KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Theater Theater! (300. Kolumne)
300. Kolumne
Mitte des 14. Jahrhunderts: Rom steht in Flammen, der Papst regiert von Avignon aus. In der Ewigen Stadt kämpfen die rivalisierenden Adelsfamilien Colonna und Orsini erbittert um die politische Vorherrschaft. Da reißt ein charismatischer Idealist die Macht an sich, ein Mann aus dem Volk und Führer der Bürgerpartei – Cola di Rienzi. Sechs Jahrzehnte nach der erfolgreichen Dresdner Uraufführung findet ein mittelloser „Künstler“ in Richard Wagners Werk über Aufstieg und Fall eines Volkstribunen seine eigene politische Sendung vorgezeichnet. Sein Name: Adolf Hitler. Regisseur Philipp Stölzl interpretiert RIENZI als eine Parabel über die gefährliche Gratwanderung zwischen Hybris und Realpolitik. Der republikanische Traum des Volkstribunen mündet in Diktatur und Zerstörung. In der ihm eigenen Bildsprache wird die Bühne für Stölzl zur multimedialen Versuchsanordnung über das unausweichliche Schicksal eines Politikers mit Allmachtsphantasien.
Rienzi - als Hitler! wie zuvor Boris Godunov, Alberich und Macbeth und demnächst (ich muss es ausplaudern!) Hans Sachs, der steinerne Gast und Don Carlos!
Brechts PUNTILA in Köln: Auch hier – wie in Bonn – vergagte die Inszenierung das gesamte Stück und meinte, alle Zuschauer auf Comic-Niveau abholen zu müssen. Der zweite, schon viel zu lang anhaltende Trend ist die Ansiedelung der Stoffe im Unterschichten-Milieu, und Intellektuelle oder 'Intellektuelle' scheuen sich nicht, gerade in der Verflachung die Vertiefung zu sehen. (Reich-Ranicki hat da durchaus vorgearbeitet. Wo haben wir heute einen Adorno?)
Mir geht es bei der älteren Literatur so, dass ich als Leser ohne aktualisierende Inszenierungsmittel den wesentlichen Kern des Gelesenen auf mein Leben beziehen und auch im Theater und in der Oper auf diese didaktischen Zeigefinger verzichten kann, die mich nur beim Interpretieren stören.
Gestern Morgen fuhr ich mit dem Rad in die Sonne, dann zum Kaiserplatz, und nichts zu suchen war mein Sinn, als ich in der Librairie roulante gegenüber der Kreuzkirche die Bücher durchsah, bis mein Auge auf Hermann Hesses „Geheimnisse. Letzte Erzählungen“ (edition suhrkamp) fiel. 3 €. Ich kaufte auch noch ein Reclam-Heftchen mit Jean Pauls „Schulmeisterlein Wutz“, bestellte mir im Freien der Gelateria nebenan einen Espresso macchiato und las erst einige Seiten Jean Paul – mit großer Freude an der uneingeebneten Sprache –, und dann, weil ich neugierig war, Hermann Hesses Erzählung „Ein Maulbronner Seminarist“ (1954): Ich bin begeistert! Die unprätentiösen Sätze des großen Meisters fielen in mein Herz wie ein Lebenselixier. Eine wunderbare Geschichte, richtig gut dargereicht, und was für eine schöne Auflösung zum Schluss, auf die der Leser so ohne Weiteres nicht kommt; denn lange denkt man, HH mache sich hier einen Spaß, bereite dem Leser ein selbstironisches Spiel, alles ist eine Erfindung, denkt man. Und dann ist es doch wahr. So ist es auch mit der poetischen Wahrheit: Die abstruseste Geschichte ist wahr, wenn sie richtig erzählt wird. So fing der Tag gut an, indem mir eine Sonne von außen und eine von innen schien und mich doppelt wärmte.
Gestern aber grandioses Aktualitätstheater, Gastspiel in Bonn: VERRÜCKTES BLUT von Nurkan Erpulat und Jens Hillje: „Junge Männer mit Hintergrund versetzen neuerdings die deutsche Gesellschaft im alltäglichen Endkampf um die abendländische Zivilisation in Angst und Schrecken. Ihr Hintergrund ist meist ein migrantischer oder muslimischer oder bildungsferner. Manchmal treibt diese Angst auch Wurzeln, die sind dann vorzugsweise türkisch oder arabisch. Dann zwingen diese jungen Männer ihre Frauen Kopftuch zu tragen, und statt sich zu bilden und zu arbeiten zeugen die Integrationsverweigerer auch noch ununterbrochen weitere neue Kopftuchmädchen. Soweit die gängigen Klischees in der gegenwärtigen Islamdebatte. Die einzige Hoffnung auf Rettung vor dem Untergang richtet sich nun auf die gute alte deutsche Schule, also: Bildung, Bildung, Bildung!!!“ Surreale Handlung: Eine der Lehrerinnen, auf denen die letzte Hoffnung der Nation ruht, bekommt eines Tages eine einzigartige Chance: Sie versucht ihren disziplinlosen Schülern mit Migrationshintergrund gerade Friedrich Schiller und seine idealistischen Vorstellungen vom Menschen nahe zu bringen, als ihr eine Pistole in die Hände fällt, eine echte. Kurz zögert sie, dann nimmt sie ihre Schüler als Geiseln und zwingt sie mit vorgehaltener Waffe, auf die Schulbühne zu treten und zu spielen. Denn allein Theater kann die Welt noch retten und heilen. Mit dieser Geiselnahme hebt nun nicht nur ein abgründiger Tanz der Genres vom Thriller über die Komödie zum Melodrama an, sondern auch die lustvolle Dekonstruktion aller vermeintlich klaren Identitäten ...
