KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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THOMAS MANNS FAUST
139. Kolumne
Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas
1. Thomas Mann - Porträt
Thomas Mann sagte einmal, „daß der Schriftsteller ein Mann ist, dem das Schreiben schwerer fällt als anderen Leuten“, was er bestimmt selbstironisch meinte; ein Schriftsteller war er, der mit dem Vorsatz „einen kleinen Roman“ zu schreiben an sein Werk ging, schließlich einen Wälzer von über 500 eng bedruckten Seiten schrieb und feststellte, „nichts Geringeres als den Roman seiner Epoche“ geschaffen zu haben - das alles trotz der Frage, die er sich bei seiner verzweifelten Suche um die angemessene Form eines modernen Faust-Romans stellte:
„Warum muß es mir vorkommen, als ob fast alle, nein, alle Mittel und Konvenienzen der Kunst heute nur noch zur Parodie taugten?“ (1)
Der 1875 (ein Jahr vor Konrad Adenauer) in Lübeck geborene Schriftsteller erreichte mit den Eigenschaften des typisch-faulen Schülers nur die Sekunda und begann seine schriftstellerische Karriere fast unter dem Vorzeichen einer verkrachten Existenz. Der manchmal schwermütige, mit 20 Jahren nach der Lektüre von Schopenhauer und Nietzsche zu Selbstmordgedanken neigende spätere Simplizissimus-Redakteur schrieb allerdings schon drei Jahre später den zur Weltliteratur zählenden Roman „Die Buddenbrooks“, der ihm 1929 den Nobelpreis einbrachte. Der Dichter dankte dem schwedischen König mit den Worten:
„Ich lege die mir erwiesene Ehrung vor die Füße meines Volkes, dem sie eine Genugtuung sein wird, weil dieses Volk nicht immer richtig und nicht immer voll verstanden worden ist.“
1933 war er wegen seiner Anschauungen vom nationalsozialistischen Reich zur Emigration in die USA gezwungen worden, um das „deutsche Wort in aller Freiheit führen“ zu können. Als ihn die Universität Bonn Weihnachten 1936 von der Ehrendoktorliste strich, antwortete er in einem offenen Brief:
„Der einfache Gedanke daran, wer die Menschen sind, denen die erbärmlich-äußerliche Zufallsmacht gegeben ist, mir mein Deutschtum abzusprechen, reicht hin, diesen Akt in seiner ganzen Lächerlichkeit erscheinen zu lassen. Das Reich, Deutschland soll ich beschimpft haben, indem ich mich gegen s i e bekannte! Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden!“
Acht Jahre später bestätigte sich der letzte Satz. Damals schrieb der bereits 70-Jährige den düsteren, unheimlichen Künstlerroman um eine Figur, gemischt aus Musik und Philosophie, Satanismus und Krankheit, die zum Symbol eines kranken, untergehenden, satanischen Deutschlands gemacht ist - ein episches Werk als Selbstporträt und Porträt seines Volkes. In der Emigrantenzeit vertrat Thomas Mann sein Deutschtum. Mag auch mancher seine politische Haltung kritisieren, als er nach Kriegsschluß noch weiterhin in Amerika blieb, so sagte Thomas Mann in seinem politischen Vermächtnis zum 150. Todestage Schillers in beiden Teilen des feindlich zerrissenen Deutschlands:
„Entgegen politischer Unnatur fühle das zweigeteilte Deutschland sich eins in seinem Namen!“
Thomas Mann, der im Dichter einen Abtrünnigen mit schlechtem Gewissen, einen Falschmünzer, der den Pakt mit dem Teufel abschloß, gesehen hat, ist bestimmt der größte moderne deutsche Schriftsteller; jedenfalls gilt er dafür im Ausland. Seine meisterhafte Epik bedient sich aller Stilmittel, besonders die Parodie hat es Thomas Mann angetan, sein Hang zum Ironischen, verbunden mit dem Humanistischen, läßt sich klar erkennen. In seinem Roman „Doktor Faustus“ sieht man neben den vielen antiken Begriffen, neuzeitlichen Fremdwörtern ebenso viele alte deutsche Wörter; seinen Stil vermag er an Luther, an Goethe, an die deutschen Mystiker, an den Verwaltungsbeamten oder Juristen, den Volksmund und Straßenjargon anzupassen. Seine ciceronischen Satzkonstruktionen, immerhin meist parataktisch, zwingen den Leser zum Nachvollzug der Syntax und somit zu sinnvollem Genuß an der Sprache, die keineswegs konstruiert wirkt. Allerdings meinte ein Kritiker, daß Thomas Manns Satzkonstruktionen „sich wie kluge Schlangen durch alle Fachsprachen winden - gravitätisch wie ein sekttrunkener Falstaff, der in Schling- und Wackeltänzen über ganze Buchseiten hüpft.“
2. Eingliederung und Definition des Dämonischen
Ich will den Begriff des Dämonischen speziell im „Doktor Faustus“ beleuchten. Dämonen (griech.: Verteiler des Schicksals) sind erklärliche, überpersönlich gedachte Mächte zum Bösen wie zum Guten; zum Beispiel glaubte Homer die Götter als Dämonen, Hesoid die Dämonen als Wesen zwischen Mensch und Gott, während die Anthropologie Dämonismus als unbewußte, außergewöhnlich Kraft im Menschen sieht, die ihn zu höchsten Leistungen antreibt oder Macht über andere Menschen verleihen kann.
Martin Luther sah in den Dämonen das Böse schlechthin; seine Theologie ist ohne seinen Glauben an die Realität des Satans nicht denkbar - Luthers „Teufelsglaube“ spielt im „Dr. Faustus“ eine große Rolle.
Gekonnt benutzt Thomas Mann die mittelalterliche Atmosphäre für die Darstellung des Dämonischen in seinem Roman, der sich vieler damaliger Stilmittel zur Charakterisierung dieser Geschichtsepoche bedient. Er scheut sich nicht, selbst eine so ehrwürdige wie tiefreligiöse Persönlichkeit wie Luther zu parodieren, obwohl sich bestimmt nicht abstreiten läßt, daß dieser gerade wegen seiner „Spontaneität, Derbheit, gesunden Aufgeräumtheit“ sozusagen „ohn all Bemäntelung und Gleisnerei“ so fabelhaft für eine Parodie eignet. So schildert er den Theologieprofessor Kumpf in der Tintenfassszene - nur daß es nun eine Semmel ist, die Kumpf in den „finstern Winkel“ schleudert. Überhaupt scheint das Düstre, Finstre für das Dämonische charakteristisch zu sein - das muß als psychologische Tatsache gewertet werden. Auf diese einzelnen Charakteristika werde ich genau eingehen.
Goethe schreibt in seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“, daß schon das Kind, der Knabe und Jüngling sich dem Übersinnlichen zu nähern versucht; nun stellt sich dem aber ‚etwas’ entgegen:
„Er glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten ‚etwas’ zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter kein Wort gefaßt werden könnte. Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig; nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand; nicht teuflisch, denn es war wohltätig. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge; es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dieselbe durchdringbar; es schien mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen.“ (2)
Weiterhin führt Goethe aus, daß jene mit dem Dämonischen verbundenen Menschen die Befähigung eines unbegrenzten Zutrauens zu sich selbst hätten und die Gabe, alle Menschen an sich zu ziehen. Er nennt das „attrativa“. Der Dichter bleibt hier eindeutig auf dem Boden der Realitäten, indem er sich mit der Frage nach der Herkunft des Dämonischen, übrigens
in Anlehnung an die moderne Theologie des Protestantismus, gar nicht erst beschäftigt. Weil wahrscheinlich diese Frage ebenso vermessen ist wie jene, die mit ihr zusammenhängt: der Frage nach der Wahrheit. Goethe äußert sich in empirischer Weise und faßt zusammen. Eine Namensgebung außer dem vagen Begriff ‚etwas’ scheint ihm unmöglich. Die vielfach vertretene Anschauung, das Dämonische erfahre seine Herkunft von Gott, wird von ihm abgetan, denn es ist „unvernünftig“, wobei er sofort ergänzt, daß das Dämonische nicht dem Menschen entspringe - wie sollte es auch, da doch dem von einem undämonischen Gott erschaffenen Menschen nicht die Befähigung, der Herd des Dämons zu sein, zugesprochen werden kann. Goethe sieht somit, damit geht er mit Luther nicht konform, drei Mächte dem Menschen gegenübergestellt, widerspricht also dem ‚Teufelsglauben’, wenn er die Unterscheidung zwischen Dämon und Teufel macht, indem er den zwei von Luther anerkannten übermenschlichen Mächten, nämlich Teufel = Dämon, und Gott folgende drei gegenüberstellt: Gott, den Teufel und das Dämonische; was anschaulich auch im „Faust“ verkörpert wird.
