KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Mittwoch, 12. Mai 2010, 11:12
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Borden

197. Kolumne

Dies ist eine Hommage an einen Lehrer, der mich geistig sehr stark bildete und anregte. Nach dem Abitur belegte ich seine Philosophie- und Pädagogik-Vorlesungen an der Bonner Universität und absolvierte 1975 das Philosophicum, wo er einer der beiden Prüfer war. Ich zitiere hier einige seiner Gedanken, die er im Geschichtsunterricht, in dem alles mit allem verknüpft wurde, en passant formulierte. Ich nannte diese Gedanken in der Zeit, als die Mao-Bibel kursierte:


WORTE DES GROSSEN VORSITZENDEN BORDEN

(1) DISZIPLIN ist der fortgesetzte und dadurch von Erfolg gekrönte Versuch, dümmer zu erscheinen als der Vorgesetzte.
(2) GESCHICHTE ist Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. (Hegel)
(3) MARCUSE denkt in einer romantischen Sozialphilosophie ungeschichtlich und nur rein formaldialektisch das Moment der Macht weg - er glaubt also an einen Friedhof des Geistes.
(4) HOMO LUDENS - das bleibt, hegelianisch gedacht, im Prozeß unseres menschlichen Seins stets „aufgehoben“ - wir kommen aus dem Spielalter nicht heraus.
(5) Im Gegensatz zum Tier muß sich der Mensch seine ZWEITE NATUR erst schaffen: die Kultur.
(6) Das PRINZIP DER WESTLICHEN DEMOKRATIE sollte sein, sich den Gesetzen und Prinzipien zu unterwerfen, die man sich selbst gegeben hat.
(7) Nach FEUERBACH verliert sich der Mensch selbst, da er aus sich selbst Gott entworfen hat; er verliert so die Fähigkeit, sich selbst zu vergöttern. Er verliert das aus sich herausgeworfene ENS PERFECTISSIMUM. Damit der Mensch sich selbst gestalte, rnuß er Gott aus seinem Denken eliminieren, und, nach MARX, die Religion als Trost- und Rechtfertigungsgrund, als Opium fürs Volk, aufgeben.
Das Moment solchen Durchschauens aber macht diesen dogmatischen Atheismus fragwürdig, und entwurzelt den kritischen Atheisten, der nicht glauben KANN, ebenso wie den skeptischen Agnostiker, der nicht WEISS, ob Gott existiert oder nicht; sie sind entwurzelt wie Irrende und Verirrte.
(8) Der PHILOSOPHISCHE MATERIALISMUS verwechselt Bedingung und Ursache, wenn er das Gehirn für eine Ursache des Denkens hält und nicht für seine Bedingung.
(9) Mit dem Denken kann ich das Denken nicht ableiten. „Eine Theorie vom Gehirn ist nicht selbst Gehirn.“
(10) MOSKAU träumt den Gedanken eines dritten Roms. Der christliche Erlösungsgedanke ist in die kommunistische Glaubensdoktrin eingegangen und motiviert heute den nationalistischen Sowjetimperialismus, der nichts anderes ist als die Fortsetzung des zaristischen Imperialismus.
(11) In zehn Jahren ist PEKING da, wo Moskau heute ist.
(12) Der STAAT besteht nicht nur aus Institutionen, nicht nur aus der Exekutive allein, sondern vielmehr ist er in Art, Funktion und Form ein Produkt der Vorstellungen ALLER von dem, was Staat ist oder sein soll oder gewesen ist. Die Staatsvorstellung bestimmt das Schicksal des Staates.
(13) STAAT ist einzig VERKÖRPERT durch genau diejenige gesellschaftliche Gruppe von Delegierten, welche GEWALT besitzt. Zum Beispiel ist er also in der Tat auch repräsentiert vom Schupo in der Straße.
(14) Ohne das Moment der ORDNUNG Ist STAATLICHKEIT nicht existierbar.
(15) Es liegt im WESEN DER STAATLICHKEIT, Andersdenken zu unterdrücken. Auch wenn du glaubst, bleibst du ein Sünder.
(16) Es soll jeder einzelne sagen: L'ETAT, C'EST MOI.
(17) Philosophie ist Prinzipienforschung.
(18) Mit dem Begriff der ENTWICKLUNG werden die Probleme nur noch mehr verdeckt.
(19) Mit dem Moment des DURCHSCHAUENS eines möglicherweise absoluten Determinismus haben wir die Selbstbestimmung gewonnen, und es wäre wenig plausibel, daran zu glauben, daß auch dieses Durchschauen bereits determiniert wäre. Ich glaube an einen freien menschlichen Willen.
(20) Jede Theorie oder Anschauung von der Geschichte manifestiert sich selber wieder als Geschichte, ja konstituiert Geschichte.
(21) „Das Denken über die Natur bzw. eine Theorie von der Natur ist nicht selbst Natur bzw. ein Naturvorgang.“
(22) „Geschichte erkennen heißt Geschichte machen.“
(21) „Das geschichtliche Denken ist unentrinnbares, konstituierendes Moment der menschlichen Existenz.“
(24) „Der Geschichtsunterricht ist selbst ereignende Geschichte.“
(25) „Alle geschichtliche Erkenntnis gründet in geschichtlicher Erkenntnis ... Insofern gilt das Wort Goethes: Alles Faktische ist schon Theorie.“
(26) Auf der Suche nach geschichtlicher Erkenntnis verläuft sich der Historiker nicht in einem hermeneutischen Zirkel, sondern geht auf einem Zweiinstanzenweg: „Die Zeugnisse selbst sind es, die gegen die Willkür der Deutung wissenschaftlich unüberhörbar sprechen - SEIN Anderes, um dessen Verstehen er sich bemüht, ist noch immer und jederzeit sein ANDERES.“
(27) In der Geschichte bedingen Subjekt und Objekt einander. „Die Erkenntnis des Vergangenen ist ein unabschließbarer Prozeß.“
(28) „Es macht das Leben und die Größe des menschlichen Geistes aus, sich in eine Vielfalt der Entwürfe und Sinnbestimmungen zu entfalten und das Ganze dieser Vielfalt macht erst die Wahrheit und Wirklichkeit des Geistes aus.“
(29) Ideologien sind nicht anders als Dogmen: sie glauben sich im Besitz der Wahrheit - daher sind ideologische Kämpfe und Kriege so brutal.
(30) Weil die christliche Heilslehre mit ihrer Vorstellung vom Jüngsten Gericht und dem Weiterleben der Seele nach dem Tode die Verantwortung des je gegenwärtigen Lebens fordert, ist die Tatsache, daß es noch immer Christen gibt, ein größeres Wunder als das Erscheinen Christi auf der Welt.
(31) Rudi DUTSCHKEs ideologische Konzeption war mit der Idee einer permanenten Kritik ohne Heilslehre zwar völlig neu, mußte aber in der Praxis eben dadurch scheitern.
(32) Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen.
(33) Ein totaler Welt-Aspekt ist unmöglich.
(34) Die Macht der Idee kann durch keine „denkende Elite“ ein¬geschränkt werden. Der Pädagoge hat die Aufgabe, die Macht der Idee in jedem einzelnen dergestalt zu stärken, daß er jedem zu seiner Mündigwerdung verhilft, und daß er die Macht der denkenden Eliten ebenso wie die „schnöde Naivität der Masse“ (Platon) abbaut.
(35) Nur Kunst und Religion vermögen den Menschen aus dem Bewußtsein der Realität herauszureißen und für Momente interessenlosen Genießens glücklich zu machen, um die Problematik der Welt zu ertragen. (Schopenhauer)



