KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 06. Januar 2012, 16:31
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Von der Erft bis an die Elbe

282. Kolumne

Hier ein Rückblick auf eine Klassenfahrt vor wenigen Jahren - aus Sicht zweier Schülerinnen. Dieser Artikel wurde im Jahresheft der Schule veröffentlicht:

VON DER ERFT BIS AN DIE ELBE
Zahlreiche Schmollgesichter hatte es gegeben, als Ulrich Bergmann uns Schülern der 9b verkündete, Theater würden wir erst wieder in der 10. Klasse spielen. „UB“ war der Ansicht, ein Jahr später seien wir reifer und geeigneter, ein wirklich sehenswertes Spiel darzubieten.
Dieser Reifeprozess mag alterstypisch sein, vielleicht war es aber ein Fehler, ihn auch auf unsere Klasse zu übertragen. In der neunten blieben wir noch unserem Ruf von Seiten der Lehrer und Mitschüler, eine engagierte, interessierte, aufgeschlossene bzw. von Strebern überlastete Klasse zu sein, treu.
In der zehnten - frisch in der Pubertät gelandet - empfingen wir UB eher mit müden Augen und hängenden Schultern, getreu dem Motto „Schule is' doof“, als er uns unser neues Theaterstück nannte. Nie gehörter Autor, nie gehörter Titel.
Die Einstellung änderte sich aber schlagartig, als wir das erste Mal die giftgelben Reclam-Heftchen in den Händen hielten und das 46 Seiten kurze Stück in der Klasse laut lasen.
Eugène Ionesco: „Die Kahle Sängerin“, ein „Anti-Stück“, kam beim Großteil der Klasse sofort gut an.
So gefiel uns „Bili-Strebern“ z. B. Ionescos Art, gewollt penetrant das Wort „englisch“ als Ausdruck für die Monotonie eines Abends zwischen Eheleuten zu benutzen („[...]Ein gutbürgerliches englisches Interieur mit englischen Fauteuils. Eine englische Abendunterhaltung. Mr. Smith, ein Engländer, mit seinen englischen Pantoffeln, sitzt in seinem englischen Fauteuil, raucht eine englische Pfeife und liest eine englische Zeitung an einem englischen Kaminfeuer...[...]“).
Da es in diesem Stück nur 6 Rollen gibt, wir allerdings eine sehr große Klasse waren, wurden die Rollen auf alle verteilt. Bei einem absurden Stück war es nicht schlimm, wenn ein und dieselbe Figur von fünf verschiedenen Schülern gespielt wurde.
All der Enthusiasmus zu Beginn verflog allmählich, als die Proben starteten. Niemand konnte den Text, niemand wollte seine Rolle. Hier Genörgel, da Genörgel. Ohne Ausnahme (auch nicht von UB) war man gelangweilt. Einzig Lilia P. war mit ihrem beeindruckenden Spiel in der Lage, uns aus unseren abschweifenden Gedanken zu reißen.
So kam, was kommen musste, zur Premiere fühlte sich niemand wirklich vorbereitet genug, und die Generalprobe am Vormittag des Tages wurde fast schon absurd schlecht und war von zahlreichen Wutausbrüchen gekennzeichnet. Es gab wahrscheinlich keinen einzigen Schüler, der sich nicht auf die Oberstufe und Auflösung der Klassengemeinschaft freute.
Entgegen unseren eigenen Erwartungen verlief die Premiere dann aber sehr gut und erfolgreich, und beim Endapplaus hatten sich dann alle wieder unheimlich lieb und fühlten sich bestätigt und schwammen in der Illusion, wieder einmal fleißig gewesen zu sein.
Nach den vier Aufführungen in der Heimat wollte man das Stück dann auch in der Partnerschule Dresden-Cotta vorführen. Da sowieso eine Abschlussfahrt der Klasse vor Beginn der Oberstufe anstand, verbanden wir diese zwei Zwecke und verbrachten vier Tage auf der „Koje“, ein Jugendherbergsschiff, direkt auf der Elbe, Dresden- Neustadt.
Die Klassenfahrt hatte ein abwechslungsreiches, rein kulturorientiertes Programm, das so mancher trotz vornächtlicher Strapazen und morgendlichen Nachwirkungen tapfer durchstand. Die Semperoper, die Galerie der alten und die der neuen Meister, einen Theaterbesuch in der Komödie (oder auch: ein angenehmes Nickerchen in großen, roten Polstersesseln), der Plus, der blaue Aldi-Nord, die russische Wodkabar und nicht zu vergessen die unvergleichliche Wiese, von der aus wir einen Blick auf die Dresdner Skyline hatten und auf der wir große Teile unserer Abende feiernd verbrachten, waren uns ein unvergessliches Vergnügen.