Bei Thomas Mann steht die Sache insofern etwas anders, als er im „Doktor Faustus“, der sich in den Grundzügen an das Faustschema vom „Volksbuch des Doctor Faustus“ anschließt, einen zweiten Professor auftreten läßt, der sich an die Untersuchung der Teufelsherkunft und Deutung heranwagt. Dabei lehnt er sich an Luthers verallgemeinernde Vorstellung von der ‚teuflischen Dreieinigkeit’ an: das Böse, der Teufel, das Dämonische; wobei das Böse das Prinzip des Teufels und Dämons ist, der Teufel die unfaßbare Verkörperung dieses Prinzips, und der Dämon das Exekutivorgan des Teufelsprinzips. In diesem Sinne muß Thomas Mann gedeutet werden, wenn wir seine von Professor Schleppfuß dargelegte Theologie vom Bösen verstehen wollen. (3)
Grundvoraussetzung für den die Idee Thomas Manns personifizierenden Professor ist die Tatsache der Gottesexistenz. Alle Gottesbeweise hinken, auch wenn sie naturwissenschaftlich oder mathematisch daherkommen, wie zum Beispiel der Beweis des Mathematikers Euler, welcher Diderot am russischen Hofe sehr in Verlegenheit brachte, als er ihm die mathematische Gleichung vorlegte:
Man erhält eine Zahl x, wenn man eine gewisse Anzahl gleicher Zahlen b miteinander multipliziert, das Ergebnis zu einer Zahl addiert und das Ganze durch die Zahl b dividiert: Donc Dieu existe! Also existiert Gott. (4)
Thomas Mann setzt Gott nur aus Gründen humanistischen Christentums als gegeben voraus. Er stützt sich dabei ironisch auf den onthologischen Gottesbeweis, der von der subjektiven Idee eines höchsten Wesens auf dessen objektives Vorhandensein schließt.
Eine zweite Grundvoraussetzung ist der Akt der Schöpfung: Die zwar selbständige ‚teuflische Dreieinigkeit’, das oder der Böse, sei ein Teil der Schöpfung, und, so behauptet Professor Schleppfuß, „das notwendige und mitgeborene Korrelat des Heiligen sogar ein notwendiger Ausfluß und unvermeidliches Zubehör der heiligen Existenz Gottes“. Dies wird im Folgenden von Schleppfuß dialektisch plausibel begründet:
Schuld an der Existenz des Bösen sei die in der Schöpfung angelegte Freiheit, genauer gesagt: die freie Willensentscheidung des Menschen für oder wider Gott. Diese freie Willensentscheidung ist für das protestantische Christentum ein fundamentaler Grund, natürlich nicht unter dem Gesichtswinkel von Schleppfuß, der die freie Willensentscheidung für die Schöpfung als Zubehör für die Vollkommenheit sieht und das somit von Gott indirekt mit erschaffene Böse. Dieser Schöpfungsakt muß logisch unvollkommen sein, da Gott durch die Schaffung der Freiheit keine Nichtbefähigung zur Sünde dem Menschen erteilen konnte.
Freiheit aber ist die Bedingung der Schöpfung, womit sich die gesamte Gedankenschlange in den Schwanz beißt: Schöpfung mit notwendiger Freiheit ermöglicht das Böse.
Konsequent mußte Gott dem Menschen die Zehn Gebote mitgeben, welche nichts weiter sind als Hilfslinie und Flickwerk einer unvollkommenen Schöpfung. Übertragen wir diesen Gedankengang auf den Sündenfall: Im Paradies mußte konsequenterweise als Symbol freier Willensentscheidung der Baum der Erkenntnis stehen. Gottes Warnung vor dem Baum und die Verführung durch die Schlange sind nichts weiter als die objektive Abschätzung der Willensentscheidung. Der Mensch wußte nun vom Prinzip des Bösen, womit dieses wiederum geschaffen war und bestehen muß, bis Gott die Schöpfung liquidiert, also die gesamte Menschheit erlöst.
Sämtliche Bestrebungen, beispielsweise die Schaffung eines Weltfriedens nach Kant aufzunehmen - das hieße das Prinzip des Bösen vernichten zu wollen -, müssen scheitern, da die freien Willensentscheidungen eines Menschen unlenkbar sind. Ich füge hinzu: wobei der primäre Grund zur Entscheidung gegen Gott das Bestreben des Menschen war, zu „sein wie Gott“, eine hochmütige Bestrebung, der Wahrheit auf den Grund zu kommen, was für sämtliche Faust-Gestalten illusorisch bleibt. – Fast überflüssig zu ergänzen, daß durch die Unvollkommenheit dieser Schöpfung Begriffe entstanden wie Gnade, Schuld, Erkenntnis etc.
In welches Verhältnis hat sich das Böse oder Dämonische mit dem Menschen eingespielt?
In einer solchen Schöpfung musste, nach Thomas Mann, Gott und das Prinzip des Guten in die Bedeutung „als Rechtfertigung angesichts des Vorhandenseins des Bösen in der Welt“ herabsinken, was soviel besagt, daß Gott und das Böse in das Verhältnis einer wechselseitigen Existenzverstärkung getreten waren:
„Das Böse war weit böser, wenn es das Gute, das Gute weit schöner, wenn es das Böse gab, ja vielleicht wäre das Böse überhaupt nicht bös, wenn es das Gute, das Gute überhaupt nicht gut, wenn es das Böse nicht gäbe?“
Da das Böse nun einmal da ist, folgt die Rechtfertigung dieser Macht. Die Rechtfertigung besteht dabei keineswegs in der gegenseitigen Existenzverstärkung - denn Gott konnte und durfte das Böse niemals gewollt haben -, sondern sie drückt sich bei Schleppfuß in dem Gedanken aus, daß Gott weder das Böse wolle, noch wolle er, daß das Böse nicht geschehe,
„sondern ohne Wollen und Nichtwollen erlaubte er das Walten des Bösen, und das komme allerdings der Vollkommenheit zustatten“,
da ja sonst das Gute und Schöne zu qualitätslosem Sein entwertet würde. Man benötigt noch eine weitere Begründung für das Dämonische, die Fähigkeit Gottes, aus Bösem Gutes zu machen, was durchaus schon für den Lebensinhalt eines Menschen hinreichend wäre. Eine dritte Begründung sieht Kumpf schließlich in der geschichtlichen Tatsache, daß auch aus Gutem Böses entstehe: Würde Gott das Böse verhindern, wäre die Schöpfung unvollkommen und ohne Existenzgrund, außerdem könnte aus Bösem nichts Gutes mehr entstehen. Würde Gott das Gute verhindern, um zu vermeiden, daß aus Gutem Böses entstünde, hätte das ebenfalls seinem Wesen als Schöpfer widersprochen, ja, es hätte keine Schöpfung sein können und
„darum habe er die Welt, wie sie sei, nämlich mit Übel durchsetzt, erschaffen, das heißt, sie zum Teil dämonischen Einflüssen überlassen müssen.“
Betrachtet man diese in sich geschlossene Theologie, kommt man zu dem Ergebnis, daß an der Schöpfungskomplikation allein die freie Willensentscheidung zum Zwecke der Vollkommenheit Schuld trägt. In dieser Contra-Entscheidung liegt das Wesen des „Teufelspaktes“ – in Goethes „Faust“, im Volksfaust und „Doktor Faustus“.