Das war richtig gut gemacht, wenn auch eine eigentümliche Mixtur aus didaktisch-moralischem Zeigefinger (aber immer aufklärerisch und vernunftorientiert, immer offen und direkt) und selbstironisch. Stehende Ovationen!
In vielen Opern wird unter den fleißigen Händen der Regietheater-Regisseure ordentlich abgehitlert, das Geschehen also aufgehitlert - Motto: Mehr Hitlers auf die Bühne! Sinfonie der tausend Hitlers! Naheliegende Hitlers: Wotan-Hitler, Macbeth-Hitler, Alberich-Hitler, Boris Godunov-Hitler, - dann, wenn diese Stücke fertig- und runtergehitlert wurden, als nächstes: Hans Hitler-Sachs, „Don Hitler Carlos“ und d-Moll-steinerner-Gast-Hitler. Wieso muss Rienzi Hitler sein? Parallel: Wieso muss Amphytrion einen Panzer fahren? Wieso wird der holde Abendstern im Irrenhaus besungen und spielt Lohengrin im Klassenzimmer? (Estragon und Wladimir vertreiben sich die Zeit mit einer elektrischen Eisenbahn zu Bachs Wohltemperiertem Klavier. Gut, das kann ich nachvollziehen. Erstens ist es langweilig, zu warten und wann das Stück spielt, weiß man ja auch nicht.) - Wieso muss Rienzi aber Hitler sein? Rienzi ist für mich ein mittelalter Römer und kein 20.-Jhdt.-Nazi. - Ich bin aber natürlich auch nicht so clever wie die Theaterleute.
Einmal war ich in Brechts Mutter Courage, die völlig kaputt-inszeniert wurde. - Es hat mir ganz gut gefallen. Es gab viel Slapstick, das Publikum wurde für die Armee angeworben, es gab Ohrfeigen mit schallenden Soundeffekten. Sehr kurzweilig! Aber will ich so Mozart und Wagner, Strauss und Beethoven (Don Pizzaro - klar auch ein Nazi) sehen? Öh ...
Ich sah in Köln Laufenbergs überwiegend gute Inszenierung der MEISTERSINGER. Und ich ahnte es: Am Ende kam - um die paar nationalen Worte zu neutralisieren - die Aufhitlerung: Im Hintergrund liefen Bilder vom Dritten Reich, KZ-Bilder, Kriegsende 1945, Wiederaufbau ... Hans Sachs wurde allerdings in Ruhe gelassen, er wurde nur optisch begleitet ... (es ging so, ich will nicht zu sehr klagen, aber es ist ermüdend und zeigt die Ideenlosigkeit und die Angst der Regisseure vor dem Vorwurf der political incorrectness; siehe Diskussion um Günter Grass.)
Brechts Puntila wurde in Köln entideologisiert, d. h. kastriert; alles wurde vergaggt, fast so schlimm wie in Bonn. Warum muss das sein? Weil die Generation der heute 40-Jährigen mit Cartoons und Comedy aufgewachsen ist und jeden politisch engagierten Standpunkt zwanghaft in Frage stellt? Oder weil Theater nur noch witzige Unterhaltung sein soll. Der Begriff des Witzes sinkt derzeit immer tiefer.
Mein Hauptargument gegen die Verslapstickung und regissistische Verhunzung von Oper und Theater: Mir wird meine Gedankenarbeit behindert oder gar abgenommen, ich werde permanent mit dem didaktischen Zeigefinger durch die postpubertäre Soße der Regisseure gezogen ...
Darkjoghurt und Bergmann, April 2012
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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
Hahaha! Klischee hin oder her. das trifft es gut und wenn man das Kopftuch wegläßt, dann trifft der Satz auch auf manch konservatives deutsches Rärchen zu (natürlich verheiratet, Häuschen im Grünen, Angeberkarre in der Garage und mit Hund). Erlebe ich ständig!
Guter Kolumnentext, gerne gelesen!