KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Konstambul
414. Kolumne
Konstambul
Vor mir liegt Ara Gülers Bildband ISTANBUL, großartige Fotografien. Man wird diese Stadt so nie wieder erleben können – eher ist so manche Altstadt in Deutschland museal geblieben, trotz des Weltkriegs und der Nachkriegsmodernisierungen. Ich will Konstantinopel-Istanbul-Stambul kennenzulernen. Bei meinen Reisen durch die Türkei 1991 und 1992 (Antalya – Ankara – Hattuscha/Bogaskale – Sinop – Trabzon – Erzurum – syrische Grenze westlich von Aleppo, Kayseri – Antakya [Hatay] – Adana – Myra/Demre) sah ich in Anatolien schon nicht mehr von der Moderne ungetrübte alte Städte, nur Dörfer bewahrten weitgehend ihren Charakter – wie auch in der DDR bis Anfang der 90er Jahre. Manches Detail in Istanbul sieht alt aus wie die eine oder andere Gasse in deutschen Kleinstädten, die Bahnsteige erinnern an den Bonner Bahnhof. Die Istanbuler Straßenbahn sieht aus wie die in meiner Kindheit in Halle oder Bonn, manche Aufnahme wie eine französische Filmszene der 40er oder 50er Jahre. Ich kenne die Anzüge und Arbeitermützen noch aus meiner Hallenser Kindheit, auch die Fischer-Szenen (Fangschiffe in Greifswald 1953). Die Grabstelen mit Turban ... die abgearbeiteten, ausgezehrten Gesichter der Arbeiter ...
Eines Tages werden unsere Nachkommen mit ähnlicher Nostalgie zurückschauen auf unsere Welt, die uns schon jetzt oft futuristisch erscheint. Seltsam, dass das Alte bei solcher Rückschau so gut abschneidet, manchmal gleichsam als Kritik der Gegenwart, während wir im Alltag das Alte oft verdammen. Andererseits wird in dem Band Ara Gülers auch deutlich, wie arm und hart die Vergangenheit war. Das gilt auch für Deutschland, selbst wenn es viel weniger Reste des Mittelalters offenbart. Das Gefühl drängt sich auf, dass die Türkei unglaublich 'aufholt' und unseren 'Standard' erreicht; so gesehen sind Gegenbewegungen wie die Erdogans verständlich, wenn auch nicht akzeptabel, was Verdummung und Niederhalten des Volks anbetrifft oder die infame Instrumentalisierung der Religion bzw. dessen, was man dafür hält. Manchen schreitet die Zeit zu schnell voran. Die Seele kommt nicht mit.