Worin manifestiert sich das Dämonische in Thomas Manns „Doktor Faustus“? Professor Schleppfuß meint „Cherchez la femme“, wenn er sagt: „Die Macht des Dämonen lag in den Lenden des Menschen …Der Zeugungsakt, gekennzeichnet durch ästhetische Scheußlichkeit, war Ausdruck und Vehikel der Erbsünde - was Wunder, daß dem Teufel besonders viel freie Hand dabei gelassen war?“ Der „Dämon des Geschlechts“ ist eine reale Tatsache. Kumpf geht der Frage nach, worin die Versuchung, - welche keine Sünde, sondern eine Prüfung der Tugend sei -, wurzelt. Er kommt zu dem Schluß, daß das Weib als instrumentum zur Versuchung von Gott herrührt, allerdings als instrumentum der Heiligkeit, „denn diese gab es nicht ohne tobende Sündenlust.“
Die Versuchung macht sich das Dämonische nutzbar, indem es den sexuellen Akt der Heiligkeit beraubte, als er den zu höheren Leistungen und Erlebnissen treibenden Eros in das menschliche Gehirn (Adrian!) meißelte:
„Obgleich die Lokalisierung des Dämonischen in den Lenden eher auf den Mann paßte als auf das Weib, wurde dennoch der ganze Fluch der Fleischlichkeit und Geschlechtssklaverei dem Weib als deren Repräsentantin - denn das Geschlecht ist ihre Domäne – zugewälzt […] so daß es zu dem Spruch hatte kommen können: Ein schönes Weib ist wie ein goldener Ring in der Nase der Sau.“
Das Dämonische ist der jedem Menschen eigene Teil der Seele, welcher in ihm ein Bewußtsein der Unruhe aufprägt. Diese Unruhe ist der entscheidende Anstoß für die sich dem Menschen immer wieder stellende Frage nach der Wahrheit, sie ist der Drang des Menschen nach dem Unendlichen und Elementarischen, was soviel wie Suche nach Gott und die unio mystica mit ihm oder dem Sein bedeutet. Der Dämon als Teil unserer Seele treibt das menschliche Handeln und Denken zum Gefährlichen, Übersinnlichen und kann so auch zur eigenen Zerstörung führen.
Der Künstler überträgt diese dämonische Seele in sein schöpferisches Tun - dieses Nutzbarmachen des Dämonischen (der Teufelspakt!) verleiht dem menschlichen Geschöpf die Gabe des Rauschs, der Begeisterung, sie entwickelt seine geistigen Kräfte zu ungekannter Höhe, und er besitzt, wie es die Griechen nannten, die heilige Raserei,
„Aufschwünge, Erleuchtungen, Erfahrungen von Enthobenheit und Entfesselung, von Freiheit, Sicherheit, Leichtigkeit, Macht- und Triumphgefühl, Schauer der Selbstverehrung,
... aber auch Schmerzen und Übelkeiten.“ (5)
Wir finden solche Zustände formuliert in Goethes „Himmelhochjauchzend - zu Tode betrübt“. Der Schmerz, die Krankheit aber ist vorbereitend für den Wallungszustand, ist
„schöpferische, geniespendende Krankheit, die tausendmal dem Leben lieber ist als zu Fuße latschende Gesundheit.“ (6)
So erklärt Thomas Mann auch das Genie. Für ihn ist das Genie „eine in der Krankheit tief erfahrene, aus ihr schöpfende und durch sie schöpferische Form der Lebenskraft.“ (7)
Dadurch bewirkt wird also der Einfall, die Inspiration, welche dem Diesseits und seiner Erfahrung nicht entspringen kann. Eng verbunden dem Dämonischen, ja ein dämonisches Charakteristikum, ist die Erotik, im Gegensatz zur natürlichen Sexualität, als vergeistigter Liebesdrang, ein Ferment seelischer Aufschwünge, geistiger Höhenflüge. Solange das Gequält- und Getriebensein in die Unendlichkeit die ihm durch den Dämon zuteil gewordenen Fähigkeiten und die dämonische Macht lenkt und zu schöpferischen Zielen zwingt, kann er dieser Macht nicht mit seiner ganzen Seele verfallen - hier sieht Thomas Mann als einzig gangbaren Weg die Kunst, und innerhalb der Kunst sublimiert sich für ihn dieser Drang am deutlichsten und tiefsten in der Musik (sie ist für Thomas Mann Teufelsbeschwörung). Eine Erkenntnis muß der Bändigung des Dämonischen allerdings als Grenze gesetzt werden, nämlich daß die Wahrheit für den Menschen im Unendlichen liegt, also unfaßbar bleibt. Stefan Zweig bringt dafür ein treffendes Gleichnis:
„Die Form des Dämonischen deutet die Parabel: rascher, schwunghafter Aufstieg in einer einzigen Richtung gegen das Obere, Unendliche empor.“ (8)
Mathematisch gesehen kann die Kurve die ihr gesetzten Asymptoten im für den Menschen faßbaren und meßbaren Raum nicht treffen. Der Mensch kann seinen eigenen Schatten nicht überspringen. Der Schatten liegt stets zwischen ihm und dem nur erahnbaren, aber unerreichbaren Raum.
Wenn im „Zauberberg“ steht: „Zum Leben gibt es zwei Wege: der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg“, so meint das nichts anderes als den Kampf mit dem Dämon, den Stefan Zweig so charakterisiert:
„So gerät jeder geistige, jeder schöpferische Mensch unweigerlich in den Kampf mit seinem Dämon, und immer ist es ein Heldenkampf, immer ein Liebeskampf: der herrlichste der Menschheit. Manche erliegen seinem hitzigen Andrängen wie das Weib dem Manne, sie lassen sich vergewaltigen von seiner übernatürlichen, übermächtigen Kraft, sie fühlen sich selig durchdrungen und überströmt vom fruchtbaren Element. Manche bändigen ihn und zwingen seinem heißen, zuckenden Wesen ihren kalten, entschlossenen, zielhaften Manneswillen auf: durch ein Leben hin währt oft eine solche feindlich-glühende, liebevoll-ringende Umschlingung. Im Künstler nun und in seinem Werke wird dieses großartige Ringen gleichsam bildhaft: bis in den letzten Nerv seines Schaffens zittert der heiße Atem, die sinnliche Vibration der Brautnacht des Geistes mit seinem ewigen Verführer.“
(9)
3. Montage-Technik
„Doktor Faustus“ ist ein Montage-Roman; im „Roman eines Romans“ gibt Thomas Mann so zahlreiche Quellen für das Montagewerk an, als wäre dieser Roman ein Mosaik aus lauter fremden, angeeigneten Steinen und Stoffen – er hat mehr als 150 Bücher über Musik und Komponisten, Philosophie und Nietzsche im besonderen, Altdeutsches und Dämonologie gelesen, ehe er sich an seine kompositorische Aufgabe machte; die Montage ist die „Idee dieses Buches“. Eigentlich sollte das Buch nur den Titel „Doktor Faustus“ erhalten, doch sah Thomas Mann darin die Gefahr, einen „neuen deutschen Mythos kreieren zu helfen“, er hatte Angst, der Deutsche würde die Dämonie als Lob auffassen, und er wollte deshalb dieses Lob abschwächen, indem er später den Untertitel „Das seltsame Leben des Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“ beifügte. Dieser Vorsicht entgegengesetzt war sein Entschluß, den Untertitel zu ergänzen: „Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“.
