KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 02. Juni 2016, 22:49
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Kritische Pirouetten (Carl Einstein: Bebuquin)

513. Kolumne


Über Carl Einsteins „Bebuquin“ (1912)

„Man muß den Mut zu seinem privaten Irrsinn haben, seinen Tod zu besitzen und zu vollstrecken.“

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Dieser ‚Roman’ auf 48 Reclam-Seiten liest sich teils wie ein Supplement von Nietzsches „Zarathustra“, gewendet ins Absurde, Expressive, Expressionistische. Teils philosophierende Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen, Seinsgrübelei mit metaphysischen Versuchsballons, teils Axiome und Gedankenspiele in Münchhausenscher Manier – und das alles ohne sinnvolle Handlung. Das ist kein Roman, wie der Leser ihn kennt. Warten auf Sinn? Gehen wir. Der Sinn ist tot, es lebe der A-Sinn, der B-Sinn, der Unsinn, Ansinnen, Besinnen, Versinnlichung, Besinnung ohne Gesinnung. Nur das was wir selbst erzeugen hat Sinn, ist Sinn durch uns, bedeutet sich selbst. Einstein spielt mit der konventionellen Romanform, er täuscht nur Handlung an, die aristotelische Einheit von Zeit und Handlung wird nicht ernst genommen. Die Kausalität verschwindet in der Absurdität des Seins oder im Subjektivismusspiel des Erzählers.

„Die Dilettanten des Wunders oder die billige Erstarrnis. Ein Vorspiel“ – der Untertitel, die Titelalternative will heißen: Der Sinn des Lebens ist eine Utopie, oder eine Illusion. Fachleute unseres Lebens können wir nicht sein, denn wir können im Vorwärts nicht auf das vor uns Liegende zurückschauen: „Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, muss aber vorwärts gelebt werden.“ (Sören Kierkegaard)

Giorgio Bebuquin, ein Philosoph und Künstler, erstarrt in seiner Selbstbespiegelung. Der Tod ist mitten im Leben. Um den Tod geht es in der Hauptsache. Denn über ihn wirft sich die Frage auf, ob und was und warum das Leben ist. Nebukadnezar Böhm, eine zweite Romanfigur, trägt einen versilberten Schädel, in dem sich die Welt spiegelt. Er reflektiert die Reize des Irrealen und bezirzt damit die Bardame und Zirkuskünstlerin Fräulein Euphemia, eine groteske Parodie der Jungfrau Maria. Euphemia gebar ein Kind, dessen Vater sie nicht kennt und das schon nach der Geburt der Welt entsagte. In einem Café, einer Bar, im Bordell, im Zirkus, im Kloster spielen die Szenen. 19 Kapitel sind geschrieben in einer Mixtur von Erzählung, Dialog, Monolog, Essay, Lyrik, Philosophiediskurs, Parodie, Groteske, Pamphlet, Predigt, Gebet, surrealer Imagination – und es geht darin um die Ermordung der Vernunft, die Dehnungen und Metamorphosen der Logik, ein neues Denken und befreites Fühlen. Es geht um Selbstsuche und Selbstfindung:

„Ich will nicht eine Kopie, keine Beeinflussung“, sagt Bebuquin, „ich will mich, aus meiner Seele muß etwas ganz Eigenes kommen, und wenn es Löcher in eine private Luft sind. Ich kann nicht mit den Dingen etwas anfangen, ein Ding verpflichtet zu allen Dingen. Es steht im Strom, und furchtbar ist die Unendlichkeit eines Punktes.“

Bebuquin will sich also über die Dingwelt stellen. Er will selber Weltenschöpfer sein. Dann wieder der Zweifel:

„Ich bin ein Spiegel ... Aber hat ein Spiegel sich je gespiegelt?“

In aphoristischer, quasimetaphorischer Schreibweise reflektiert der Erzähler seine erkenntnistheoretischen Bedenken. „Wir können uns nicht neben unsere Haut setzen.“ Am Ende des Ersten Kapitels klingen steppenwölfische Motive an: „Singen wir das Lied von der gemeinsamen Einsamkeit.“, sagt er und meint: das Wunder der Individualität gibt es angesichts der inneren Leere nicht.


