KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Der amerikanische Traum von der Geschichte
218. Kolumne
Über Washington Irvings Erzählung „Rip van Winkle“ (1819)
Auf den ersten Blick erscheint der berühmte Satz Fichtes, „Ich bin ich“, unsinnig in seiner Trivialität. Er ist eine Tautologie von der Art „Weiß ist weiß“. Doch bezeichnet er gerade wegen seiner Einfachheit treffend die Identität des Menschen, d. h. seine Übereinstimmung mit sich selbst. Insbesondere wird dies in der Vereinung des satzes klar: „Ich bin nicht ich“, ruft Rip in seiner Verzweiflung aus. Er hat die Einheit von Körper und Geist verloren.
Es ist ein kunstvolles Mittel Irvings, den Verzweifelten sich selbst erläutern zu lassen. So sagt Rip weiter: „Ich bin jemand anders“, und auf seinen Sohn zeigend: „Das ist ein anderer, der in seiner Haut steckt –“. Der Verzweifelte hat indessen nicht das nötige Bewusstsein, seinen Zustand wirklich zu durchschauen, denn der Identitätsverlust bringt es mit sich, dass er die Kontrolle über sein Selbst verliert – Selbstbeherrschung ist so gesehen nichts anderes als die Fähigkeit, sich selbst zum Gegenstand seiner Gedanken zu machen. Wenn aber der verzweifelte Held der Erzählung nicht dazu in der Lage ist, so kann er kaum Gründe für seinen Identitätsverlust in bewusster Absicht äußern. Irving entpuppt sich hier jedoch als ein Meister der psychologischen Schreibweise, der seinen Helden unbewusst das sagen lässt, was dem Leser bewusst werden soll.
Am bemerkenswertesten finde ich, dass er Rip beiläufig sagen lässt: „- gestern abend war ich noch ich selbst, ...“. Doch in der Beiläufigkeit dieser Bemerkung wird die tiefste Sinnschicht der Erzählung, die ihr eigentliches Thema ausmacht, angesprochen: Es ist die Wahrheit des Satzes: „Der Verlust der Geschichte ist nichts anderes als der Verlust der eigenen Identität; der Verlust der Identität ist der Verlust der Individualität.“ So ist die Identitätskrise Rips als Schlüsselstelle der Erzählung zu beziehen auf die geschichtlichen Veränderungen des frühen Amerika: Im Gegensatz zu Rip gewinnen die Vereinigten Staaten erst ihre Geschichte, ihre Identität. An Rips Schwierigkeiten mit der Realität, in die er sich nach seinem Erwachen gestoßen fühlt, wird evident, dass Individualität ohne Erinnerung unmöglich, Identität ohne Geschichtsbewusstsein nicht aufrechtzuerhalten ist.
Dass in diesem Zusammenhang auch der für die ganze weitere nordamerikanische Literatur so bedeutsame Vater-Sohn-Konflikt berührt wird, sei hier nur am Rand erwähnt. Auch bei diesem Konflikt geht es um Selbstsuche und Selbstfindung, die ohne Geschichte nicht erfolgreich verlaufen kann, auch wenn es sich hier nur um die eigene private Geschichte handelt.
Der American Dream von der Geschichte, der in der Zeit der Romantik geboren wurde, lebt auch und gerade in dieser Geschichte.
Der Leser lernt aus Rips am Ende bewältigter Krise, dass seine Teilnahme an der Geschichte aus gesellschaftlicher Mitverantwortung (die Rip schon vor seinem langen Schlaf versäumt und verträumt hat) eine unabdingbare Voraussetzung für die eigene Selbstfindung darstellt.
Zwar gilt, dass der Mensch Geschichte macht – und dann wieder die Geschichte den Menschen –, doch lese ich aus Irvings Erzählung die Forderung heraus, an diesem dialektischen Prozess teilzunehmen. Irving postuliert den Glauben an den freilen Willen als Voraussetzung der Freiheit.
Ulrich Bergmann
[30.5.1980 während der Klassenarbeit meiner 8c geschrieben; 45’]