Der Roman besteht aus der phantastischen Mechanik des Aufmontierens faktischer, literarischer, persönlicher, historischer und musikalischer Gegebenheiten und Ideen:
Am deutlichsten stechen in der rein erfundenen Biographie die oft am Anfang der Kapitel stehenden Betrachtungen zur Lage des II. Weltkrieges hervor - dadurch entstehen zwei Erzählebenen, die zwar nicht mit dem dramatischen Ablauf des Romans verflochten sind, doch inhaltlich in die Atmosphäre eines dämonischen Deutschlands passen. Die Einschaltung eines Narrators, Thomas Mann als Dr. Zeitblom, ermöglicht die epische Wiedergabe persönlicher Eindrücke und die Identifizierung mit dem tragischen Helden; die Tatsache, daß die Erzählung Zeitbloms gegen Ende des II. Weltkrieges beginnt, eröffnet dem Buch sogar drei zeitliche Ebenen:
1. die chronologische Schilderung vom Leben des Tonsetzers
2. die bei der Niederschrift empfundenen Gedanken, Assoziationen und Motivverknüpfungen
3. die Erzählerebene des II. Weltkrieges
Neben der faktischen Montage läuft die rein historische nebenher - zum Beispiel die Episode Madame de Tolna’s, gemeint ist Frau von Meck, eine Freundin Tschaikowskys, die sein Werk in vielen Briefen anspornte. Er ist ihr nie begegnet. Im „Doktor Faustus“ ist diese Episode montiert. Sie ist zwar für die Entwicklung und Gestaltung der eigentlichen Roman-Handlung nebensächlich, markiert aber die Einsamkeit eines liebesunfähigen Künstlers.
Wichtiger ist die Luther-Karikatur, die den Sinn hat, das altertümliche Reformationsdeutsch einzuleiten, dessen düstere Atmosphäre Thomas Mann zur Darstellung des Dämonischen nutzt. Wir merken es am deutlichsten in der ‚Contritio-Rede’ Adrians (hier wird Kumpf frappierend imitiert), welche sich auf das Volksbuch des „Doctor Faustus“ stützt. Wenn Kumpf, statt eines Tintenfasses den gegenüberliegenden dunklen Winkel mit dem spontanen Wurf einer Semmel demoliert, den Leibhaftigen vermeinend, so ist das eine eindeutige Parodie Luthers.
Der Savonarola-Sessel: Beide Male sitzt auf ihm ein Besucher Adrians, einmal Schwertfeger, der Adrian sein Verhältnis zu Ines Institoris bekennt und büßt (Savonarola war ein Bußprediger), das andere Mal ist es Clementine, die ihm frühchristliche Visionsliteratur und Jenseitsspekulationen vorliest. Bemerkenswerterweise im Apokalypsenkapitel, dem in Adrians Komposition „Apokalypsis cum figuris“ Dürers Apokalypse (Dürers Faust genannt) aufmontiert wird: Ein Teil der Apokalypse, das Martyrium Iohanni im Ölkessel wird wiederum der Gestalt Adrians aufmontiert als ein zweites Motiv des extravaganten Daseins.
Außer den in den vielen kulturkritischen Gesprächen montierten persönlichen Meinungen und Urteilen Thomas Manns ist die musikalische Montage ersichtlich, die Zwölftontechnik Schönbergs: Der tragische Held sucht im Zwölftontechnik-Kapitel nach einem musikalischen Funktionssystem, welches er sich aus den zwölf Stufen des temperierten Halbton-Alphabets konstruiert vorstellt; das Thema muß, alle zwölf Stufen umfassend, aus zwölf Silben oder Buchstaben bestehen und in der fortgeführten Kombination und Variation, der Kontrapunktierung der Fuge, stets auf die vorbestimmte Grundreihe zurückzuführen sein, jeder Ton in der Gesamtkonstruktion also seine motivische Funktion erfüllen, so daß es keine freie Note mehr gibt; während Adrian ein ähnliches Vorhaben, noch auf dem Dur-Moll-System basierend, mit dem Esmeralda-Thema (h-e-a-e-es) nicht gelingt, erreicht er in „Dr. Fausti Weheklag“ sein künstlerisches Ziel mit dem jetzt zwölfsilbigen Thema „Denn ich sterbe als ein böser und ein guter Christ“, indem mit den zwölf Silben alle Töne der oben dargelegten chromatischen Skala gegeben, sämtliche denkbaren Intervalle darin verwandt sind. Diese Ad-hoc-Version der Schönbergschen Musiktheorie ist wiederum Montage – die aus dem Dur-Moll-System quantitativ veränderte 12-Tontechnik bewirkt eine qualitative Veränderung der Musik, was von einigen Kritikern allerdings bestritten wird, welche behaupten: „Wer mit acht Tönen nicht komponieren kann, wird dies auch nicht mit zwölf Tönen oder einem beliebig Vielfachen können.“ Dagegen spricht, daß das 12-Ton-System den musikalischen Durchbruchswillen markiert, der sich aus dem kompositorisch-stilistisch erschöpften Dur-Moll-System ergibt.
Vielfältig ist die literarische Montage. Nach den Angaben im „Roman eines Romans“ ist zum Beispiel die gesamte „Werber-Konstruktion“ mit Schwerdtfeger auf die in drei Dramen Shakespeares vorkommenden Sonette zurückzuführen, die Thomas Mann geschickt mit den parallel dazu laufenden Erlebnissen Nietzsches verknüpft.
Thomas Mann ist dem „Volksbuch des Doctor Faustus“ in seiner Gestaltung des Faust-Themas sehr verpflichtet, was sich vornehmlich ganz am Anfang des Romans zeigt, als sein Vater mit dem Attribut „elementa speculieren“ aus dem Volksbuch charakterisiert wird, später auch Adrian - weiterhin ist im Kapitel der Wahnsinns-Szene die ‚Contritio-Rede’ typisch für das Volksbuch, worin man lesen kann, daß Faust alle mit ihm bekannten Studenten in Erahnung des Kommenden um sich versammelt.
Im Zusammenhang mit dem extravaganten Dasein taucht im Teufelskapitel und später im Tripelkapitel der Apokalypse das bekannte Märchen Andersens „Die Meerjungfer“ auf, welche für Thomas Mann das extravagante Dasein als „Hölle auf Erden im voraus“ verkörpert. Dieses Leben besteht laut Teufelskapitel aus der „Wahl zwischen extremer Kälte und einer Glut, die den Granit zum Schmelzen bringen könnte“ - dieser Wahlzwang aber hat es in sich, da die Wahl unvollkommen ist, weil sie die Aufgabe des Komplementären erzwingt: In jedem Zustand, sei es in dem der Kälte oder der Glut (Einsamkeit und Liebe) zieht es den Wählenden zum anderen Extrem: Adrian, der das Dämonische verlangend sich für die Kälte entschied, mußte der Liebe entsagen, um die dämonischen Stufen der Erleuchtung durchlaufen zu können - dabei mußte er die unsagbaren Schmerzen der Einsamkeit in Kauf nehmen, und so kommt es zu dem treffenden Gleichnis der Meerjungfer, welche ihren Nixenschwanz mit Menschenbeinen vertauschen wollte und ihr Verlangen nach der hysterisch überschätzten Oberwelt und nach der unsterblichen Seele nicht mehr bändigen kann; sie hat Messer-Schmerzen bei jedem Schritt ihrer Beine zu ertragen, so daß sie mit Verlangen wieder in das ihr urtümliche Extrem zurückfallen möchte. Dieser Drang, von einem Extrem ins andere zu fallen, ist das extravagante Leben, dessen sich Adrian, je näher er dem Ende der verhandelten Frist kommt, bewußt wird.