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Verwerfung der Logik. Sie steht neben dem Lebendigen, berührt nie das Leben. Auch Kunst nicht. Sie bleibt ein untauglicher Versuch des Verstehens. Ihre Kategorien versagen. Alle Form greift ins Leere. Bebuquin kann nicht schlafen bei dem Gedanken, „daß er in der Kunst immer im Rausch der Symbole bleibe.“ Und er sieht: „... welch schlechter Romanstoff bin ich, da ich nie etwas tun werde, mich in mir drehe.“ Bebuquin leidet an sich, an sich und der Welt. Böhm-Nebukadnezar will ihm helfen und erzählt ihm ein Gleichnis: „Die Geschichte von den Vorhängen“:


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Versuch, sich selbst zu objektivieren. Böhm sieht sich als Gardine. Er will die Erkenntnissichtbehinderung loswerden, sich selbst also. „Sei Vorhang und zerreiße dich. Beschimpfe dich so lange, bis du etwas anderes bist. Sei Vorhang und Theaterstück zugleich.“ Er will raus aus sich, um mehr sehen zu können. Er will handeln, Bühne sein und Stück, Welt und Leben in einem. Das ist natürlich zu viel auf einmal. Und es ist unmöglich, das zeigten wir schon.
Und wenn wir aufs Erkennen verzichten, kein Wunder mehr wollen? Was dann? Dann leben wir glücklicher. Denn wir enttäuschen uns nicht mehr so dumm. Wenn wir sagen: „Die Welt ist das Mittel zum Denken.“ Was wird dann aus uns? Dann enttäuschen wir uns klug. Denn die Irrtümer des Schöpfers tun nicht so weh wie die des umsonst Hoffenden. Immer schon war die Erschaffung einer ‚eigenen’ Welt (so gut es eben geht) ein Mittel, um die Welt (wie sie ist) zu ertragen. Es ist der für viele notwendige gesunde Eskapismus, insbesondere für jene, die für eine vita activa nur bedingt taugen, Dichter also, Künstler, vielleicht auch Liebende. So gesehen ist Paranoia geradezu ein Beweis für die Gesundheit eines Menschen. In der Tat: Dass wir sterben müssen, um gelebt zu haben, das ist der reine Wahnsinn, jedenfalls dann, wenn wir Sinn suchen in dem, was keinen Sinn hat: im Leben. Ergo: Immer schon ... „Der Begriff will zu den Dingen, aber gerade das Umgekehrte will ich.“


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„... warum fehlt mir sogar die Illusion der Vollkommenheit?“, fragt sich Bebuquin. Aus Konsequenz. Die Unvollkommenheit jeder Schöpfung folgt aus den unendlichen Möglichkeiten, über das Erschaffene hinaus zu denken. An Vollkommenheit kann er noch nicht einmal glauben. Der Zweifel ist das alter ego des Schöpfers. Noch nicht einmal die Logik ist in sich vollkommen. Bebuquin hört Böhm zu, der redet als Gestorbener, noch so ein alter ego. Der sagt: „Es gibt viele Logiken, mein Lieber, in uns, welche sich bekämpfen, und aus deren Kampf das Alogische hervorgeht.“ Tja. Gehört diese These zur Psychologie oder Philosophie? Egal. Siehe oben, Begriffe. Böhm meint, es gebe sowieso nicht die Einheit aller Dinge. Alles hängt mit allem zusammen, das sind so Redensarten, die mit der Religion des ganzheitlichen Menschen zu tun hat. Sie ist aber nicht wahr. Kants Gleichgewicht von Subjekt und Objekt, schön und gut. Aber dann die ganze Hegelsche Dialektik und die Wahnsinnshoffnung, die Geschichte schreite von einer List zur anderen hinauf zur Vernunft und münde ein in die absolute Wahrheit, die sich dann konkretisiere – das ist nichts anderes als das Warten auf Wunder. Das ist einfach nicht aus den Köpfen zu vertreiben.


