Ólafsson, Bragi:

Die Haustiere

Eine Rezension von  JoBo72
veröffentlicht am 08.02.08

Stellen Sie sich vor, Sie liegen in Ihrer Wohnung unter dem Bett oder dem Sofa und beobachten, wie sich mehr oder weniger bekannte Menschen Ihrer Wohnung samt ihrer Einrichtung bemächtigen, wie sie vergnügt Ihre Vorräte an kostbarem Alkohol austrinken, wie sie hemmungslos von der Unterhaltungselektronik und Ihren Lieblings-CDs Gebrauch machen, wie sie Küche und Bad selbstverständlich benutzen, als seien sie hier zu Hause.
Vor dieser grotesken Kulisse entwickelt Bragi Ólafsson seinen Roman „Die Haustiere“, der 2001 auf isländisch und im Juni 2005 in der deutschen Erstausgabe beim dtv erschienen ist. Der Autor streift zutiefst philosophische Fragen, Fragen um Freundschaft, Persönlichkeit, Identität, Selbst- und Fremdbestimmung, Nähe und Distanz, Macht und Ohnmacht und schließlich insbesondere die Frage nach den vielfältigen, bisweilen auch paradoxen Handlungsgründen, denen sich der Mensch vor jeder Entscheidung ausgesetzt sieht, vor deren jeweils eigenartiger Kulisse er schwankend abwägen muss zwischen Tun und Unterlassen. Die Frage „Wer bin ich?“ wird transformiert in die Fragen „Bin ich da, wo ich bin, richtig?“ und „Was bestimme ich selbst, was andere?“ Dies wiederum findet seine Übertragung auf die Frage: „Was sollte ich tun, damit ich da, wo ich bin, richtig, also selbstbestimmt und frei, bin?“
Die Handlung ist – wie bei fast jeder großen Literatur – einfach gehalten: Emil kommt nach einem Aufenthalt in London zurück nach Reykjavik in seine Wohnung. Ein alter Bekannter, an den er nur ungern zurückdenkt, klopft an die Haustüre. Emil will ihm unter keinen Umständen begegnen und versteckt sich unter seinem Bett, will nicht gesehen oder gehört werden, will einfach nicht da sein. Doch er übersieht, dass das Küchenfenster offen steht, durch das der Bekannte eindringt, auch noch mit gutem Grund, denn schließlich kocht Wasser auf dem Herd und niemand scheint zu Hause zu sein; die Gefahr im Verzug rechtfertigt das Eindringen. Nun wartet der Bekannte auf Emil, der sich ja – der Logik des kochenden Wassers nach – nicht weit entfernt haben kann. Wie wahr!
Emil hatte vor seiner Rückkehr einen Freund eingeladen, der nach einiger Zeit eintrifft. Zu dem alten, unangenehmen und dem neuen, angenehmen Bekannten Emils gesellen sich im Laufe des Abends zwei Reisebekanntschaften, eine eher unangenehme (ein kauziger Typ, der im Flugzeug neben Emil saß und dessen Brille Emil versehentlich eingesteckt hatte) und eine sehr angenehme Person: Emils Jugendliebe, die er – einige Reihen hinter ihr sitzend – zufällig bemerkte und mit der er sich noch im Flugzeug spontan verabredet hatte.
Die vier feiern, hören Musik, trinken den Alkohol aus dem Duty-free-Shop. Sie sind dabei mehr oder minder besorgt um Emil. Weitere Personen rufen an (wie Emils Mutter und seine Noch-Freundin) bzw. bilden mit ihrer kritischen Beobachtungsgabe den Rahmen der Handlung (wie Emils Nachbar). Die Sorge steigt, denn schließlich – so ist man ob des kochenden Wassers auf dem Herd sicher – wollte Emil ja nur kurz fort...
Das Ende des Romans bleibt offen, unentschieden, so unentschieden, wie die Waagschalen des Lebens hin- und herpendeln zwischen Vernunft und Wahn, zwischen klaren Grenzen und verschwommener Wahrnehmung, zwischen öffentlich und privat, du und ich, Lust und Schmerz. Doch das Ende ist auch so launisch, so ironisch, so bitter wie das Leben, denn was ist schlimmer, als in selbstinszenierter Hilflosigkeit erleben zu müssen, wie sich die Frau, die man zu lieben glaubt, in der Nähe des Mannes aufhält, den man hasst?
Es entwickelt sich diese groteske Situation in einer nicht minder grotesken Weise, in einem einzigen Paradoxon, denn die Entwicklung bietet Emil – bei Lichte betrachtet – viele Ausstiegsmöglichkeiten. Doch in der im wahrsten Sinne des Wortes beklemmenden Situation erscheint sie jedoch fast zwangsläufig und schicksalhaft. Es gibt einen Zeitpunkt, dessen Überschreiten keine Rückkehr mehr erlaubt, es gibt keine Regeln mehr, nach denen die Lage zu klären wäre, sondern nur noch Ausharren und Hoffen. Es kommt auf das Einfühlungsvermögen an, die Bereitschaft der Leserin bzw. des Lesers zur Empathie, sich in die Gedankenwelt des Protagonisten hineinzuversetzen. Rational und nüchtern besehen, lässt sich die Angelegenheit lösen. Doch Emil ist nicht mehr in der Lage so zu denken, zu sehr schwelt in ihm die nicht allzu gute Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit dem Eindringling, die seine panische Angst vor der Gegenwart des Augenblicks forciert. Wer tief genug in sich schaut, dem werden ähnliche Situationen einfallen, in denen eine Handlung Folgen zeitigte, die man ausstehen zu müssen glaubte, bei der es vermeintlich kein Zurück mehr gab, obwohl im Nachhinein alles ganz einfach erscheint.
Dieses Paradoxon des Entscheidungsirrationalismus ist der Hauptgedanke des Romans. Die Frage der Grenzen und des Verlustes von Identität wird dabei zum Gegenstand, an dem sich das Problem zeigt, an dem es entwickelt und in seiner ganzen Grausamkeit durchdekliniert wird. Diese drastische Verdeutlichung des Irrationalen, für das man jedes Verständnis hat, macht das Buch so interessant, denn wir alle unterliegen dem Entscheidungsirrationalismus gelegentlich, so rational wir auch zu denken und zu handeln glauben; nicht immer zwar mit derartigen Folgen, aber immer Gefahr laufend, uns zu verlieren und uns erst wiederzufinden in der angsterfüllten Paralyse des Selbst. Nicht immer unter einem Bett, aber manchmal unter ähnlich schlimmen Umständen, denn jede Entscheidung hat ihre Konsequenzen.

„Die Haustiere“ ist ein ungewöhnliches, ein spannendes, ein unterhaltsames Buch. Der Roman vereinigt schlichte, klare Sprache und tiefsinnige Inhalte zu einem wahrhaft literarischen Meisterwerk.
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