Eine andere Montage ist der filigranhafte Einbau von Beethovens Neunter Sinfonie im Zusammenhang mit dem Motiv der ‚Zurücknahme’. Adrian sagt:
„Es soll nicht sein: das Gute und Edle, was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft haben, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen: Die Neunte Sinfonie.“ (10)
Mit den ersten beiden Sätzen stellt Adrian fest - übrigens nach dem Tod Echos, der ihn zu dieser Erkenntnis treibt -, daß der Dämon das in Wahrheit Gute und Edle, nämlich die Liebe, die Adrian um des Dämonischen willen entbehrte, nicht will: „Es soll nicht sein.“ Sein Versuch, die Wahl in dem Sinne für sich zu gestalten, daß ihm Kälte und Glut zusammen widerfährt, ist mit dem Tod Schwerdtfegers und Echos auf Veranlassung des „Herrn Dicis et non facis“ gescheitert. Deswegen will Adrian seinen Pakt mit dem Teufel aufheben, um das, was die vom Menschlichen Jubelnden verkünden, wieder zurückzunehmen. Das Menschliche - der Kampf gegen den Dämon - setzt ein. Aus der durch die attritio bedingten Erkenntnis erwächst später die contritio. Die Zurücknahme der Seele drückt Adrian mit dem musikalischen Begriff der Neunte Sinfonie Beethovens aus, mit besonderem Bezug zum Schlusssatz mit Schillers Ode „An die Freude“.
4. Nietzsche – Vergleich
Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit. (Seneca)
Zwar ist der Name des Philosophen mit keinem Wort im Roman erwähnt, doch kann die wichtigste, in den tragischen Helden mündende Einmontierung leicht belegt werden. Übernommen aus Nietzsches Leben ist das Studentengespräch, welches bei Thomas Mann auf den Satz hinausläuft:
„Das Dämonische, das heißt doch auf deutsch: die Triebe!“
(11)
Nichts anderes wird damit ausgesagt, als was auch Nietzsche mit seinen studentischen Freunden in einer feucht-fröhlichen Nacht zum Ausdruck bringt: Die Anerkennung des menschlichen Verlangens nach dem Dämonischen. Nietzsche soll ausgerufen haben: „Seid gegrüßt, Dämonen!“
Adrians Bordellerlebnis ist von Nietzsche fast wörtlich übernommen, und ganz frappierend ist die parallel laufende Krankheitssymptomatik: Nietzsche und Adrian litten unter „wahnsinnigen“, oft betäubenden Kopfschmerzen, die sie zur Verdunkelung des Zimmers zwangen, beide haben dasselbe Diät-Menü, welches im „Doktor Faustus“ genauestens beschrieben wird, beide sind mißtrauisch gegen die Ärzte eingestellt und sehen die Krankheit als Weg, schließlich ist das Ergebnis ihrer Krankheiten der ekstatische Denkrausch für die Erfüllung ihres geistigen-künstlerischen Schaffens. Nietzsche legte mit der Pinzette seine Adern und Nerven unter unsäglichen Schmerzen frei, um sich selbst tiefer zu erkennen. Beiden haftet die für den dämonischen Typ so kennzeichnende Hybris an, welche bei Nietzsche so ausartete, daß er die Zeitrechnung auf das Erscheinen seines „Antichrist“ umstellen wollte. Beide waren sich ihres extravaganten Daseins bewußt und der daraus resultierenden erzwungenen Einsamkeit (bei Nietzsche die „Siebente Einsamkeit“ - ein Leben ohne Gott, ohne Menschlichkeit, ohne Antwort. Das im „Dr. Faustus“ montierte Ecce-homo-Zitat besagt:
„Kalt wollen wir dich, daß kaum die Flammen der Produktion heiß genug sein sollen, dich darin zu wärmen. In sie wirst du flüchten aus deiner Lebenskälte - und aus dem Brande zurück ins Eis; es ist die Hölle im voraus; - es ist das extravagante Dasein.“ (12)
Flamme kann Nietzsche nur sein, wenn er dem Pakt wie Adrian entspricht und der Glut der Liebe entsagt. Die Entsagung bringt beiden die durch die Illumination hervorgerufenen „hellichten Verzückungen“, denen die „geniespendenden“ Krankheiten vorausgehen. Flamme bedeutet das Sich-selbst-Verzehren in dynamischen, entfesselten Gedanken, welches nach einem letzten kurzen Aufflackern im Wahnsinn enden muß - im „Ecce homo“ sagt Nietzsche:
„Ja ich weiß, woher ich stamme,
ungesättigt gleich der Flamme
glühe und verzehr ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle, alles, was ich hasse,
Flamme bin ich sicherlich!“ (13)
Als einen „Strahl von Glück“ bezeichnet Nietzsche die Musik, welche wie bei Adrian langsam schwelend erst nach dem Studium hervorbricht, da er, anfangs die Musik als etwas Dämonisches ablehnend, die Vergangenheit überwand und in der Musik den Dämon suchte und verlangte. Wie Adrian (in der Schluß-Szene) bricht er einmal am Klavier in Tränen aufgelöst zusammen.
„Das Leben ohne Musik ist einfach eine Strapaze, ein Irrtum!“
(14)
Man hat Thomas Manns „Doktor Faustus“ zuweilen einen Nietzsche-Roman genannt - denn auch die Werbergeschichte ist von Nietzsche übernommen. Während Adrian seinen Freund Schwerdtfeger zur Werbung Godeaus schickte, die jener ebenfalls liebte, realisierte Nietzsche gleich zweimal diese Idee; beide Experimente (in dem einen Fall war Nietzsches Freund mit der Ersehnten verlobt) mißlingen wie bei Adrian.
Ins Auge sticht auch die schöpferische Produktivität der vom Dämon besessenen Künstler, und dem in fünf Monaten geschaffenen, das künstlerische Verlangen erfüllenden Oratorium „Doctor Fausti Wehklag“ kurz vor dem Absturz Adrians in den Wahnsinn setzt Nietzsche seine etwa 64 Zentner wiegenden Schriften entgegen, die er ebenfalls in der Zeitspanne von fünf Monaten euphorisch vom Schreibtisch blätterte.
So wie Nietzsche in seinen Universitätsmonologen von seinen Zuhörern verlassen wird, sinkt Adrian in der Wahnsinns-Szene von seinen Bekannten verlassen am Klavier zusammen.
Insgesamt ist der Lebenslauf in wichtigen Aspekten sehr ähnlich, ein Vergleich Nietzsches und Adrians mit Goethe ergibt folgenden interessanten Kontrast:
G o e t h e als Jüngling überschwenglich-feurig,
als Mann besonnen-tätig,
als Greis begrifflich klar und ordnend.
= Sein Chaos war am Anfang seiner Existenz, am Schluß Ordnung.
N i e t z s c h e Sein Lebenslauf ist genau entgegengesetzt, das Leben des für den Fortschritt plädierenden Nietzsche ist in Wahrheit rückläufig:
In der Jugend als Professor ordnend - mit dem Blick in die Vergangenheit,
als Mann im Kampf zur Überwindung der Vergangenheit - mit dem Blick in die Gegenwart.
im Alter feurig-dämonisch - mit dem Blick in die Zukunft.
= Ordnung war am Anfang, Chaos am Ende seiner Existenz.
A d r i a n In der Jugend hochmütig-altklug,
als Mann tritt die Überwindung des Dur-MollSystems symbolisch an die Stelle des Kampfes zur Überwindung der Vergangenheit,
im Alter die dämonische Steigerung, aber im Gegensatz zu Nietzsche der Versuch zur contritio
= wie Nietzsche
[Vergleich Goethe / Nietzsche vgl. Stefan Zweig, „Kampf mit dem Dämon“]
Der Vergleich zeigt deutlich das Besondere der dämonischen Naturen, zumal wenn man ihnen Goethe als Beispiel eines ‚gesunden’ Genies gegenüberstellt; deutlich wird auch die Übereinstimmung Adrians mit Nietzsche. Beide starben einen geistigen Tod (Verfall in den Wahnsinn) mit 44 Jahren und nach 12-jähriger Pflege mit 56 Jahren; Nietzsche wurde von seiner Schwester Elisabeth, Adrian von seiner Mutter Elisabeth gepflegt.