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Und die Kunst? Gibt es wenigstens dort so etwas wie ein in sich abgeschlossenes ruhendes Ganzes? Können wir uns in der Kunst das Absolute erschleichen? Das meint der jugendliche Maler Heinrich Lippenknabe, der die Kraft der Bilder lobt. Darin wandeln sich die Werte, von Bild zu Bild eine neue Moral, eine neue Logik. Die Form! Die Form ist die Rettung. Sie ist die Matrix aller Bilder. Sie ist Nichts und enthält doch alles. „Die Form weist auch über die Kausalität hinaus“, meint Bebuquin. Sie steht auch über Ort und Zeit. Wir Menschen sind Formgebärer, aus dem Nichts erschaffen wir alles. – Wirklich alles? Wird alles denn auch wirklich?


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Euphemia, Karikatur der Jungfrau Maria, war schon vorhin in das Café eingetreten. „Eine blaue Hutfeder Euphemias besoff sich blitzend in der grünen Chartreuse. Bebuquin schaute mit seinem linken Bein in die Ecke der Bar ... Der Schein der elektrischen Lampen fuhr ihr durch die Spitzen zum Knie, tanzte über die Kristallflacons und die Sektkühler erregt rückwärts; das sonst anständige elektrische Licht!“ Multiperspektivität der Beschreibung verweigert statisch gedachte Faktizität, die expressionistische Szenerie wird ins Kubistische gesteigert. Die Auflösung des Logischen wird nur zusammengehalten durch die Form des Dialogs der Figuren. Euphemia charakterisiert ihr ungeborenes Kind, dessen Vaterschaft in der Vielzahl der Logiken verschwindet. Der Embryo „hat bereits der Welt entsagt, er wird geistig, ist ganz wunschlos“, sagt Euphemia. „Das Alogische wächst, das Alogische siegt, er wird nicht abgeleitet.“, ergänzt Bebuquin. Jungfrauengeburt und Logik werden auf eine Stufe gestellt. Das gefällt Bebuquin nicht, er braucht Sinn, er beklagt den Verlust des Wunders: „Ihr habt alle Kräfte zerstört, die über das Menschliche hinausgehen.“ Und Heinrich Lippenknabe verlangt mehr Sinnlichkeit: „Ich will, daß der Geist sichtbar werde.“ Aber Böhm korrigiert: „Häufig wiederholter Blödsinn wird integrierendes Moment unseres Denkens; bei einer gewissen Stufe der Intelligenz interessiert man sich für das Korrekte, Vernünftige gar nicht mehr ... Ich versichere Sie, ich zum Beispiel lebe nur, weil ich mich mir suggeriere, in Wirklichkeit bin ich tot. ... Das Nichts ist die indifferente Voraussetzung allen Seins.“ Den letzten Gedanken hatten wir schon. Was Böhm nun erklärt, ist die Apotheose der Phantasie als Übervernunft und Überwindung des Todes:

„Die Existenz in Formen ist ein Sofa, eine Schlummerrolle, eine ebenso unverbindliche, wie langweilende Konvention. Wenn man frei und kühn zum Leben in vielen Formen ist, wenn man den Tod als ein Vorurteil, einen Mangel an Phantasie ansieht, dann geht man aufs Phantastische, das ist die Unermüdlichkeit in allen möglichen Formen. Ich gebe zu, die Vernunft macht alles bequem, sie konzentriert, aber sie zerstört zu viel, macht zu vieles lächerlich und gerade das Größte. Man muß das Unmögliche so lange anschauen, bis es eine leichte Angelegenheit ist. Das Wunder ist eine Frage des Trainings ... töten wir die Vernunft; die Vernunft hat den gestaltlosen Tod produziert ...“


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In einer Rausch-Nacht vollzieht sich auch der Abschied von der Symmetrie, von kosmischer Einheit und Ausgewogenheit aller Kräfte – und zwar in einer Erzählung Bebuquins, in der es um das Zerbrechen einer Liebschaft geht und um die Entdeckung der Romantik im Asymmetrischen. Während er erzählt, entwickelt sich eine orgiastische Szene in der Bar, auch die Sprache tanzt und verwirbelt in surrealistischen Bildern, Personifikationen, Synästhesien, Katachresen, alogischen Sprüngen – „der Alkohol redete wie Gott aus dem Munde der Propheten.“ Die Morgensonne stört wie die Vernunft den Rausch der Seligen. „Bebuquin suchte weinend der Sonne in einen imaginären Bauch zu treten.“


