KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Brief halb an mich selbst
255. Kolumne
Du: unterfordert? Von wem? Von der Welt, der du dich stellst, oder von dir selbst? Und du meinst, vielen geht es so? – Ich denke, es liegt nicht an der Welt, sondern oft an zu leichtem Aufwachsen. Bei dir weiß ich es nicht. Vielleicht Veranlagung. Phlegma. Scheu vor den Mühen der Ebenen? Das Wichtigste ist: Du lebst gern. Wenn das so ist, dann ist jede Lebensart schon dadurch gerechtfertigt. So bin ich ja selbst gestrickt. Ich begann zu spät mit dem Schreiben, und jetzt bin ich nicht eifrig genug; vielleicht auch nicht gut genug. Aber mir behagt’s in der Nichtaufstiegszone. Du wälzt Wörter, das stimmt. Du jonglierst mit ihnen, spielst semantisch die Wortfelder durch, pflügst sie um, reimst auf Teufel komm rein, spielst dich aus, und das ist dein Qlück. Darin bin ich dir ein Bruder – Schlaf wie du, und Bier statt Koffein, und Briefe und Kommunikation mit Freunden und Gleichgesinnten, nicht politisch, sondern im Erzeugen von Wortgefüge und Sinnfugen.
Du schreibst: Das Leben braucht uns nicht. Der Satz ist tückisch, denn er suggeriert ein Subjekt über mir. Ich aber sage: Ich bin das Leben, solange meine Sanduhr tickt, und ich werde nicht wahnsinnig wie Hölderlin an dem Gedanken, dass ich in meinem Werk vielleicht doch nicht überleben könnte. Ich kriegs ja nicht mit. Ich will mir weder beim Sterben zusehen noch beim Überleben, und schon gar nicht beim Schlafen oder Ganztotsein. Jetzt bin ich alles, nachher nichts. Die christliche Hoffnung an das Umgekehrte ist wahrscheinlich gesünder, aber eigentlich nur so eine komische Art Apotheose der Depression, um sie ertragen zu können. Kann sein, dass Religiosität die beste aller Neurosen ist, was Gesundheit, Leidensfähigkeit und Lebenslänge angeht, aber das will ich nicht. Ich will lieber mein Leiden am Leben so auskosten wie ein Kind, das weint und nicht aufhören will zu weinen, weil es Lust bereitet. Vielleicht ist die Kunst so ein Weinen und wird zur Kunst des Lebens, wenn wir darin zu leben verstehen. Und ich bin ziemlich sicher, dass es dir wie mir gelingt, wenn auch nicht immer, aber doch oft genug. Thomas Mann gelang das im Schreibdienst, den er sich verordnete, aber eingetrübt wurde sein Leben in seinen Schöpfungen durch den Ruhm, der ihn hart in die Welt hineinstieß, aus der er doch flüchtete, und so war er wie Tonio Kröger, wie Krull, wie Adrian Leverkühn immer hin und her geworfen zwischen zwei Welten: Wie in Christian Andersens Märchen von der Meerjungfrau, das Thomas Mann im „Doktor Faustus“ zur Hauptmetapher neben dem Teufelspakt macht. Leverkühn muss leiden, muss krank sein, um seine Welt erschaffen zu können – vielleicht lebst du eine bessere Dialektik als dieser wissende, allzu bewusste Künstler.