6. Wahrheitssuche - faustisches Drängen
„Die Astronomen werden niemals einsehen, daß die Verhältnisse der Nacht zum Tag oder der Sterne zu diesem und untereinander ewig sein können und es ist absurd, so viel Mühe für die Erforschung ihrer genauen Wahrheit aufzuwenden. In der Astronomie wie in der Geometrie sollten wir Probleme stellen und den Himmel sich selbst überlassen, wenn wir uns dem Gegenstand in richtiger Weise nähern und uns so die natürliche Gabe der Vernunft irgendwie zunutze machen wollen.“ (Sokrates) (15)
Auch Goethes Faust erkennt: „Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor!“ Und im letzten Vers der Tragödie steht als Begründung dieser Einsicht das Bekenntnis zum Glauben:
„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis;
das Unzulängliche hier wirds Ereignis;
das Unbeschreibliche hier ists getan;
das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“
Goethe, der mit dem Ewig-Weiblichen die Liebe umschreibt, sieht den einzigen Weg zur Wahrheit zu gelangen in der Liebe zu den Mitmenschen. Der Teufelspakt verbildlicht den unerlaubten, hochmütigen Versuch, Wahrheit zu erkennen. Das kommt der Versuchung Gottes gleich. Die Vorstellung, aufgrund eines Paktes mit dem Dämonischen mit ‚überrationalem Denken’ begabt zu werden, ist a priori falsch.
7. Das Esmeralda - Motiv
Trotzdem verfallen dämonische Naturen dem faustischen Drängen immer wieder, welches sie, von ihm nun einmal infiziert, zwangsläufig zum Abschluß eines Vertrages mit bösen Mächten bewegt. Am Beispiel des Esmeralda-Motivs untersuche ich den verhängnisvollen Weg Adrians. Zum ersten Male taucht das Esmeralda-Motiv im Zusammenhang des „elementa speculierenden“ Vaters auf. Die Beschreibung der Schmetterlingsart hetaera esmeralda benutzt Thomas Mann zur Darstellung des Bordellwesens, indem er die farbenprächtigen Schmetterlinge mit den Hetären der Antike vergleicht, die ebenfalls durch ein bestimmtes Gewand auffielen. Die Schmetterlingsart gilt als giftig. Bei Adrian Leverkühn dienen Esmeralden als Infizienten des Dämonischen. Der Tonsetzer, der Philosophie und Theologie studierte, stellt nun fest, daß sich ihm in jedem Bereich dieser Fakultäten irgendetwas entgegenstellt, was ihn an der Ergründung der Wahrheit hindert. Der mit Hochmut begabte Adrian erkennt, dass er mit diesem hindernden Element, dem Dämonischen, zur wahren Kunst gelangt, wenn er dafür sein Seelenheil darangibt; dabei sieht er sich diesem Dämonischen in der Musik am nächsten, ja er hält Musik als Teufelsbeschwörung zugleich für die Definition Gottes, so daß es ihn, auch aufgrund des Schleppfuß-Kollegs, nach dämonischen Aufschwüngen verlangt.
Schleppfuß übt auf Adrian großen Einfluß aus, das wird in der Bordell-Szene, in der Schleppfuß als livrierter Bediensteter auftritt, deutlich. Das Bordell ist der Ort der Entscheidung für oder wider Gott, ein „Prüfstein der Tugend“ und Mittel des Leibhaftigen, den stolzen Hochmut mit der Aktivierung des menschlichen Triebes zu brechen.
„Schmerzlich ist es, daß Reinheit dem Leben im Fleische nicht gegeben ist, daß der Trieb den geistigen Stolz nicht scheut und der verweigerndste Hochmut der Natur seinen Zoll entrichten muß.“ (16)
Der Hochmut des Geistes hatte das Trauma der Begegnung mit dem seelenlosen Trieb erlitten, und Adrian macht keinesfalls eine Ausnahme; der Berührung des Weibes in der „Lusthölle“ zu widerstehen gelingt ihm auf Dauer nicht, und Schleppfuß’ Suggestionen haben sich schon zu fest in sein Gehirn eingegraben, um dem Verlangen nach dämonischer Empfängnis, für welche Esmeralda symbolhaft wird, zu entsagen, so daß er trotz ihrer Warnung und im vollen Bewußtsein einer chymischen Veränderung seiner Natur das Schicksal herausfordert. In diesem Verlangen besteht seine Versündigung, welche ihn mit dem Dämon in Berührung bringt - der Vertrag hat nur noch symbolischen Charakter, da Adrian dem Leibhaftigen sich schon vorher verschrieb. Meister Eckart, deutscher Mystiker im ausgehenden Mittelalter, trifft den Kern dieser Situation, wenn er in seiner Schrift „Wie die Neigung zur Sünde dem Menschen frommt“ sagt: „Der Hang zur Sünde ist nicht Sünde, aber die Sünde w o 1 1 e n, das ist Sünde!“
Die Entwicklung zu der angestrebten Illuminierung vollzieht sich - Thomas Mann stellt den Ausbruch der widerwärtigen Syphilis, welche in ihrer Grausamkeit, ihrer unmenschlichen Finsterkeit das Dämonenhafte bestimmt, erschreckend realistisch dar. Adrian lebt nach der verderblichen Begegnung mit Esmeralda nur noch in Erwartung des Dämonischen, das er wahrzunehmen noch nicht fähig ist; er komponiert immer wieder das Klangmotiv h-e-a-e-es: hetaera esmeralda. Die mit der Syphilis zusammenhängenden Ereignisse reihen sich nun zwangsläufig aneinander. Die Ärztegroteske ist nach dem Sichtbarwerden der Krankheit eine erste Folge: Adrian sucht die Ärzte auf, welche für die Eindämmung der primären Syphilis sorgen, sie jedoch nicht völlig ausschalten, weil sie in unheimlicher Weise sterben müssen - die Tatsache, daß Adrian gar nicht mehr daran interessiert ist, weitere Ärzte aufzusuchen, zeugt nicht für sorglose Unwissenheit (der Primäreffekt der Syphilis geht zwar bald zurück, es folgen aber die unangenehmen Symptome der sekundären Syphilis), sondern für seinen Willen, die Aufnahme der Beziehung mit dem Dämonischen nicht zu vereiteln.
„Der Rückgang der Allgemeindurchdringung war sich selbst zu überlassen, damit die Progredienz dort oben hübsch langsam vonstatten ging, damit dir Jahre schöner, nigromantischer Zeit salviert wären“ (17),
sagt „Sankt Velten“ in der Teufels-Szene zu Adrian. Schon an dieser Stelle wird vorstellbar, daß der „Herr des Enthusiasmus“, wie ihn Adrian an anderer Stelle einmal nennt, jene Esmeralden über die erotische Verführung und die Syphilis dazu benutzt, um mit ihnen an die „Stelle der inzipienten Illuminierung“ zu gelangen: Die Syphilis-Erreger, die sogenannten Spirochaeten, dringen auf dem Wege über den Lumbalsack in der Hirn-Rückenmark-Flüssigkeit zu den Menningen vor - diese Scheidewand entzündet sich und führt zur progressiven Paralyse, bei Adrian infolge des zunächst eingedämmten Primäraffektes zu einer sehr langsamen Paralyse. Die Illuminierung des Geistes stellt sich Thomas Mann nun bedingt durch eine symbolische Gehirn-Osmose vor. Sie muß nicht symbolisch sein; das Beispiel anderer Syphilis-Erkrankter zeigt, daß dieses letzte Stadium der Syphilis tatsächlich geistige Aufschwünge ermöglichen kann. Bei einer solchen Osmose - Eindringen einer Flüssigkeit in eine andere durch eine halb durchlässige Scheidewand mit dem dabei entstehenden osmotischem Druck - dringen die Spirochaeten in der hinter den Meninges im Innern befindlichen Zellsaft ein, was aufgrund des osmotischen Drucks zu einem Proliferationsvorgang führt, welcher die spätere Illuminierung (die Gehirnzellen sind ja nun vermehrt) bewirkt, zumindest bei Adrian, dessen Syphilisentwicklung geschickt gelenkt wird. Der Zellsaft des Gehirns ist die Verbildlichung des dämonischen Drangs, der zusammen mit den durch den Leibhaftigen infizierten Spirochaeten die zur Osmose notwendige Affinität ermöglicht. Gleichzeitig mit der ‚symbolischen Osmose’ entstehen die tatsächlichen Krankheitsfolgen, die wahrscheinlich zu den schweren Anfällen führen - aber selbst diese unterstützten die geistigen Schwebefahrten durch höhere Regionen.
