KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Sonntag, 31. Mai 2015, 23:51
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Qingdao – eine neue Welt (10/11)

461. Kolumne

Kalligraphen sind in China hoch geachtet. Der Preis für ihre Kunst ist hoch. In wenigen Minuten tuschen sie mit dem Pinsel die Zeichen, signieren und stempeln das Blatt. Mao Zedong kalligraphierte einige seiner Gedichte. Die wenigen in Deutschland (1967 bei dtv) veröffentlichten Gedichte, in denen er in sublimen Naturbildern auf gesellschaftliche Verhältnisse und auf die Notwendigkeit der kommunistischen Revolution anspielt, orientieren sich an klassischen Vorbildern und werden literarisch inzwischen allgemein hoch eingeschätzt – im Unterschied zu den „Worten des Großen Vorsitzenden“ (‚Mao-Bibel’), dem man unterhalb der Großen Mauer von Mu Tian Yu, siebzig Kilometer nordöstlich von Peking, eine Inschrift in riesigen chinesischen Zeichen widmete, die langsam überwachsen wird vom gebirgigen Gesträuch, kaum noch lesbar vom Tal aus: Lang lebe der Vorsitzende Mao.

In der Natur gefundene Steine sind im Sommerpalast und in den Frauen-Gärten des im 15. Jahrhundert erbauten Kaiserpalasts als Kunstwerke aufgestellt. Manche der Steine sind Karstgebilde. Abstrakt wirkende Skulpturen stehen neben solchen, die wie Kakteen aussehen oder wie Wolken, Landschaften, dämonische Figuren ... Selbst die Bäume wirken hier wie Kunstwerke. Die reine Natur als Muster, zum Artefakt erhoben allein durch die Art ihrer Aufstellung auf runden oder viereckigen Sockeln – Gedichte aus Stein.

Wang Fu Jing heißt die Haupteinkaufsstraße Pekings. In der Buchhandlung für ausländische Literatur gibt es Regale mit deutschen Sprachbüchern, aber nur ein einziges dürftiges Regal mit belletristischer Literatur, meist ältere Werke, Lessing, Schillers „Maria Stuart“, Goethe, Eichendorffs „Taugenichts“, Heine, Fontanes „Effi Briest“ ... eine Reihe Reclamhefte mit Schmutzrand und ein paar Übersetzungen französischer, englischer und spanischer Werke. Aus dem 20. Jahrhundert finden wir das ein oder andere Buch von Thomas Mann („Joseph und seine Brüder“, aber nur einen Teilband) Peter Handke, Thomas Bernhard, von der Literatur der Gegenwart nur Markus Werner, Wilhelm Genazino, der Krimi-Autor Fitzek, Asta Scheib ... und ein paar andere wenig bekannte Autoren – allesamt Taschenbücher, wahllos und zufällig, offenbar aussortierte Bücher, vielleicht Geschenke deutscher Buchhandlungen.

In einem alten Restaurant, spezialisiert auf Pekingenten: Säulen in einem großen Saal mit vielen runden Tischen, Goldtapeten, Wandbilder chinesischer Landschaften. Herbes Pekinger Bier. Schälchen mit Gemüse, Shrimps mit Gurkenstückchen, Tofu ... Auf einem Rollwagen kommt die gebratene Ente. Der Koch schneidet die Ente auf und serviert zum Kosten krosse Hauthäppchen. Der Kellner setzt hauchdünne Crêpes auf den Tisch. Er führt mit Stäbchen vor, wie Ente gegessen wird. Er tunkt die Entenstücke in eine Sauce und wickelt sie zusammen mit fein geschnittenem Lauch in die Crêpe. Am Ende der Mahlzeit fragt der Kellner, ob man von der Ente die Knochenbrühe trinken oder die Knochen abnagen will.

Mit der einst so berühmten Pekingoper verhält es sich so: Nur noch selten wird eine mehrere Stunden lange klassische Oper ungekürzt aufgeführt. Am Chang’an-Theater in Peking, 1937 erbaut, wird neben der klassischen auch die moderne, in der Mao-Ära entstandene Form der Pekingoper aufgeführt. Eine solche Oper dauert etwa zwei Stunden – und nicht fünf – und hat statt des gesungenen Rezitativs das gesprochene, wie im deutschen Singspiel. Es gibt maßvolle Bühnenbilder. Requisiten werden sparsam eingesetzt, akrobatische Kampfszenen fehlen, sie entsprechen nicht dem sozialistischen Realismus oder dem Realitätssinn jetzt vorherrschender Maximen. Eine Handvoll Musiker begleitet die Arien und gesprochenen Monologe und Dialoge, und zwar mit effektvollen Schlaginstrumenten (Klangholz, Trommel, Zimbel). Kniegeige, Mondgitarre oder ein anderes Zupfinstrument, Bambusflöte und Suona, der Oboe ähnlich, kommen noch hinzu.