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Autofahrt durch die regengepeitschte Nacht ... „Auf dem Dache des Coupés war ein Kintop angebracht.“ ... „Gnädigste, Sie sitzen auf einer Hypothese.“ ... „Die Dame zog den Blick Nummer fünf.“ ... „Vorher mußte ich auf einer Hypothese sitzen, und jetzt wollen Sie mir immaterielle Juwelen verzapfen. Mein Herr, achten Sie den Intellekt eines Weibes!“ ... „Jetzt bist Du in die Träume gezogen.“ ... „... es tanzten um sie die vergangenen Jahre, die rauften.“ ... Apokalyptisch nun: „Aufgeregt starrte das Volk auf der Straße nach dem großen Tier, das in der Luft torkelte und schrie: Es kommt der Lebendige. Der Vogel schrie in Graurot: Ich bin ein Beweis, es kann auch anders zugehen. Die Menschen klapperten vor Angst ... Meistens bleibt man ja im dilettantischen Schrecken stecken. Und endet mit einem Schlaganfall auf dem Plüschsofa. Davor ein weißer Mops aus Porzellan. Er hat eine rote Schleife.“


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Schrödingers Katze. „Böhm ist doch ein törichter Mensch, ich weiß nie, ob er lebt oder tot ist.“, sagt Euphemia.

„Ehmke Laurenz, Platoniker, gehe nur Nachts aus, weil es da keine Farben gibt. Ich suche die reine ruhende einsame Idee, diese Dame tatkräftig rhythmische Erregung. Ich bin eigentümlich, da ich von zwei Dingen ruiniert werde, einem höheren der Idee und einem niederen der Dame.“
„Ja, aber ruinieren Sie doch die beiden, die sich bedingen, zum mindesten Ihre blödsinnige Ideologie vom Sein, von der Langeweile, dem Tod. Das ist nur Müdigkeit, ein Defekt, Platonismus ist Anästhesie. Reißen Sie sich doch die Augen aus und die Ohren, dann haben Sie Ihren Platonismus zu Wege gebracht.“


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Zirkus. Katachretische Metaphorik. „Miss Euphemia glitt beim dritten Male am Seil ab; sie beschloß aus formalen Gründen, sich das Genick zu brechen. Senkrecht schrieen die Leute ...“ Aber es geht noch einmal gut. Müssen wir das deuten?


11
Immer noch Zirkus. Manchmal gewinnt das Absurde Sinn. Aber eigentlich nur dann, wenn das Absurde übersetzt wird in die Sinn-Sprache. In einem hymnischen Kampf-Dialog wird die Gottesfrage aufgeworfen.

Bebuquin: ... Gott ist Wahnsinn.
Euphemia: ... Gott ist die Erregung, die den Körper übertrifft.
Gott ist der Tod, den wir über uns hinaussterben.
Er ist die aufsprossende Vernichtung unserer selbst.
Er ist übermeßliche Größe.
Farbe, die wir noch nicht sahen.
O, wie soll ich ihn tanzen.
Ich müßte Sterne in die Hände raffen.
Sonnen mir unter die Sohlen legen.
Mein Mund sei ein grenzenlos Orchester.
Und das Blech und die Pauke vielfach besetzt.
Ich zerdrücke Trauben in den Fingern
Und weiß ihn.
Ich liege still und bin weiß wie Mörtel, der die Wände bedeckt,
und kenne Gott.
Er ist der glühend Lauernde in der Dunkelheit.
Bebuquin: Er ist der Wahnsinn.
Das Unmögliche.
Der tödlich Auflösende.
Die unfruchtbare Steppe,
in die wir kräftige Häuser zwingen.
Die Gefahr für den Willen.
Er ist mein Haß.

Gott wird doppelt dekonstruiert – direkt und indirekt. Die Beschönigung, Euphemia, enttarnt sich in der satirisch-parodierenden Sprache. Gott „ist der glühend Lauernde in der Dunkelheit“ – das ist der rasend Liebende, der Vergewaltiger, der gierige Tod zur neurotischen unio mystica verschmolzen.