8. Das Motiv des extravaganten Daseins
Tatsächlich zeigt sich das Motiv schon im Zusammenhang mit der Osmose, wenn wir den Osmose-Versuch des Vaters mit der symbolischen Osmose Adrians vergleichen. Während Adrian den unheilvollen Weg dieser Krankheit betritt, was seine spätere Kälte und Einsamkeit zur Folge hat, also den Verzicht auf Liebe wählt, sehen wir, daß die aus der Osmose hergestellten toten, starren, kalten Pflanzen sich als heliotropisch, also lichtbegierig, erweisen; sie wachsen zum Licht der wärmenden Sonne. Derselbe Vorgang vollzieht sich an Adrian, nach der Wahl des dämonischen Extrems der Kälte und der Einsamkeit zieht es ihn mit stechendem Schmerz zum Extrem der Wärme und Liebe zurück. Diesen Dualismus bezeichnet der Erzähler als „extravagantes Dasein“.
Für dieses Motiv wurden Andersens Märchen „Die Meerjungfer“ und die 9. Sinfonie erwähnt. Im Folgenden wird die verwickelte Entwicklung des Dämonischen um Schwerdtfeger, Ines, Institoris, Godeau und Adrian analysiert, ein weiteres wichtiges Beispiel für Adrians extravagantes Dasein. Thomas Mann selbst sagt zu den mysteriösen Geschehnissen des Mordes: „Was er [Adrian] an Rudi verübt, ist ein prämeditierter, vom Teufel verlangter Mord - und Zeitblom weiß es.“
Der Mord, den Adrian als Ausdruck seines Kampfes mit dem Dämon begeht und in dem er dem Dämonischen unterliegt, hat seinen Ansatz in der Freundschaft mit Schwerdtfeger, der es durch seine Eigenschaften, „Flirtnatur“ und „dämonische Koboldhaftigkeit“ - so weit bringt, daß Adrian ihm ein Violinkonzert verspricht, sich mit ihm duzt und überhaupt eine stärkere Zuneigung für Schwerdtfeger gewinnt. Das Verlangen nach dem anderen Extrem - trotz des teuflischen Postulats „Du darfst nicht lieben!“ - muß im dämonischen Sinne als eine Selbsterniedrigung gelten, die zu beseitigen ist, um Adrians Illuminierung nicht zu gefährden; das aus der Freundschaft zu Schwerdtfeger resultierende „Sichpreisgeben der Einsamkeit“ (bei der Vorführung des Violinkonzertes) schreit nach prompter, kaltblickender und geheimer Rache.
Seine dämonische Natur zwingt Adrian zur Ausführung seines hyperkonstruierten, für ihn selbst unbewußten Mordplans: Die Freundschaft mit Schwerdtfeger mußte zwangsläufig zu einer Steigerung des Liebesverlangens führen, also zu einer Frau, welche der Teuflische, wie wir bei Schleppfuß sahen, als instrumentum für die Versuchung in seinen Plan einspannte: Marie Godeau. Nun vergegenwärtige man sich die beziehungsvolle Situation des ersten Dreiecksverhältnisses (Schwerdtfeger - Institoris - Ines): Der Werber Institoris heiratet Ines zwar, aber die wahre Liebe gewinnt Schwerdtfeger mit seiner indirekt werbenden Flirtnatur. Zu bedenken ist auch Adrians Warnung:
„Er (Schwerdtfeger) soll sehen, daß er heil aus der Sache davonkommt!“ (18)
Damit ist gemeint, daß Schwerdtfeger so fest an Ines gebunden ist, dass Untreue für ihn zur Todesgefahr wird. Vom ersten Dreiecksverhältnis ausgehend läßt sich für das zweite Dreiecksverhältnis (Adrian - Godeau - Schwerdtfeger) vorausberechnen, daß Adrian, indem er Schwerdtfegers Flirtnatur ausnutzend ihn als direkten Werber an die Stelle Institoris’ setzt, wie Schwerdtfeger im ersten Dreiecksverhältnis die Liebe Godeaus für sich gewinnt - ein Versuch Adrians, den Herrn „Dicis et non facis“ zu überlisten, der jedoch fehlschlagen muß.
Für die Durchführung seines Plans läßt Adrian Dr. Zeitblom eine Schlittenfahrt organisieren, in der er Schwerdtfeger mit Godeau bekannt macht. Schwerdtfeger verliebt sich sofort in Godeau. Dann kommt es zur entscheidenden Szene zwischen Adrian und Schwerdtfeger, in der Adrian mit schmeichelnden Worten dem Freund dankt, das „Menschliche in ihm freigemacht zu haben“, und ihn bittet - vortäuschend, von Schwerdtfegers Zuneigung zu Godeau nichts zu wissen -, seiner „Intuition“ folgend für ihn den Werber zu spielen (Intuition meint die Idee des zweiten Dreiecksverhältnisses):
„Das ist eine Idee von mir, ein Einfall. Man muß immer von vornherein annehmen, daß so ein Einfall nicht vollkommen neu ist. Wie es sich hier ergibt, in diesem Zusammenhang und in dieser Beleuchtung mag das Dagewesene [das erste Dreiecksverhältnis] doch neu, lebensneu sozusagen, originell und einmalig sein.“ (19)
Die Rechnung geht nicht auf. Die indirekte Werbung des Liebenden ist kraftlos. Ein Leichtes für den Dämon, den Verrat Schwerdtfegers gegen den Freund zu bestärken. Godeau lehnt Adrian ab und fasst Zuneigung zu Schwerdtfeger. Jetzt wird Adrians Warnung wahr, es kommt zwangsläufig zum Mord der inzwischen morphiumsüchtigen Ines an Schwerdtfeger. Adrian verliert Godeau und Schwerdtfeger, seine Einsamkeit als Voraussetzung des künstlerischen Höhenfluges ist wiederhergestellt. Adrian wird sich seines extravaganten Daseins verstärkt bewußt, er spürt die Schmerzen seiner „Schwester in der Trübsal“, Andersens Meerjungfer.
9. Contritio
Schon im Teufelskapitel tauchen die Begriffe contritio und attritio vorbereitend auf: Angstbuße und seelische Zerknirschung. Nur contritio kann zur Erlösung führen. Der Leibhaftige erwartet diese Reaktion eines Hochmütigen wie Adrian nicht. Humanum fuit errare, diabolicum est, per animositatem in errore manere. Tatsächlich ist der weitere Lebensinhalt Adrians in dieser Beziehung nur auf die attritio ausgerichtet, wie sich aus der Apokalypsen-Komposition und besonders in „Doctor Fausti Weheklag“ erkennen läßt; die attritio gewinnt jedoch nicht nur schöpferischen Ausdruck, sondern manifestiert sich auch in Adrians Wutausbruch, der das Motiv der 9. Sinfonie zur Folge hat. Die Frage, ob der Sündige gerade durch das Übermaß der Sünden und seine Beharrlichkeit in der attritio von Gott erlöst werde oder nicht, wird in Thomas Manns Roman nicht eindeutig beantwortet - Adrians eindrucksvoller, vor den zusammengerufenen Bekannten gehaltener Vortrag im letzten Kapitel läßt sich als Contritio-Rede auslegen, in der er offen seine Fehler bekennt und total zerknirscht wirkt, allerdings keine Reue oder Bitte um Verzeihung äußert. Dimidium facti, qui coepit habet, Gott versagt den die Hölle im voraus Lebenden seine Gnade nicht.
