KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 12. November 2010, 14:58
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Traum des Lehrers von seinen Schülern

223. Kolumne

Ich sank in einen tiefen Traum und diskutierte mit mir selber einen Satz Molières:

Dem Menschen ist die Sprache verliehen worden, um seine Gedanken auszudrücken.

Ich sann und sann und sann im Traum, im Traum aus lauter Meer ein Schaum, und visionäre Bilder stiegen in mir auf. Ich träumte eine Geisterstunde in Geschichte. Ein hochpotenter Debattierclub saß mir gegenüber, mein Leistungskurs Geschichte, und gab Erstaunliches über den Sinn des Unsinns von sich. Manchmal klang’s wie Geistersprache: „Mein edler Mentor!“ sagte Stefan B., „Sie haben da zwar einen überaus hübschen Einfall mit Ihrem Motto, aber sollte man es nicht doch lieber mit Wittgenstein halten:

Worüber man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen?!“

Sabine G. stimmte ihm kopfnickend zu, ein rosaroter Schimmer legte sich dabei um ihre hübsch betonten Backenknochen und aus sanften Augen kam ein herzlicher Blick. Auch Michael K. identifizierte sich, heftiger nickend, voll mit Wittgenstein, während Christiane N. gedankenversunken, aber in genial konzentrierter Haltung und mit tennisballgroßen Augen über einen Satz des alten Sokrates nachgrübelte. Und während Regine R. aus ärgerlichen Mundwinkeln ein frustriertes „Ach ja“ vor sich hin brummelte oder es doch zumindest dachte, war Michael M. einstweilen friedlich eingedöst (das war deswegen möglich, weil er in dieser Stunde a. anwesend, b. pünktlich gekommen und c. geistig und seelisch vollkommen auf diese Stunde eingestellt war – er wird später noch einmal sehr eindrucksvoll auftauchen). In der Tat, so kamen wir nicht weiter, es bedurfte eines neuen Anstoßes, das Thema schien erschöpfend ausdiskutiert. Das war die Minute des Triumphs für Ralf L.: „Molière war doch Franzose“, deutete er vorsichtig an, „als solcher war er Erzfeind deutscher Gesinnung, schließlich schrieb er nur Komödien – und darin liegt dann auch der ganze Widerspruch: Als untragischer Nichtpreuße konnte er gar keine Gedanken ausdrücken, obwohl ihm die Sprache zweifelsohne verliehen war.“ Das allerdings war eine subtile Bemerkung und führte uns rasch weiter ins Herzstück des Problems. Während Juliane R. hierauf ihr obligates Dobedobedo anstimmte, bereitete Annette K. den großen Konter vor, und souverän sanftmütig, aber entschlossen sagte sie: „Unser französischer Erzfeind Talleyrand sagte jedoch einmal:

Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen.

Das beweist eindeutig, daß Molière ein verkappter Tragöde war!“ Wir pflichteten ihr bei, und die Bemerkung Ralfs, die Franzosen hätten doch 70/71 schließlich gegen uns verloren, ging irgendwie unter. „Da sehen Sie“, sagte ich lediglich kommentierend (denn ich hasse lange Monologe!), „wie eng verwandt die Ideen Molières und Nietzsches, pardon, Hallers letzten Endes sind!“ Das sah man ein, die Luzidität des Wortes ex cathedra schlug durch, Babette legte die Stricknadeln beiseite und notierte: „Molière und Nietzsche sind miteinander verwandt.“ Und Juliane R. staunte mit weit aufgerissenem Mund: „Also Nathan ist der Onkel von Haller und Bismarck deren Sohn oder so ähnlich?“ Sie traf den Nagel auf den Kopf. Frank-Peter rutschte schon längst unruhig auf seinem Stuhl hin und her und sagte: „Bismarck ist also ein dem Haller ähnlicher Sohn!“ (Schriftliche Zweifel kamen ihm einen Monat später – sie waren berechtigt.) In diesem Augenblick interessierte den Kurslehrer mehr die Frage, ob Birgit K., auf dem Inbegriff des Unbequemen hockend, aus ihrem schlaf aufgeschreckt wurde, als Michael M. so recht zackig mit den Fingern schnippend in die Diskussion einstieg, - ein Fanal! „Bismarcks Ruhm“, sagte der Traumschüler einfühlungsvoll, „zeigt sich übrigens auch an den Heringen!“ und Jörg S. steuerte sachkundig bei: „Ein weiteres Erbe der Bismarck-Ära ist das heute in jedem besseren Restaurant bekömmliche Fürst-Pückler-Eis!“ Das sagte er so treu, daß selbst Elisabeth verschwörerisch lächelte. - Mittlerweile hatten sich in Claudias Kopf viele Fragen gestaut, doch die Fluten des Gefühls wallten drüber hin, so daß sie nur fragte, ob die Bismarck-Heringe zu den Produktivkräften und das Pückler-Eis zu den Produktionsmitteln gehörten. Daraufhin warf Dirk dezent die Tolle zurück und sagte mit freier Stirn, nun begreife er gar nichts mehr: Ob das Manifest nun von Pückler/Hering und also der Kulturkampf von Marx gegen die Engel geführt worden sei. Ralf B. schlug vor, man solle diese frage mit Haller entscheiden – Harald meinte ergänzend: „Oder mit Schmoller!“ – und Dirks Tolle fiel wieder in die Stirn. Peter H. sagte, das habe er auch sagen wollen, und diese Antwort war schon deshalb mutig, weil Ralf L. schon längst widerspruchsvoll mit dem Hocker wippte. In diesem Moment erschien Siegfried in der Tür und brachte die lange vorbereitete, aber einzige und wirkungsvoll überzeugende Entschuldigung vor, er habe leider verschlafen – schön klang dabei das musisch akzentuierte „leider“... Michael M. dachte nun neidvoll, warum ausgerechnet er heute nicht aus Versehen hatte verschlafen wollen... Cordula T. führte jetzt in der nur ihr eigenen, zupackenden Art zum Thema zurück und nannte als letztes Argument die in Wien bekannte Spezialität Kaiserschmarrn, um Bismarcks Bild abzurunden, worauf Horst jedoch fachkundig darauf hinwies, daß mit Kaiser Wilhelm I. gemeint sei – und mit Schmarrn, so fügte Thomas K. überbietend hinzu, das Einigungswerk Bismarcks. Es gongte. Birgit K. erwachte und sagte, von Kenntnis ungetrübt, aber in weiser Erkenntnis: „So ein Schmarrn!“ Und so habe ich dann doch noch ein Motto für diesen Kurs gefunden:

Die Menschen haben die Sprache erhalten, um zu verbergen, daß sie keine Gedanken haben. (Lord Byron)



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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Isaban (12.11.10)
Ich hoffe, es waren die betonten Wangenknochen von Fräuein G., lieber Uli, die da so rosarot erschimmerten. ;)
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