KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Qingdao – eine neue Welt (7/11)
458. Kolumne
Am nächsten Tag wieder Unterricht. In Kunerts Parabel „Traum des Sisyphos“ steht das Wort Lidschlagschnelle, ich erkläre den Unterschied von Lid und Lied ... Da tuscheln die Schüler, und auf einmal singt der gesamte Kurs den Kanon: „Es tönen die Lieder, der Frühling kommt wieder ...“ Ich bin konsterniert. „Da muss ich nach China reisen, um ein deutsches Volkslied zu hören“, sage ich und erkläre, warum nach zwölf Jahren Hitlerdiktatur die deutschen Volkslieder so gut wie ausgestorben sind. Die Studenten lernten das Lied bei ihrer Deutschlehrerin Cäcilia, einer Tschechin. Ich antworte mit dem Steigerlied, das auf Schalke vor jedem Spiel gesungen wird: „Glück auf, Glück auf! Der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht schon angezündt’ ...“ Der Steiger, sage ich, ist ein Bergmann, er gewinnt dem Berg die Kohle und das Silber und das Gold ab, wie ich, wenn ich die Schätze in den Köpfen meiner Schüler gewinne. Mit dem Singen hatte vor Tagen ich begonnen, als ich zur Veranschaulichung des Daktylos Schostakowitschs Walzer (Nr. VI aus der zweiten Jazz-Suite) sang und den Rhythmus mit der Hand aufs Lehrerpult schlug.
Die Studentinnen übersetzen chinesische Gedichte aus der Zeit der Tang-Dynastie ins Deutsche erstaunlich gut. Hier ein Beispiel mit Binnenreimen in der Übersetzung eines Gedichts von Hè Zhīzhāng.
贺知章: 咏柳
碧玉妆成一树高
万条垂下绿丝绦
不知细叶谁裁出
二月春风似剪刀
Lied von der Weide [Übersetzung: Zheng Yuanyi, Ocean University of China, Qingdao]
Hochgewachsen steht die Weide gerade im Schmuck der grünen Jade.
Da hängen hunderttausend Zweige wie zarte, grüne Seiden.
Wer hat geschneidert diese schmalen wilden Blätter?
Vielleicht der Wind im Februar, der eine feine Schere war.
Ich korrigiere die 25 Seminararbeiten zu den von mir gestellten Themen zu Texten, die im Unterricht behandelt wurden. Die sprachliche Kompetenz reicht von „sehr gut“ – bei wenigen – bis sehr schwach (unter der Note „ausreichend“). Sprachlich und fachlich haben gute Schüler einer 12. oder 13. Klasse eines deutschen Gymnasiums mehr zu bieten. Aber was kann man erwarten nach etwa drei Jahren Studium der deutschen Sprache? Literaturunterricht gab es bisher kaum. – 100 Punkte sind die Bestnote, die Note „gut“ gibt es bei 85-95 Punkten, „befriedigend“ bei 75-85 Punkten. Wer unter 75 Punkte bekommt, verliert sein Gesicht, meint Kepser, so weit weg von der inzwischen üblichen Benotung an deutschen Universitäten sei das aber nicht, wo „gut“ eine Durchschnittsnote geworden sei. Die Studentin Gao He schrieb einen kleinen Zyklus szenischer Texte über einen jungen vaterlosen Mann, dem die Loslösung von seiner Mutter schwerfällt – und umgekehrt: die Mutter will ihn nicht loslassen. Die Texte sind humorvolle Anspielungen oder Parodien auf Parabeln Kafkas (hier „Kleine Fabel“).
L e o u n d M a
In der Nacht liegt Leo bei seiner Mutter im Schlafzimmer.
MUTTER: Eine Katze miaut.
LEO: Was? Nein, keine Katze miaut.
MUTTER: Leo, hör doch! Da miaut eine Katze.
LEO: Okay, Mama, du bist müde. Schlaf jetzt.
MUTTER: Du hörst doch auch die Katze miauen, oder?
LEO: Nein, Mama ... Du träumst von einer Katze.
MUTTER: Ich bin wach, ziemlich wach. Ich höre die Katze deutlich.
LEO: Okay ... Stille! ... Stille! ... Nein, nichts.
MUTTER (steht vom Bett auf): Warum lügst du? Du hörst die Katze doch auch.
LEO: Du hattest einen schrecklichen Traum. Du siehst müde aus.
MUTTER: Nein, keinen Traum, aber ich denke, du wirst mir immer fremder. Ich weiß nicht ... Wieso sagst du das? Du kannst mich doch gar nicht sehen!
LEO: Ja, Mama, und ich kann die Katze nicht hören.
MUTTER: Steh auf! Hilf mir! Hier liegt eine Katze! Ich kann ihr Fell fühlen! Geh weg, du Teufel, geh weg! (Sie wirft sich aufs Bett.)
LEO (verhüllt sein Gesicht mit der Bettdecke): Ich bin schon eingeschlafen.
Stille.
LEO: Mama ... Mama!
Stille.
LEO: Ma ...? Ich höre eine Katze miauen. Das ist doch eine Katze, oder?
STIMMEN: Miau ... miau ... Mama ... miau ... Mama ...