KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Mittwoch, 24. März 2010, 12:24
(bisher 2.913x aufgerufen)

Ein gescheiterter Romanbeginn

191. Kolumne

(von Bergmann)


Der folgende Text ist der Versuch eines Romanbeginns - es soll der Niedergang eines Mannes gezeigt werden, den ein Herzinfarkt mit nachfolgenden Hirnkomplikationen aus dem aktiven Leben riss.

Dieser Text ist mir nicht recht gelungen, denke ich. Aber woran liegt das? Habe ich zu sentimental erzählt? Oder viel zu alltäglich, clichéhaft? Liegt es an der Sprache, die zu clichéhaft ist?

Ich tendiere dazu, mich in allen drei Punkten zu kritisieren. Oder irre ich mich in meiner Selbstbeurteilung?



Station 03

„Alles Scheiße“, sagte er, „alles Scheiße!“ Immer wieder diesen einen Satz. Er lag auf dem weißen Metall, das Laken hatte er weggestrampelt, er lag fast unbekleidet in der Hitze des Raums. Draußen brannte die Sonne und die Schwüle flutete durch das weit geöffnete Fenster gegen die weißen Wände. Alles so weiß hier, dachte Andrea, die Hitze tötet alle Farben. Sie schaute ihm ins Gesicht, aber er lag nur da, die halbgeöffneten Augen starrten an die weiße Decke. „Schau mich an!“, sagte sie zu ihm, ziemlich laut, befehlend und flehend zugleich. „Raoul! Siehst du mich?“ Aber er bewegte die Lippen nicht, die Augen schienen zu blinzeln. Sie dachte, er schaut mich jetzt an, er sieht mich! Aber als sie seinen Arm berührte, fiel der Kopf zur anderen Seite. Raoul war weg. Er war gar nicht da, dachte sie.

Die Schwester stand am Kopfende und wechselte die blaue Flasche aus. Von oben kamen die Schläuche, einer ging in die Nase, ein anderer durch den Hals. Sie hatten einen Luftröhrenschnitt gemacht, dadurch wurde das Atmen besser. Er hatte gestern die Augen aufgeschlagen. Aufgerissen!, dachte Andrea, er hatte die Augen aufgerissen und sie angestiert, bis sie spürte, dass er durch sie hindurch sah. Er war immer noch in seiner Welt. Seit er vor zwei Wochen zweihundert Meter vor seiner Wohnung auf der Straße zusammengebrochen war, lag er im Koma, er war da und er war nicht da. Andrea dachte an die letzte Physik-Vorlesung, an Schrödingers Katze. Raoul ist jetzt so eine Katze, er ist tot, und er ist nicht tot, es hängt von mir ab. Er ist mehr tot als lebendig, sagte sie sich. Ist Totsein dann nicht besser als so ein halbtotes Leben, ein Leben, das kein Leben mehr ist? Raoul liegt da wie ein Materieklumpen, der nur funktioniert, solange die Schläuche an den Körper angeschlossen sind. Aber das Hirn ist abgeschaltet. Vielleicht stand by. Ich weiß nicht, ob er so tot leben soll, vielleicht zwei drei zehn oder zwanzig Jahre, jeden Tag künstlich ernährt, hin und her gerollt im Bett, damit der Körper nicht verfault. Das ist die Hölle, dachte sie.

„Alles Scheiße!“, hatte Raoul gesagt, aber es kam so automatisch heraus, das war nicht Raoul. Raoul weiß nicht, was mit ihm los ist. „Wird er wieder richtig wach?“, fragte sie die Schwester. „Es ist viel zu früh für eine Prognose“, sagte die Schwester. „Aber dass er überhaupt etwas sagt, macht uns Hoffnung.“ Andrea spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, sie wollte am liebsten das Zimmer verlassen. Raouls Stimme klang in ihren Ohren weiter, die schwachen Laute, die er durch die Membrane am Hals hervorstieß, diese verzitterten Worte! Das war nicht Raoul, das waren – Tierlaute! Er hat eine Seele, die sprechen will, aber sie schläft, er weiß nicht, wo er ist, er spürt sich selbst nur im Schmerz. Andrea schaute zum Bett, Raoul verschwamm vor ihren Augen. Raoul ist nicht da. Vielleicht kommt er nie wieder zurück. Da wo er jetzt ist leidet er vielleicht weniger als hier, wenn er aufwacht. Sie sah ihn an. Nein, dachte sie. Sie trocknete die Augen und stand auf. Raoul hatte die Augen geschlossen und schlief fest seinen doppelten Schlaf.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Lala (02.04.10)
Hallo Bergmann.

Überschrift:

„Station 03“. Das ist nicht gerade ein Burner. Warum nicht 05? 08? 15? Warum 03? Aber die Frage ist auch nicht spannend. Nur Autisten würden sich mit Hingabe der Frage widmen ob es einen statistisch relevanten Zusammenhang zwischen den Spielern von Standard Lüttich, die im Geburtsdatum eine Drei haben, den Zeiten, die man mit der Londoner Tube braucht, um von einem Krankenhaus zum anderen zu kommen und der chemischen Zusammensetzung einer mitteleuropäischen Notdurft. Ich neige zu anderen Hobbys und sehe die Überschrift als schlichten Verweis auf den Handlungsort: Aha, wir befinden uns in einem Krankenhaus.