Adrians Zusammenbruch im Wahnsinn impliziert möglicherweise göttlichen Gnadenerweis: Die teuflische Illumination wird vor Ablauf der 24 vereinbarten Jahre schon im achtzehnten von ihm genommen; ob sie der Herr Dicis et non facis aufgrund des Vertragsbruchs von ihm nimmt und Adrian so seiner organischen Krankheit und der von ihr ausgehenden geistigen Zerfließung überläßt, oder ob Gott sie entfernt, bleibt offen. Eine Spekulation auf die Gnade Gottes, bezweckt durch ein beharrliches, dem Höchsten entgegen gestemmtes Nein ist von der Hand zu weisen, denn der Tonsetzer neigt eher zur contritio, wenn auch unbewußt. Er unterliegt im Kampf mit dem Dämon und erhält die Gnade Gottes ohne echte contritio.
10. Schlußbetrachtungen
Ein Vergleich des epischen Werkes von Thomas Mann mit dem von ihm darin dargestellten 12-Ton-System zeigt: Die Töne des Reihen-Themas stellen die etwa zwölf Roman-Motive dar, welche niemals mit völlig gleicher Bedeutung zurückkehren, stets aber noch auf den Grundton zurückzuführen sind. Ein konsequent expressionistischer Roman ist „Doktor Faustus“ nicht geworden, aber er stellt in sich eine Kontrapunktik dar, welche im Zwölftonsystem nur die Forderung des Nichtvorhandenseins „freier Noten“ nicht erfüllt, da dies von Thomas Mann als Fehlen der „musikalischen Stallwärme“ empfunden würde. So läßt er zum Beispiel den Teufel ganz im Sinne der Zwölftontechnik (was die Variation angeht) in verschiedenen Gestalten erscheinen:
In Schleppfuß, dem Fremdenführer in der Bordell-Szene; in Esmeralda als Schmetterling und Hetäre, als biologische Bestimmung in den Spirochaeten; in der Teufels-Szene in drei Verwandlungen; schließlich als dämonisches Element in der Seele des tragischen Helden.
Ebenso verschiedenartig, wenn auch nicht neu, sind die biographischen Mittel Thomas Manns: Er läßt Zeitblom als Zeugen, Betrachter, Erzähler schildern, Dokumente vorlegen und erschließen, letzteres mit der Begründung:
„Ich weiß es, und möge man zehnmal den Einwand erheben, ich könnte es nicht wissen, da ich nicht 'dabei gewesen' sei. Nein, ich war nicht dabei. Aber heute ist es seelische Tatsache, daß ich dabei gewesen bin, denn wer eine Geschichte erlebt und wieder erlebt hat, wie ich diese hier, den macht eine furchtbare Intimität mit ihr zum Augen- und Ohrenzeugen auch ihrer verborgenen Phasen.“
(20)
Das Element der Musik legt zusammen mit Zeitblom und dem Motivkreis einen dreifachen Rahmen um den Roman. Adrian hat sich vom Dämonischen her für die naturlose Musik entschieden. Jeder Ton hat in Dr. Fausti Weheklag eine statische, gesetzmäßige Bedeutung erlangt und das entspricht seinem faustischen Drängen. Dies bedeutete jedoch das Ende der Musikentwicklung, da eine Steigerung durch den Dualismus der Natur mit dem Dämonischen nicht mehr möglich ist. Atonalität ist das dämonische Element der Musik, womit sie sich selbst zerstört.
1839 schreibt Balzac: „Les Allemands, s’ils ne savent pas jouer des grands instruments de la liberté, savent jouer naturellement de tous les instruments de musique.“ Thomas Mann ergänzt: „Zugleich haben sie gespürt, und spüren es heute stärker denn je, daß solche Musikalität der Seele (für Th. Mann ein ‚dämonisches Gebiet’) sich in anderer Sphäre teuer bezahlt macht, - in der politischen, der Sphäre des menschlichen Zusammenlebens.“ (21)
Dies belegt Thomas Mann mit den Eigenschaften der Deutschen: Weltbedürftigkeit und Weltscheu, Kosmopolitismus und Provinzialismus und sieht das Seelentum des Deutschen bedroht von Versponnenheit, Einsamkeit, provinzlerischer Eckensteherei und stillem Satanismus. In seiner Rede „Deutschland und die Deutschen“ begründet er diese stille Dämonie mit dem Hochmut des deutschen Intellekts; hier sehen wir deutlich Adrian vor uns auftauchen, welcher sein Seelenheil darangab, um für eine Frist „alle Schätze und Mächte der Welt zu gewinnen“ - wie das im Zweiten Weltkrieg geschilderte Deutschland für eine Frist sich mit dem Dämon verbündete, um „Weltgenuß und Weltherrschaft“ zu erlangen. Thomas Mann fügt hinzu, daß das Kriegsende die Auslieferung des Deutschen an den Teufel bedeutete. So ist es zu verstehen, wenn der Dämon in der Teufels-Szene sagt:
„Manchmal versteh ich überhaupt nur deutsch.“ (22)
Tatsächlich läßt sich eine gewisse Volkstümlichkeit des Teufels bei uns Deutschen nicht von der Hand weisen, wenn man an Luther denkt und an seine Sprachschöpfungen für den Leibhaftigen. Es gibt ungefähr 30 verschiedene Namen oder Spitznamen für den Teufel:
„Das kommt von seiner kerndeutschen Popularität.“ (23)
Unfasslich bleiben die Ursachen, warum sich so viele Deutsche von dämonischen Mächten aus dem Guten ins Böse treiben ließ. Zwar bietet Thomas Manns Faust-Roman tiefe Einblicke in die Mentalität der Deutschen, aber weder die guten noch die bösen Dämonen der Musik erklären die Geschichte zweier hochmütiger Weltkriege.
Literaturnachweise:
Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Frankfurt am Main (S. Fischer) 1963
Thomas Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans. Frankfurt am Main (S. Fischer) 1960
Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen. Bermann-Fischer-Verlag 1947
Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit
Stefan Zweig, Kampf mit dem Dämon. Leipzig (Insel) 1925
Hogben, Mathematik für alle, Frankfurt/Wien/Zürich
Anmerkungen:
(1) Doktor Faustus, S. 114
(2) Dichtung und Wahrheit, 20. Buch
(3) Doktor Faustus, S. 107-114
(4) Hogben, S. 3
(5) Doktor Faustus, S. 247
(6) Doktor Faustus, S. 261
(7) Doktor Faustus, S. 381
(8) Zweig, S. 20
(9) Zweig, S. 11
(10) Doktor Faustus, S. 512
(11) Doktor Faustus, S. 134
(12) Doktor Faustus, S. 268
(13) Nietzsche, Ecce homo
(14) Zweig, S. 242
(15) Hogben, S. 22
(16) Doktor Faustus, S. 158
(17) Doktor Faustus, S. 252
(18) Doktor Faustus, S. 321
(19) Doktor Faustus, S. 360
(20) Doktor Faustus, S. 465
(21) Doktor Faustus, S. 240
(22) Doktor Faustus, S. 242
(23) Deutschland und die Deutschen, S. 16f.
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
Dann muß ich feststellen, daß Herr Bergmann offenbar seine Dissertation (?) oder Teile davon hier hineingesellt hat. ist das wirklich der passende Platz dafür???
Ein leichtes wäre es gewesen, den Text zu kürzen, ihm von seiner wissenschaftlichen, durch die Form erzeugte Drögheit zu befreien (Drögheit, auch wenn das Thema an sich sicherlich interessant ist, sogar für mich, der ich kein Fan des so überaus blasiert schreibenden Lübeckers bin) und daraus einen guten Kolumentext zu machen . Finde ich, aber die Möglichkeit wurde offenbar verpasst, verworfen, wasauchimmer.
Am 25. März 2009 habe ich diesen Text in meinem Kolumnen-Fach abgespeichert, daher das Datum.
Thomas Manns Stil blasiert? Man muss l e s e n können.
(03.04.09)
ich werde die KV-Porträts fortsetzen.
Ich werde im Sommer wieder mehr Zeit haben. Meine schulische Arbeit frisst mich auf. Aber spätestens ab Sommer 2010, wenn ich in den Ruhestand gehen muss, habe ich mehr Zeit und kann kontinuierlicher porträtieren.
Ich danke dir sehr für deine anerkennenden Worte und grüße dich!
Herzlichst: Uli