12
Bebuquin betritt seine Wohnung, er badet und geht in sein „kathartisches Gemach“, gleichsam in sich selbst: „Vielleicht sündigt man nur, um die Reinheit der Reue zu erlangen, Erneuerung durch Gemeinheit ... ich scheine außerhalb von Prinzipien stets böse zu werden.“

Wieder wird Gott behandelt, sogar direkt angesprochen – aber es stellt sich heraus, dass der Name oder Begriff Gott nur eine Variable für die Seins-Erklärungs-Versuche des metaphysischen Philosophierens darstellt. Bebuquin leidet unter der Trennung von Geist und Körper, will am liebsten einen anderen Körper, eine neue Form des Existierens entwerfen. Aber da redet Böhm in ihm: „... das Ganze ist ein Erziehungsheim.“ Das sind die mittelalterlichen, immer noch üblichen Gedanken: Erkenne dich selbst, werde reifer, werde besser, vervollkommne dich und deine Ziele usw. Davon will er weg. Er erkennt: „Um moralisch weiter zu machen, bedarf ich neuer Existenzbedingungen, eher als des Brotes ... es muß eine Änderung eintreten, die stärker ist, als meine Sünde und meine Reue; ich muß eine Erneuerung haben, ich bedarf einer Erdperiode.“ Dies ist eine der Stellen, wo der Autor anspielt auf die Notwendigkeit einer sozialen Revolution, ohne sich in ideologischen Dimensionen zu verlieren.
Es geht, wie das 13. Kapitel zeigt, auch um eine Revolution der Kunst. Es ist die Zeit, in der die sogenannte abstrakte Malerei entsteht, Dadaismus als Gegenbewegung und Verneinung bestehender Kunst, Expressionismus und Kubismus. Der Erste Weltkrieg kündigt sich raunend schon an. Die großen Wunden blühen und platzen, die Rosskur Europas wird gewaltig, das aber ist aus dem Roman nicht konkret herauszulesen.
Am Ende des 12. Kapitels blüht die Sprache expressionistisch auf und bleibt doch immer noch an romantische Bilder gebunden in der Spätzeit des Realismus, in diesen Wechseljahren der Literatur, in der sich mehrere Epochen und Strömungen überschneiden, Symbolismus und Fin de siècle inbegriffen:

„Die Nacht färbte langsam empor, die weiße Stube opalisierte wie altes Gestein, lohende Schatten zogen über die Wände, eine kleine weiße Wolke stand vor dem Fenster, ein brennender Sonnenstrahl durchglühte sie. Bebuquins Körper verschwand in den Schatten, nur der Kopf schaute gleich inmitten der Wogen der Dämmerfarben die versinkende Wolke an. Sein Kopf, ein Gestirn, das erkaltete.“

Der Körper verschwindet im Schatten, Bebuquin bewahrt einen kühlen Kopf in der Erleuchtung. Katharsis, ohne Furcht und Selbstmitleid.


13
Die Kunst ist perspektivenabhängig, ihre Gegenstände sind wahr und falsch zugleich. Kunst muss viele denkbare Sichtweisen umgreifen. Das Realitätsproblem ist nicht lösbar mit der Logik. „Bilder sind Taten der Augen.“


14
Bebuquin meint: „Die materielle Welt und unsere Vorstellungen decken sich nie. Darum ist die Tat notwendig, dies Correktiv von Tatsachen und Dingen. Wenn man jedoch wie ich zu der Überzeugung gelangte, daß wir weiter müssen, ist es denn nicht möglich, daß eine neue Art Mensch entsteht, die es verschmäht, in den gleichen Straßen weiter zu gehen ... vielleicht decken sich die Dinge nie, damit das Schöpferische nicht einschlafe.“ Was für eine merkwürdige und doch grandiose, ins Weltliche umgekrempelte Theodizee! Zarathustra flüstert laut ins Ohr. Aber kein Übermensch wird herbeigesehnt. Da entsteht immerhin nichts Geringeres als der Absolutheitsanspruch der Kunst. Anders gesagt: Politik muss zur Kunst werden.