Erster Satz:

Alles Scheiße“, sagte er, „alles Scheiße!“ Immer wieder diesen einen Satz.

Das ist ein mutiger Beginn aber vielleicht auch der erste Schlüssel, der uns hilft bei der Beantwortung der Frage, warum der Dein Romananfang Scheiße ist. Zugegeben, das ist ins Unreine geschrieben, aber Du wirst mir sicherlich zustimmen, dass Dein Anfang bei sehr vielen Lesern eine Abwehrhaltung aufbauen wird und eine Grundstimmung a la: „Dann kann der Rest ja auch nicht besser sein“ erzeugen wird und die werden das Buch oder das Manuskript ungelesen wieder zuschlagen und weglegen. Die mutigeren, die intelligenteren Leser, werden wahrscheinlich eine Viertelbraue hochziehen und sich fragen: Wie kommt er denn aus der Nummer wieder raus.


Zweiter Satz:

Er lag auf dem weißen Metall, das Laken hatte er weggestrampelt, er lag fast unbekleidet in der Hitze des Raums.

Bildliche Vorstellung: Wir sind im Krankenhaus. Ein Mann (er) liegt in einem Bett. Ergo in einem Krankenhausbett. Aha: ein Patient. Aber! „Er lag auf dem weißen Metall“. Bitte? Wow. Der Patient ist bestimmt nicht privat versichert. Denn eigentlich lag er schon die ganze Zeit auf Metall. Denn die Matratze, die fehlte anscheinend ohnehin, oder? Oder ist es normal, wenn man das Laken wegstrampelt, auf Metall zu liegen? Bzw. auf dem Bettenrost? Ich meine nicht. Er lag fast unbekleidet? Ja, hätten sie ihn anziehen sollen? Meistens trägt der gemeine Patient nur ein grünes Flügelhemd mit freiem Blick aufs Ärschelein, sofern er in der Senkrechten ist. Hm. Du siehst, Bergmann, das die Informationen zu Anfang zumindest bei mir ein sehr abstraktes, inkohärentes Bild erzeugen. Es ist natürlich zweifellos so, dass der Text dann etwas besser, etwas geschlossener, kohärenter wird, aber er bleibt vor allem eine Antwort auf die alles entscheidende Frage schuldig: Warum zum Teufel soll’s mich denn interessieren warum dieser Raul oder Raoul alles Kacke findet? Ja, ist Kacke ohne Matratze mit Schlauch irgendwo auf Station 03 zu vegetieren. Ja. Aber? Nichts, aber.

Darum vermute ich, dass Du, lieber Bergmann, mit diesem, Deinem Text, uns einen Spiegel vorhalten willst. Oder besser: eine Art Generalkommentar, wie „Scheiße“, wie rundum und geradeheraus gesagt „Alles Scheiße“ Du, die hier auf dem Metallgitter, auf der Matrix des Internets, versammelten und gelagerten Texte von Fantasie Autoren a la „Raoul und Co.“ findest. Wenn es nicht immer irgendwelche Doofnüsse geben würde, die einem vollkomatösen Scheißtext irgendeine Hirnwichse aus den Absätzen ausrubbeln würde, wären die allermeisten, ja, was rede ich?, hundert Prozent der Texte beim Abdecker, beim Bitformatierer, Bytezerschredder oder der fdsik-newpartition gelandet. Ja, Bergmann, Du bist mir schon ein Schlitzohr, ein ganz gerissenes sogar. Wenn nicht? Na, dann weißte aber jetzt trotzdem warum das alles Scheiße ist – oder war. Ist ja auch egal. Ich machs wie der Sammer: Mund abputzen. Nächstes Spiel.

Gruß
Lala.

 Dieter_Rotmund (08.04.10)
„Alles Scheiße“, sagte er, „alles Scheiße!“ Immer wieder diesen einen Satz. Er lag auf dem weißen Metall, das Laken hatte er weggestrampelt, er lag fast unbekleidet in der Hitze des Raums. Draußen brannte die Sonne und die Schwüle flutete durch das weit geöffnete Fenster gegen die weißen Wände. Alles so weiß hier, dachte Andrea, die Hitze tötet alle Farben. Sie schaute ihm ins Gesicht, aber er lag nur da, die halbgeöffneten Augen starrten an die weiße Decke. „Schau mich an!“, sagte sie zu ihm, ziemlich laut, befehlend und flehend zugleich. „Raoul! Siehst du mich?“ Aber er bewegte die Lippen nicht, die Augen schienen zu blinzeln. Sie dachte, er schaut mich jetzt an, er sieht mich! Aber als sie seinen Arm berührte, fiel der Kopf zur anderen Seite. Raoul war weg. Er war gar nicht da, dachte sie.

"Station 03" gefällt auch mir nicht. Der Plot hat mich auch nicht gerade vom Hocker und muß die Geschichte im Krankenhaus beginnen? Warum nicht zuhause, nach dem Krankenhaus? Das fände ich etwas spannender, denn da heißt es "Infarkt vs. Alltag".

Insgesamt etwa zu prätentiös! Schwüle, die flutet; Hitze, die Farben tötet, Augen die zu blinzeln "scheinen" und dann auch noch jemand der "Raoul" heißt. Also, neeee!
(Weiter habe ich übrigens nicht gelesen, ich wurde nicht gefesselt!)
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram