-Glocke?
Ein Tropfen Thau's? Ein Dunst und Duft der Ewigkeit? Hört ihr's nicht? Riecht ihr's nicht? Eben ward meine Welt vollkommen, Mitternacht ist auch Mittag, -
Schmerz ist auch eine Lust, Fluch ist auch ein Segen, Nacht ist auch eine Sonne, - geht davon oder ihr lernt: ein Weiser ist auch ein Narr.
Sagtet ihr jemals ja zu Einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt, -
wolltet ihr jemals Ein Mal Zwei Mal, spracht ihr jemals »du gefällst mir, Glück! Husch! Augenblick!« so wolltet ihr Alles zurück!
Alles von neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, verliebt, oh so liebtet ihr die Welt, -
ihr Ewigen, liebt sie ewig und allezeit: und auch zum Weh sprecht ihr: vergeh, aber komm zurück! Denn alle Lust will - Ewigkeit!
11
Alle Lust will aller Dinge Ewigkeit, will Honig, will Hefe, will trunkene Mitternacht, will Gräber, will Gräber-Thränen-Trost, will vergüldetes Abendroth -
was will nicht Lust! sie ist durstiger, herzlicher, hungriger, schrecklicher, heimlicher als alles Weh, sie will sich, sie beisst in sich, des Ringes Wille ringt in ihr, -
sie will Liebe, sie will Hass, sie ist überreich, schenkt, wirft weg, bettelt, dass Einer sie nimmt, dankt dem Nehmenden, sie möchte gern gehasst sein, -
so reich ist Lust, dass sie nach Wehe durstet, nach Hölle, nach Hass, nach Schmach, nach dem Krüppel, nach Welt, - denn diese Welt, oh ihr kennt sie ja!
Ihr höheren Menschen, nach euch sehnt sie sich, die Lust, die unbändige, selige, - nach eurem Weh, ihr Missrathenen! Nach Missrathenem sehnt sich alle ewige Lust.
Denn alle Lust will sich selber, drum will sie auch Herzeleid! Oh Glück, oh Schmerz! Oh brich, Herz! Ihr höheren Menschen, lernt es doch, Lust will Ewigkeit,
Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!
12
Lerntet ihr nun mein Lied? Erriethet ihr, was es will? Wohlan! Wohlauf! Ihr höheren Menschen, so singt mir nun meinen Rundgesang!
Singt mir nun selber das Lied, dess Name ist »Noch ein Mal«, dess Sinn ist »in alle
Ewigkeit!«, singt, ihr höheren Menschen, Zarathustra's Rundgesang!
Oh Mensch! Gieb Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
»Ich schlief, ich schlief -,
»Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
»Die Welt ist tief,
»Und tiefer als der Tag gedacht.
»Tief ist ihr Weh -,
»Lust - tiefer noch als Herzeleid:
»Weh spricht: Vergeh!
»Doch alle Lust will Ewigkeit
»will tiefe, tiefe Ewigkeit!«