15
Vom Tod ist nun die Rede. Vom Tod im Leben. Der gegenwärtige, erfahrbare Tod in den Mühen der Ebenen des Alltags. Er hat auch Gutes: „du bist der Erzeuger unserer Arbeit, du treibst uns zur Mühe, und vielleicht bist du der Vater des Lebens ... Ich nenne dich, Tod, den Vater der Intensität, den Herrn der Form.“
Der Tod ist also ganz nah dran an der Kunst. Die Form, das Überindividuelle, ist ja der Überlebensaspekt aller Kunst, auch der politischen.
Der zweite Tod ist der finale, der mich von schwerer Krankheit und Leid erlöst. Der ersehnte Tod also, der unsere Sehnsucht nach dem Transzendenten – die sich aller Logik und Erkenntnis entzieht. „O Nacht der Verwandlung, wann kommst du, wo ich diesen Körper vergesse, ja, ihn abstreife, und die Dinge anderes bedeuten und anderes sind, denn je sonst; die Glieder werden selbständig, die Teile beginnen zu reden. Die Auflösung, sie ist die Verwandlung und sei mir ein Anfang.“ Isoldes Schlussmonolog klingt an. Eigentümlich verweben sich hier Erlösungsgedanken mit dem neuen Denken im Diesseits.


16
Immer noch, immer wieder Zirkus. Als sei so die Welt. Der schöne Schein! Wir betrügen uns mit unseren Bildern und Selbstbildern. „Das Publikum raste ..., die Verzerrung für wahr haltend.“ Mir fällt Kafkas Galeriebesucher ein, einer muss doch das Halt! in die Manege rufen, aber das Publikum träumt die Illusionen herüber zu sich, es will ja betrogen werden, es ist einverstanden mit seinem Selbstbetrug, bewusstlos. Mit Kunst hat das nichts zu tun, sondern mit Verführung und Selbstverführung aus innerer Not. „Die Raserei wurde dermaßen schmerzlich, daß man begann zu töten.“ Hier ahnt der Erzähler die Entstehung des Faschismus aus den Neurosen sozial gedemütigter Menschen, deren Eskapismus in Gewalt umschlägt. In diesem Zirkus der Kompensation verlangen in die Irre gelaufene Irre von Bebuquin: „Gib uns wieder zurück, laß uns heraus, nimm die Spiegel weg.“ Ja, du sollst dir kein Bildnis machen, es ist immer ein falsches.


17
„Man muß den Mut zu seinem privaten Irrsinn haben, seinen Tod zu besitzen und zu vollstrecken.“ Das heißt: Ich will mich erschaffen, auch meine Selbsttötung ist eine Zeugung. „Ich hätte mich und die Welt ohne Laster nicht ertragen, nicht ohne den Willen gegen mich, nicht ohne partiellen Selbstmord.“
Der Tod ist das kaum getarnte Hauptthema dieses philosophierenden Romans. „Alles kommt auf den Tod an. ... Auf dieser Erde einen Zweck zu haben, ist lächerlich. Zwecke sind immer jenseitig, darüber hinaus ... ich bin vom Getöse der Nichtigkeiten umlärmt.“, sagt Bebuquin. Vanitas vanitatum! Memento mori! Nichts hat sich geändert seit vierhundert Jahren, nur die Religion ist jetzt so gut wie weg.


18
Bebuquin will Böhm loswerden, sein alter ego. Er will ihn, der ja eh schon tot ist, endlich begraben. Er gräbt ein Grab für sein alter ego und stellt sich in der Pose des Gekreuzigten ans Grab. „Allmählich ging diese Stellung in ein geregeltes Freiturnen über.“ Die Macht der alten Bilder scheint ungebrochen, auch in der Verfremdung und Ironisierung. Jesus als Turner, dieses Bild greift Günter Grass in der „Blechtrommel“ wieder auf. Bebuquin als Christus – ein platonischer Witz.


19
„Bericht der letzten drei Nächte.“ Das Erzählprinzip erinnert an „Werther“. Aber Bebuquin erschießt sich nicht. Er stirbt anders. Er unterliegt dem Leben, der Realität. Aber die Kunst siegt. Das Wort reicht dem Wort die Hand. Das klappt. Der Sieg der Wörter ist ein Sieg über das Lineare, über Kausalität und Chronologie. Es gibt keine Wahrheit, nur subjektive Perspektiven und die Macht der Form, die dem Inhalt erst Sinn gibt. Bebuquin kann nicht mehr schlafen und seine Seele erstickt an seinen Ängsten, er wird endgültig lebensunfähig, der Zirkus ist aus, das Leben also, die Vorstellung. Die Selbsterschaffung gegen das Sein: gescheitert. „Nur einmal schaute er kühl drein und sagte
Aus.“


Ulrich Bergmann

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