KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Montag, 24. Januar 2011, 10:47
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Apocalypso (aus Briefen HEL/UB 1)

219. Kolumne

Aus Briefen von HEL (Berlin) und Ulrich Bergmann (Bonn) 1993-2010

HEL: Ich habe immer experimentiert so weit als ich mich bemühe, keine 2 gleichen gedichte zu schreiben. Der bogen ist weit gespannt. Ich weiß im durcheinander auch nicht wo es hin läuft. Im moment wird ja nur revivelt, renaichangiert und neu aufgemischt. Fin de siècle sagen Sie. Die Gründerzeit ging ja nach hinten los. Wie war das doch? belle époche. Schön haben Sie’s gesagt: „Neben Apokalypse muß Calypso bestehn.“ Jetzt flattern mir aus allen ecken sonettisten zu. Einer heißt riha, karl, und das kommt echt ausm kindergarten. Hat alle zeichen auf seinem laptop genommen und aus jedem 1 sonett gemacht, auch eins mit ner maus und schweizer käse, oder mit ner richtigen puffpuff. Wenn Sie mal i-dötzjen zu unterrichten haben, nehmen Sie das als malbuch. Dem nachwort nach nimmt der das zeug 150% ernst!

UB: Jedenfalls ist die künstlerische Qualität nicht nur per se ableitbar, sondern war und ist immer auch von konsensualen Prozessen abhängig.

HEL: Aber nicht ‚Wunde der Schönheit’ und so ’n quatsch... Wir haben genug muße im nächsten millenium am fuß des Tien Shan, wenn wir uns nicht verteidigungskämpferisch die kehlen durchschneiden.
Wer nicht dreck aufbereitet hat das system nicht verstanden. Unsere gute moderne bleibt wo sie Gaia bewußt arbeitet. Ich meine installationen, die spüren lassen daß die erde ein gehirn ist. Beuys wird erst aus dem blickwinkel verstanden. ... Aber das ist ein viel zu großes thema für nen armen belgier allein.

UB: Es fehlt eine neue Moral (Quasi-Religion), ein Halt; und gut möglich, daß so etwas grundsätzlich unmöglich geworden ist. Und deswegen sehe ich, leider, neuen finsteren Zeiten entgegen, in denen alte Strukturen neu sich formieren, subtiler jetzt als damals; das totalitaristische Sehnen wird neu entbrennen, ich weiß natürlich auch nicht wie. ... Manchmal denke ich, unser Denken hat doch recht viel zu tun mit der Quantenmechanik. Wir kombinieren alle Möglichkeiten der sprachlichen Elemente - in einem logischen Grob-rahmen, wo Freiheit Zufall ist oder Zufall Freiheit, und die Rückkoppelung (Reflexion) eine Ahnung vom Ganzen, eine Art Transzendenz by doing. Oder: Wir sind gar nicht im Käfig, sondern umgekehrt!

HEL: Lieber UB, lassen Sie sich eine jahresendgeschichte mit flügeln erzählen... Martin Pohl war auf eine Literarische Tischservierung eingeladen. Ehrengast war jener Beckelmann, den angeblich Grass mit der Blechtrommel zuvorkommend in den ruin getrieben hat; Beckelmann hochprozentig und fern jeder positionsbestimmung. Norbert Adrian, der den literarischen tisch servierte, stellte Beckelmanns roman vor als unbekanntes meisterwerk auf einer höhe mit den Buddenbrooks oder Krieg und Frieden. Darauf ergriff höchsteigenschaftlich das wort Olaf Münzberg, Hauptvorstandssitzender der Neuen Gesellschaft für literatur und publizist von einigem reputat, und bemerkte: „Norbert, zwischen krieg und frieden mußt du schon differenzieren.“ Martin, von dem ich das stückchen habe, prustete ungeachtet servierter tische laut los und kriegte sich vor lachen nicht mehr ein. Bis die anderen verstanden hatten muß eine kultursekunde verstrichen sein. Dann aber krachte das Literaturhaus unter dem gelächter zusammen. Der tisch, von Beckelmanns hochalkoholik schon angeschlagen, war unservierbar geworden, die veranstaltung endete tumultuarisch. So erzählte es mir Martin. Dem ist nur noch hinzuzufügen: Da hat sich mal wieder 1 witz nach Berlin verirrt, und die kerls hätten ihn beinah wieder laufen lassen.

UB: Vielleicht ist der am größten, der das Jahrhundertwerk nicht schreibt, obwohl er’s könnte. Und ist der groß, der auch seine Kleinheit als Größe wagt?

HEL: Man sieht es im musikgeschäft wie schnell die leute ausgelaugt werden. Sogar Bob Dylan mit seiner lederhaut. Nie bestand größerer bedarf an verwertbarem genie. Das ist eigentlich ein widersspruch in sich: genie ist nicht verwertbar. Aber vielleicht gehört das zu meinen letzten illusionen.
Peter Hacks schrieb mir: „Die Moderne ist ja die Formlosigkeit selber; Ihre Welt indessen, wie sie so von Platen bis Hofmannsthal menschheitsdämmert, stellt und erfüllt formale Ansprüche äußerster Art... Auf Ehre, ich bin entzückt zu erfahren, daß gleich bei mir um die Ecke so ein Snob wohnt.“ Doppelbödig, nicht wahr? Ich bin mir des lobes nicht so sicher. Hacks ist ja selber gespalten, der gebrauchsdichter und librettist, und der formalismusverdächtigte. ...
Der osten unterwandert den westen ohnehin, Rußland, mezzogiorno, der schlaf der Internationale – die Roten Schalmeien stehn um Jerichos mauern, falls Euch jemand fragen sollte. Wir berichten weiter von der Kamtschatkafront.
Um die großen fragen unserer epoche zu behandeln hätte Grass seinen Fonty nach Sibirien verbannen müssen. wir sind nicht postmodern, wir sind präpazifisch. Standort Deutschland ist tiefste provinz; einziger lichtblick: Greenpeaces dreiliterauto. Wär das ein thema für Grass?
Standort Deutschland ist tiefste provinz, und ich hätte sie gern noch tiefer, das wäre eine chance. Wo der kapitalismus des 21. jahrhunderts gebraut wird, in Hongkong oder Singapur, da möchte ich nicht leben...

UB: Es hat mich in diesen sympathischen Literaturbetrieb unterhalb der Opportunismusgrenze hinein gebracht, wo die Keime der Korruption noch niedlich sind, wie Mädchenaugen.

HEL: Manchmal rächt sich der untergrund doch, oder das hirnunterholz, wenn Sie so wollen, wo es zu viel denkt und zu wenig lenkt. Jedes von den bildchen glaubt, unendlich zeit zu haben, das heißt die wissen nicht was zeit ist, die andern sind ja auch noch da. Das sind zeithasardeure, wenn sie mal wach sind. Aber ich sprach vom untergrund; ich geh eben nicht die doppl dipl tappl tour von prof. riha. Mein komfort ist, ich hab luft zum atmen, aber in der luft wuchern die luftwurzeln. Ich will zu viel als daß ich alles wollte. Ich wiege zu leicht für das nichts, ich wiege zu schwer für das gewicht der welt. – Schmus schmus ist alles gebilde aus vier uhr blues. Vergessen Sie’s. Jeder ist seiner tücke schmied. ...
Ich erfinde nicht, ich schreibe immer nur ab, und bei bedarf wird das lied weitere strophen bekommen. Warum neue lieder bauen, wo die alten noch gut sind.
[...]

[veröffentlicht in DIE BRÜCKE 156,2011. Seite 135-142]

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