KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 17. Juni 2008, 23:56
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Zweikörpertheorie - Holger Benkel. II. Lyrik (23)

Der Lyriker Holger Benkel, 49, lebt in Schönebeck bei Magdeburg, studierte 1987-1991 am Literaturinstitut Leipzig und veröffentlichte im Magdeburger Verlag „Blaue Äpfel“ 1995 Gedichte („Kindheit und Kadaver“) und Prosa („Reise im Flug“, Traumnotate). 1996 erhielt er den Georg-Kaiser-Preis des Landes Sachsen-Anhalt, 2008 den Preis des Forums Literatur Ludwigsburg. In Literaturzeitschriften Deutschlands, Österreichs, Frankreichs und der Schweiz ist insbesondere seine Lyrik gut repräsentiert.
Ich kenne Holger Benkel seit Anfang der 90er Jahre und hatte mit ihm in Schönebeck viele Gespräche über Literatur, vor allem im Zusammenhang mit der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik. Er ist ein Intellektueller vom alten und besten Schrot und Korn, in seinem Denken absolut frei von ideologischen Vorgaben, immer über der Subjektivität parteiischen Streits stehend, unfassbar objektiv sich selbst gegenüber.
In seinen Gedichten wird eine Welt- und Lebensanschauung deutlich: Ein Zweifel am Leben im Leben, eine Hoffnung auf Leben im Tod. Im Tod lebt es sich besser als im Leben, in dem es sich nur sterben lässt.



hunde

führt der hund die toten über die grenze
indem er sie frißt kann er sie begreifen
und besitzen glaubt der mensch in seinem geist
der andern kreatur steh ich auf der schwelle
im zwielicht der sinne leg ich mich nieder
zum liebesakt ins grab folgen mir wölfe
verwandle ich mich in jedes tier begleit ich
meine eigne beigabe zieh ich die seele
aus dem fleisch wächst mir das fell glänzend weiß
lauf ich mir durch wälder entgegen komm ich an
unter der erde fresse ich mich selbst wie hunde
einst als aas birgt mich der frauenleib
erst wenn mir goldne borsten wachsen



Das Ganze ist ein Kreislauf, wie in den archaischen Religionen, die Sie ja wieder beleben - auch so ein Kreislauf, ein geistesgeschichtlicher. Der Totenhund erinnert sofort an Charon. Der hat sich im Hades bezahlen lassen und tut seine parallele Pflicht zu Sisyphos - hier aber frisst er die Menschen um sie zu begreifen. Wenn dieser Hund Repräsentant der zuletzt gestorbenen Menschen ist, dann bedeutet dieses Bild: Erst nach dem Leben verstehen wir das Leben, im Leben verstehen wir uns nicht.
Sehr schön ist das Bild vom Zwielicht der Sinne. Das Bild enthält eine Zweikörpertheorie, ich bin erinnert an das Licht als Welle und Korpuskel. Der eine Sinn ist der physische, der äußere Körper, der andere Sinn ist der zum fühlenden gewordene innere Körper an der Schwelle zum inneren Leben. Aber das körperliche Fühlen wird im Bild des Liebesaktes nicht aufgegeben, Sterben wird als erotischer Prozess verstanden, man kann vielleicht auch sagen: Alle Veränderung ist erotisch, wie alle Berührung von Fremdem erotisch stimuliert. Nicht klar ist mir der Vers: „zum liebesakt ins grab folgen mir wölfe“. Ich bin wegen der folgenden Verse versucht anzunehmen, dass die Wölfe die Veränderung der eigenen Natur beschreiben, sodass der Sterbende, den ich nun lieber als Werdenden verstehe, mit sich selbst schläft, er erotisiert sich mit seiner in ihm längst schlummernden fremden Gestalt, er will sich schon in diesem Vers fressen, also lieben, besitzen, verstehen, er ist sich selbst der Totenhund als Wolf, er gefährdet sich im Tod zu neuem Leben, seine Flucht vor dem Wölfischen in ihm endet im Liebesakt, der sogar als erotischer Suizid erscheint - aber Suizid als Rettung ins eigentliche, nicht entfremdende oder entfremdete Leben. Nun wird auch klarer, dass der im Sterben ins Leben Auferstehende nicht nur die wölfische Natur in sich zulässt, sondern alle Möglichkeiten an sich werden lässt („verwandle ich mich in jedes tier“), die er im bisherigen Leben nicht hatte.
Nun folgen Verse der Selbstreflexion („begleit ich meine eigne beigabe“) und Autonomie solchen Sterbe-Werdens („zieh ich die seele aus dem fleisch“). Die Trennung vom Körper ist die Befreiung der Seele, die bisher offenbar wie ein verletzender Fremdkörper im Fleisch steckte, da war der Körper eine Wunde, jetzt kann er gesunden: Nun „wächst mir das fell glänzend weiß“. Die doppelte Entfremdung von Körper und Seele ist aufgehoben, nun kann ich mir begegnen („lauf ich mir durch wälder entgegen“) und mich verstehen und mich ganz besitzen: „unter der erde fresse ich mich selbst“. Es folgt der Rückbezug („wie hunde“) zum Anfang des Gedichts und der Kreis wird endgültig geschlossen: Der Gestorbene wird wiedergeboren („als aas birgt mich der frauenleib“), wenn er durch alle Wandlungs-prozesse zu seiner Vollendung („goldne borsten“) gegangen ist.
Ich verstehe hier den Hund als eine Einheit von (selbst-)liebender Treue und ins Wölfische gesteigerter (Selbst-)Zerfleischung. Der Plural im Titel will den mythischen Singular ins Allgemeine weiten, zum Wir. Das Gedicht ist ein Trost, wenn wirklich ganz gestorben werden werden soll, eine Utopie, wenn es im Leben gelten soll um anders zu leben: Aber dem Schwein werden goldene Borsten wohl auch nicht am St. Nimmerleinstag wachsen...

Ulrich Bergmann

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