宋家姐妹 (sòngjiā jiěmèi – Die drei Song-Schwestern) ist eine sozialistisch reformierte Pekingoper. Sie wurde zur Feier des 90. Geburtstags der Partei am 12.6.2011 im Changan-Theater uraufgeführt. Im Mittelpunkt steht Song Qingling, die Witwe von Sun Yat-sen, der 1925 im Alter von 58 Jahren starb. Song Ailing heiratete den Bankier H. H. Kung. Song Meiling ist die Ehefrau Jiang Kai-sheks, der 1927 den Sieg im Bürgerkrieg für die Nationalisten errang. In diesem Zeitpunkt setzt die Oper ein. Über die drei Schwestern sagt man in China: 一个爱钱、一个爱权、一个爱国 (Yí ge ài qián, yí ge ài quán, yí ge ài guó) – „Eine liebt das Geld, eine liebt die Macht, eine liebt das Land.“

Libretto und Inszenierung arbeiten eine Heldin heraus, die sich gegen ihre bürgerlichen Schwestern und gegen ihre Mutter für den Kommunismus entscheidet. Das führt zum Bruch mit ihrer Familie. Song Meiling, die mit Jiang Kai-shek verheiratete Schwester wendet sich von Song Qingling in aller Härte ab. Ihre hochstilisierte Gestik und Mimik ersetzt beinahe alle Worte. Song Ailing dagegen löst sich nur schwer und spät von ihrer politisch abtrünnigen Schwester, sie erhält bedeutendere dialogische und monologische Gesangspartien.

Ich sitze am Tisch Nr. 16, nicht weit von dem versenkten Orchester. Eine Tasse Tee, eine Kanne heißes Wasser und etwas Gebäck werden serviert. Das Publikum ist oft unruhig, jung und alt unterhalten sich hin und wieder während der Aufführung. Oft wird schon während einer Koloraturarie Beifall geklatscht, und nach dem pointierten Abschluss einer Arie rufen viele: Hao! (Gut!) Leider werden die Singstimmen elektrisch verstärkt, eine globale Unsitte ...

In die Originalmusik der Oper werden über Tonband Zitate montiert – aus Dvoraks Cellokonzert, Smetanas „Moldau“ und Tschaikowsky 1. Klavierkonzert – offenbar zur romantisierenden Verklärung der Heldin. Orchestersequenzen im Stil pathetischer Filmmusik kommen hinzu – und Songs auf einer Vorbühne mit zunächst einer Erzählerin, dann zwei, dann drei. Sie kommentieren am Ende eines Akts mit ziemlich einfachen Liedern die Handlung. Gestik und Mimik werden – im Stil der klassischen Peking-Oper – sparsam und sehr langsam, aber in hohem Maße stilisiert und sehr wirkungsvoll eingesetzt.

„Dui bu qi ...“ (Verzeih mir!) singt Song Qingling nach dem Bruch mit der Mutter, und zwar a capella als Monolog – sie steht vollkommen allein auf der Bühne. Links im Hintergrund in Menschengröße das Foto, das sie mit ihrem Ehemann Sun Yat-sen zeigt. Die ganze Bühne ist in einen riesigen Bilderrahmen eingeschlossen, der die Enge der Bourgeoisie symbolisiert. Diese Szenen wirken stark und sind trotz des durchsichtigen ideologischen Konzepts künstlerisch gelungen.

Drei Schwestern – drei Wege. Aber nur der Weg Song Qinglings ist richtig. Das zeigt die Oper in aller Deutlichkeit. Obwohl sie nicht Mitglied der Kommunistischen Partei wurde, verkörpert sie den legitimen Erbschafts-Anspruch der Partei auf das republikanische China. Zum Schluss sieht der Zuschauer den Sieg der kommunistischen Partei in einer pathetischen, propagandistischen Choreographie. In der Mitte der Bühne leuchtet die rote Fahne – und nun zerbricht der bürgerliche Rahmen des Bühnenbilds. Verherrlichung oder Ironie? Wo bu jidao – ich weiß es nicht. Der Zuschauer kann selbst entscheiden, was er sehen will: die bis heute existierende Verehrung Song Qinglings, der Mutter des Landes – oder die ironisierte Verklärung des kommunistischen Siegs 1949. Vielleicht kann er beides.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Graeculus (69)
(12.06.15)
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 idioma (30.06.15)
D A N K E !!!
Sehr schöne + sehr sehr interessante Kolumne über China !!!
Hier kann man sich von den täglichen Gedichte-Listen erholen....

Ja, es war verblüffend, mal eine ganz schöne Kalligrafie von Mao zu sehen....
Gibt es in den Parks tatsächlich immernoch alte Männer, die mit spazierstocklangen Pinseln und Wasser auf dem Asphalt kalligrafieren ? Ich sah mal ein Photo und fand das sooooo schön !

Ich hab gelesen, dass alte noble Familienpatriarchen große Kalksteine im Meer versenken ließen, dass nämlich das Meerwasser und kleine Meereslebewesen im Verein die Steine über Jahrhunderte hin zu solch bizarren Formen zerfrassen ! Der Zeitpunkt, wann die Nachkommen der Nobelfamilie die Steine wieder aus dem Meer hieven und in den Garten versetzen sollen, war per Urkunde festgelegt und wurde mit großen Feierlichkeiten begangen = versteinerter chinesischer Familiensinn..............
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 Bergmann (30.06.15)
Ja, die alten Wasserkalligraphen gibt es noch, wenn auch selten.
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