Es gab dennoch keinerlei größere Zwischenfälle (in der Semperoper: „Hilfe, ich muss k o t z e n !“ blieb beispielsweise nur ein Ausspruch), denn Vernunft haben wir ja bei unsere Alleingängen durch Dresden zur Genüge bewiesen. Folglich suchte der oder die eine eben zum Wohle der Klassengemeinschaft eine Apotheke auf…
Eine straffe Wanderung durch die Sächsische Schweiz ließ sich UB jedoch nicht nehmen. Gnädig gewährte er nur zweien aus unter anderem gesundheitlichen Gründen das Fernbleiben mit der Bedingung, ein Restaurant für das Abschlussessen zu suchen. So traf es sich dann, dass sowohl einerseits die beiden Suchenden plötzlich von der Parade des Christopher Street Day Dresdens und andererseits die tapferen Wanderer bei ihrer Rückkehr etwas überholpert wurden. Schockierte Worte eines Mr. Smith dazu: „Im McDonalds, da war einer mit so Handschellen und der hat mich ANGEGUCKT!“ Tja, so was kennt man in der Eifel eben nicht. Auf diese Weise bot Dresden noch einige Horizonterweiterungen der anderen Art…
Auch UB mischte immer ordentlich mit. Er entwickelte nicht nur eine Vorliebe für „Becks“, sondern auch eine besondere Gabe, uns in unseren jugendlichen Problemen zu verstehen und zu beraten. Vielen Dank hierfür!
So entstanden nächtliche Diskussionen bis 4 Uhr morgens über Kunst, Bier, Musik, Theater, Bier, Unterschiede zwischen Lehrern und Schülern / Männern und Frauen, Zwischenmenschlichkeiten, Bier und anderen Freuden und Leiden des Lebens.
Bei der Theateraufführung in der Partnerschule kam der alte „Bili-Streber“ dann wieder in vielen von uns durch, man wollte besser sein als die Dresdner, war aber zugleich teils zu verkatert, um bei deren Anfangsproben ihres Stückes zu folgen, klar genug aber, um es zu überbieten. Gnädig zeigte sich UB bei der Besprechung mit den Worten „Mir haben die Glocken gefallen!“
Auch die Aufwärmübungen der dortigen Lehrerin konnten uns kaum wachrütteln, als wir im Kanon einen „Obstsalat“ singen sollten. Verschiedene Obstsorten im Kanon zu singen („Baaaanane, Baaanaane, Aaananas…Kiwi, Kiwi…“) war uns zu albern, denn wir hatten unser eigenes musikalisches Stimmungslied (-Zensur-). UB jedoch zeigte uns mit vollem Enthusiasmus, wie man die „Mango“ richtig schmettert.
Trotz schlimmer physischer Umstände (zu der Übernächtigung kamen noch 32° C Hitze hinzu) spielten wir gut. Es war ein würdiger und gelungener Abschluss unserer Theaterarbeit.
Dresden als Absch(l)ussfahrt wird wohl bei allen eine schöne Erinnerung bleiben, denn insgesamt blickt man auf 5 Jahre Klassengemeinschaft zurück – das Ende krönt das Werk. Und so glücklich und zufrieden kehrten wir in unsere Kleinstadt zurück. Es ging uns „himmlisch, es ging uns ionescisch“...

H.B. und E.K.

(in: Quadrum 2005, St. Michael-Gymnasium Bad Münstereifel)


Anm.:
Bili = von bilingual. An den Gymnasien Nordrhein-Westfalens gibt es bilinguale Klassen und Oberstufenkurse, in denen einige Fächer (Geschichte, Erdkunde) in englischer bzw. französischer Sprache unterrichtet werden. Solche Schüler können nach dem Abitur an englischen/amerikanischen bzw. französischen Universitäten ohne Aufnahmeprüfung studieren.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Dieter_Rotmund (06.01.12)
Gerne und mit Amüsemang gelesen!

"...hatten sich dann alle wieder unheimlich lieb" - soviel herrlichen Zynismus traue ich 10-Klässler eigentlich nicht zu...

Offen bleibt - wahrscheinlich nicht nur bei mir - was ein "Bili-Streber" ist.
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