KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 26. Februar 2008, 18:01
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"Machen Sie erst einmal Abitur, bevor Sie mit mir über Politik reden!" Der Satz Eriksons traf ihn, weil er sein Scheitern in einer nicht nur formalen Sache offenbarte. Wer bin ich? Bedeute ich nur in meiner Innenwelt etwas? Janus wusste viel, er war schnell im Lernen, aber faul, er lernte nur, was ihn interessierte. Er konnte sich auch in der wildesten Verzettelung immer wieder finden, selbst wenn die Analyse der Welt in tausend mal tausend Stücke zerfiel. Er konnte verloren geglaubte Fäden wieder aufnehmen und entwirren, wenn er das Netz seiner Verständigung mit der Geistwelt knüpfte. In der Beschäftigung mit der Poesie fühlte er sich allen überlegen, den Professoren und ihren wissenschaftlichen Analysen, die er in den Buchhandlungen gelangweilt überflog. Er fühlte sich eins mit Thomas Mann, der es ohne Abitur zu unsterblichem Ruhm gebracht hatte. Janus las diesen Schriftsteller, der ihm als Philosoph und Dichter, als Wissenschaftler des Schönen und Künstler des in Sprache umgesetzten Lebens galt, wie einer, der sich mit dem Erzähler Auge in Auge unterhielt. Jedes Buch ein Gipfeltreffen.
Rexer, der Streber, saß in der Unterprima vor ihm und las, während er sich meldete, Bölls letzten Roman auf den Knien, blickte auf, wenn er dran kam, und sein Beitrag fügte sich glatt ins Unterrichtsgespräch. Janus fragte sich, ob Rexer die gerade gelesenen Sätze wiedergab, nur angepasst an das Thema der Stunde. Er bewunderte Rexer wegen seiner Geistesgegenwart, aber vor lauter Neid lehnte er ihn ab wie die meisten in der Klasse, vielleicht aus Angst, ihm zu unterliegen. Ptok dagegen, der viel intelligenter war als Rexer, schätzte er in seiner skurrilen Art zu denken und zu reden. Ptok war zwei Jahre älter und besaß den Charme des lässigen Verkünders. Als er eines Tages, und zwar nach der sechsten Stunde, ein Grammophon in die Klasse mitbrachte, brach für Janus ein neues Zeitalter seiner Bildung an. Die Art, wie Ptok das 5. Brandenburgische Konzert auflegte, empfanden alle, die dabei waren, als konzertante Selbstaufführung. Beim Beginn der Kadenz im ersten Satz hob Ptok den Arm und sagte zu den Auserwählten: "Die längste Kadenz aller Konzerte vor oder nach Bach!", und tatsächlich wollte das Cembalo mit den immer wieder fallenden und steigenden und wieder fallenden Tonreihen nicht enden. Ein anderes Mal brachte er von Bach, den er so sehr liebte und selber am Klavier spielte, die Inventionen und Klavierpartiten mit: "Ohne Pedal! Immer ohne Pedal!", und Armbruster, der Musiklehrer, ein Verehrer Händels (wir begriffen das nicht; Bach - ja, Beethoven, Rachmaninow, Strawinsky - klar, aber Händel?), er ließ Ptok gewähren, und so ging oft die ganze Musikstunde herum, indem die Klasse über Nutzen und Notwendigkeit historischen Musizierens, über Leonhardt und Harnoncourt oder die Goldbergvariationen diskutierte, die Glenn Gould mal so unglaublich schnell, mal so überzeugend langsam spielte, dass Janus nicht wusste, sollte er Bach lieben oder Glenn Gould. Ptok ließ in der Aussprache des Namens immer das l weg, und wenn er davon sprach, dass Gould während seines Spiels am Klavier zu singen pflegte, sprach er das g guttural: sin-gen… Bach und das Klavier - das war so eine Sache: Das bisher obligate Cembalo wurde in den Schatten gestellt, und darüber war viel Aufhebens in den bürgerlichen Familien, wo alte Bildung noch etwas galt. Jacques Loussier und die Swingle Singers… und ob Jazz überhaupt ernst zu nehmende, also primäre Musik sei… das waren die bewegenden Fragen der herrschenden Klasse. Immer wieder provozierte Ptok. In der Redaktion der Schülerzeitung forderte er die radikale Kleinschreibung, konnte sich aber nicht vollkommen durchsetzen. Und dann brachte Ptok eine Schallplatte in die Deutschstunde mit, Lyrik und Jazz: Gert Westphal las Benn. Die Folge war eine Monate lang anhaltende Welle der Bennbegeisterung unter den Auserwählten der Klasse. Es gelang, Nöllendorf, bei dem sie Deutsch, Geschichte und Latein hatten, zur Behandlung eines Benngedichts zu überreden. Er wählte nicht Morgue, nicht Fragmente oder D-Zug, nicht das, was sie bewegte, sondern Nur zwei Dinge. Nö verurteilte Benns Schnodderton, den Janus und die Intellektuellen in der Klasse so liebten, die Max Frischs Romane lasen, Die Blechtrommel und Nietzsches Zarathustra, und provozierte Janus mit kritischen Bemerkungen über Thomas Mann. Nö lehnte Thomas Mann nicht völlig ab, so weit ging er nicht, aber er warnte vor der gefährlichen Vergeistigung des Lebens in den Romanen, vor allem im Zauberberg. Solche Bemerkungen trieben Janus in die weit geöffneten Arme dieser Romane.
Die Erwachsenen mochten den großen Erzähler nicht, der ihnen in der Aufbauzeit nach dem Krieg nicht konstruktiv genug war. Robert sah in Thomas Mann einen Vaterlandsverächter, der Deutschland im Stich ließ und von Amerika aus im Radio angriff. "Der kleine Herr Friedemann ist eine niederträchtige Erzählung", meinte er, "da wird das Leben in den Dreck gezogen." Janus spürte, dass es in dieser Erzählung um ästhetische Kategorien ging, nicht um die Moral seines Vaters, sondern um die Wirklichkeit des Lebens. Die Eltern trieben ihn in ihr schiefes Leben hinein, in ein Pflichtleben, das nicht sein Leben war. Sie verschleierten die Wirklichkeit mit ihren verlogenen Ansprüchen an die Welt, und sie verschwiegen viel von dem, was sie selbst erlebt hatten. Vieles wussten sie auch nicht, aber das erkannte Janus erst später. Die meisten liefen durch das Nachkriegsleben mit ideologischen Balken vor der Stirn.
An einem der vielen Fernseh-Abende sah Janus zusammen mit Robert Die Physiker und taumelte vor Staunen über die dramatischen Einfälle und die Schauspielkunst der Therese Giese, die das Böse so gut traf, dass er es glaubte. Robert hielt das Stück für Gedankengift. "Dürrenmatt ist ein Kommunist", sagte er. Janus widersprach, obwohl er zu dieser Zeit, integriert ins Eis der herrschenden Ideologie, noch ganz auf der politischen Linie seines Elternhauses lag. "Jedenfalls hilft er den Kommunisten, so ein Stück verwirrt nur", sagte Robert. - Janus aber schrieb seine Facharbeit über Doktor Faustus und fand darin so viel Leben, dass ihm schwarz wurde vor seiner Stirn, dass er das alles noch erleben sollte.

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