KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Samstag, 16. November 2013, 13:42
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Im Dschungel der Kriterien

379. Kolumne

Du fragst nach den Kriterien, die für die Kunstbetrachtung gelten. Und du fragst, ob man viel gesehen haben muss, um die Spreu vom Weizen zu trennen (oder ob das im Gegenteil den Blick verstellt):

Kommt drauf an, bei Letzterem, ob man das Brett vorm Kopf immer wieder wegschieben kann. Wenn zum x. Mal etwas richtig gut durchdekliniert wird, dann will ich nicht abweisend sein, die Wiederholung einer guten Idee ist nicht per se wertmindernd. Wenn aber hinter die a-, e-, i-, o-, u-Deklinationen noch eine ä- und äh-Deklination folgt, wird es langweilig. Allerdings: Wenn die äh- oder üh-Deklination besser als die a-Deklination wird, dann muss der Kunstbetrachter das anerkennen, wie schon in den letzten Jahrhunderten.

Viel gesehen zu haben, schärft den Blick für die Kopie der Kopie.

Wenn die Werkidee zu dünn wird im Verhältnis zum formalen und materiellen Aufwand (so bei etlichen Werken in Venedig, etwa Dutzende von Plastik-Puppen mit Anspielung auf die Plastilin-Leichen), dann urteile ich abwertend. Solche Werke langweilen mich – wenn der naive Erstbetrachter sich davon gut unterhalten fühlt, weil er sonst nichts kennt, dann soll er sich freuen. Immer wieder zeigt sich, dass auch die Kriterien sterbliche und wandelbare Gewächse sind, die einen unendlich dichten und undurchdringlichen Dschungel bilden. Sie sind von der Subjektivität der Betrachter abhängig. Den naiven Betrachter schert das Urteil des kennerischen Liebhabers oder Fachmanns nicht. So haben wir eine riesige Bandbreite zwischen den oft sehr fundierten, aber immer auch subjektiven Urteilen der Kunsthistoriker, der Professoren und Museumsleute, der Künstler, der intellektuellen Besucher etc. bis hin zu den wenig gebildeten Betrachtern und Kindern – und sie alle stimmen ab mit ihren Füßen, auf denen sie in die Museen und Kunstausstellungshallen laufen. Entscheidend greift hier der Markt ein: Galerien, Käufer, Sammler – sie sind ein wichtiger Filter für das, was überhaupt gezeigt wird und sich hocharbeitet in immer wichtigere Ausstellungen. Diese Filterungsprozesse hängen zum Teil sehr stark vom Zeitgeist ab. Schließlich ist zu bedenken, dass sich alle genannten Aspekte mehr oder weniger dialektisch, zufällig, marktgesetzlich gegenseitig bedingen, beeinflussen – so dass kein Betrachter behaupten kann, sein Urteil sei allgemein gültig. Und doch gibt es Gutachter, die mehr Durchblick haben in diesem Dschungelwachstums-und-lichtungsprozess als andere, die uns mit ihrer Seh-Erfahrung und in Argumente gegossenen Erkenntnissen überzeugen können, so dass allmählich auch unser Urteil wächst und immer besser werden kann, wenn es sich mit anderen Urteilen misst.

Kunst wird Kunst im Museum, denkt man – und das Museum wird Museum qua Kunst, da dreht sich was im Kreis, das ist kein circulus vitiosus, sondern eine nützliche Tautologie. Ja, das stimmt, wenn das Museum kein Grab ist. Aber das Museum birgt immer nur partiell die für sicher geglaubten Ikonen der Zeit. Auch das Museum rettet uns nicht.

So will ich lieber keine allgemeinen Kriterien formulieren, auch die eisernen Kriterien sind nicht für jedes Werk gültig. Oft zieht das Werk selbst ganz bestimmte Kriterien an, manchmal werden solche Kriterien erst für dieses eine zu betrachtende Werk entwickelt.

Es ist klar, dass sich bei solcher Betrachtungsweise die Kunstbegriffe immer wieder ändern und über die Jahre langsam verschieben. Das Neue bricht stürmisch herein, nistet sich aber nur langsam ein ins Bewusstsein der Betrachter. Auch das technische Material und die künstlerischen Arbeitsmittel stehen im Wandel der Zeit und mancher Erfindungen, die mit der Kunst zunächst nichts zu tun hatten. Religionen, Weltbilder, gesellschaftliche und politische Bedingungen fließen ins Werk, das auf solchen Grundlagen erwächst.

Die Kunst lebt in und von diesem Relativismus, durch den der Betrachter sich seine Schneisen mit dem Buschmesser schneiden muss. Es gibt kein vorher festgelegtes Ziel, zu dem die Schneisen führen. Am besten gehst du wie Moses im Kreis durch die Wüste Dschungel. Am Ende siehst du mehr, du steigst auf, fliegst über das grüne Kronenmeer, lässt dich wieder fallen und legst dich ins hohe Farn und hörst, wie die Wurzeln wachsen, du siehst, wie der Himmel ins Geäst fließt, du spürst, wie’s unter dir bebt und über dir rauscht.

17.10.2013

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 loslosch (15.11.13)
der letzte absatz drückt es sprachlich gekonnt schwelgend aus. das empfinden ohne große "kunsttheorie".

... durch die wüste Dschungel. (sprachkunst!)

obwohl "Wüste Dschungel" stärker aufs auge wirkt.
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