Dr. Friedrich Borden, Honorarprofessor für Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn seit 8.2.1974, vorher Oberstudienrat im Hochschuldienst mit dem gleichen Lehrauftrag: Massen-Seminare in Philosophie und Pädagogik - seit seiner Ernennung zum Professor auch Hauptseminare in Pädagogik.
Mitglied der Prüfungsausschüsse beim Wissenschaftlichen Prüfungsamt Bonn für Philosophie, Pädagogik und für die Zulassung zum Hochschulstudium ohne Reifezeugnis; Borden ist ein bevorzugter Prüfer für das Philosophicum.
Stellvertretender Vorsitzender des Philosophenverbandes Nordrhein-Westfalen.
Herausgeber von „Schöninghs philosophischen Quellenheften“ und der Zeitschrift „Aufgaben und Wege des Philosophieunterrichts“.
Um 1905 geboren in Sachsen (Leipzig?), wo er Philosophie bei Theodor Litt, Evangelische Theologie, Geschichte, Alte Philologie (Latein), und Geographie studierte.
Nach dem 1. Weltkrieg Journalist in Südamerika und Gymnasiallehrer in Geschichte, Philosophie, Religion, Latein und Erdkunde. Sehr stark engagiert in der Erwachsenenbildung, wo er bis 1970 am Bonner Privaten Abendgymnasium Geschichte unterrichtete.
Borden ist meines Erachtens ein entschiedener Platoniker und Kantianer und ein Verfechter der Lehren Theodor Litts (1880-1962), der 1920-1947 in Leipzig und 1947-1962 in Bonn lehrte, indem er „wesentliche Momente des deutschen Idealismus, insbesondere Hegels, der Lebensphilosophie und der Phänemenologie übergreifend und selbständig verarbeitete.“ Borden ist Liberalist und engagierter Christ. Früher war er sozialdemokratisch engagiert, tendiert aber seit Mitte der 60er Jahre zur konservativen Mitte (wahrscheinlich FDP-Wähler mit CDU-Tendenz), ist aber sehr kritisch nach allen Seiten; kritischer Antikommunist; Humboldtianer mit einer neuhumanistischen Gesinnung: Gegner des Gesamtschulkonzepts; besitzt eine gesunde Fähigkeit zur Identifizierung mit unserem Land - er denkt national, aber nie nationalistisch. Borden verfügt über eine universale Bildung (obgleich schwach in Mathematik, Naturwissenschaften, Englisch und Französisch) und wirkt in weiser, milder und gutmütiger Art beinahe suggestiv auf seine Hörer - seine Seminare sind universitäre Andachten, in denen er Vorurteile, Materialismen, Ideologisrnus und Antiautorität erfolgreich mit angeborener echter Autorität bekämpft. Er ist freundlich wie der Lao-Tse Brechts, aber streng in der wissenschaftlichen Kritik. Ihn zeichnet Leibnitzsche Flexibilität und die Redegewandtheit eines amerikanischen Südstaatlers aus - sein sächsischer Akzent ist unüberhörbar.

Ulrich Bergmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Dieter_Rotmund (17.05.10)
Mag kein Hegel und ich habe Zweifel, dass Nr. 35 wirklich von Schopenhauer ist.
Das Ganze ist mir etwas zu hagiographisch, der Herr Professor war doch sicher kein Heiliger...?
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