Schockenhoff, Eberhard:

Grundlegung der Ethik

Ein theologischer Entwurf


Eine Rezension von  JoBo72
veröffentlicht am 30.12.08

Philosophische Grundlegungen der Ethik gibt es viele. Auch zum Verhältnis von Religion und Ethik steht schon einiges in den Regalen. Und an Kompendien der Moraltheorie bzw. -lehre großer Glaubensgemeinschaften mangelt es auch nicht. Doch all dies zusammenzubringen, ist noch nicht allzu vielen Autoren gelungen. Nach Franz Böckles Fundamentalmoral (1977) und der Allgemeinen Moraltheologie Helmut Webers (1991) präsentiert Eberhard Schockenhoff nun eine umfassende zusammenhängende Darstellung der Grundlagen theologischer Ethik. Schockenhoff, Professor für Moraltheologie in Freiburg im Breisgau und Mitglied im „Deutschen Ethikrat“, zeigt einen neuen Ansatz zur Überwindung des „klassischen“ Grabens zwischen Strebens- und Sollensethik auf, um Tugendlehre und Normtheorie zu verbinden und Aristoteles und Kant (resp. ihre jeweilige Anhängerschaft) zu versöhnen.
Er argumentiert dabei metaphysikschlank und unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnisse der philosophischen Forschung zu Problemen der Ethik, zeigt sich aber fest im christlichen (genauer: katholischen) Glauben verwurzelt, der ihm eine praktische Rationalität ermöglicht, bei der eine Vernunft wirkt, die der Handlungsorientierung zuträglich ist, weil sie den ganzen Menschen anspricht und dessen Transzendenzbezug mitbedenkt oder – anders ausgedrückt – weil sie den Menschen anerkennen lässt, dass er zwar Teil hat an Gottes Vernunft, sich aber letztlich dem weit größeren Willen Gottes beugen muss. Dies bewahrt ihn, den Menschen, vor der Hybris einem verselbständigten, unhinterfragten (letztlich in der Immanenz menschlicher ratio unhinterfragbaren) Einsatz der reinen Vernunft, deren instrumenteller Missbrauch jedoch bekanntermaßen totalitäre Regime auszeichnet. Freilich sehen das säkulare Ethiker anders, deren Ziel es ja gerade ist, im Regress auf Rationalismus, Frühaufklärung und Wiener Kreis der menschlichen Vernunft eine überragende Stellung zuzuweisen, unter die sich jeder Glaube und jede Weltanschauung zu beugen hat, um die als problematisch angesehene Metaphysik loszuwerden. Dass dies keine Alternative ist, liegt daran, dass sich ohne Bezug auf Wertbegriffe, die sich nie gänzlich auflösen lassen, keine Ethik betreiben lässt, die nicht bei einer Beschreibung der Faktizität unterschiedlicher Moralitäten stehen bleiben will. Der bei Schockenhoff zugrundeliegende Vernunftbegriff wird dennoch die Geister scheiden und vertieft insoweit einen anderen Graben im moraltheoretischen Diskurs: den zwischen metaphysischer und materialistischer Methode.

Um gleich dabei zu bleiben: Die Bedingung der Geltung von Normen ist bei Schockenhoff nicht primär das menschliche Miteinander, sondern letztlich der vom göttlichen Gebot und Gesetz bestärkte Wille des Menschen zur Freundschaft mit Gott, eingedenk seines letzten Lebensziels: der Gemeinschaft mit Gott.
Der theologische Gehalt darf aber nicht zu der Vermutung Anlass geben, Schockenhoff verschanze sich hinter Dogmen. Seine Deutung der theologischen Perspektive auf Gebot und Gesetz folgt nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der Normtheorie, in der er nach einleitenden Bemerkungen zur Rationalität praktischer Urteile die bekannten begründungstheoretischen Ansätze darstellt: die teleologische, die deontologische und die hermeneutische Argumentation, die nahe legt, menschliches Verhalten unter Berücksichtigung anthropologischer Sinnbestimmungen zu beurteilen. Diese Perspektive ist insbesondere in den Fällen von Bedeutung, in denen weder Folgenabschätzung noch Pflichterfüllung einen angemessenen Rahmen zur Orientierung menschlicher Handlungen bieten, etwa dort, wo der Mensch in seinem Tun oder Unterlassen (scheinbar) nur sich selbst angeht (Beispiel: Suizid).

Auch in der Tugendlehre analysiert er die philosophische und die theologische Ausrichtung. Bei der Darstellung der Idee des Guten geht er nicht historisch, sondern systematisch vor und präsentiert sie als höchst aktuelle Vorstellung eines Wegs vernunftgemäßer Lebenspraxis. Die klassischen philosophischen Haupttugenden – Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit – sieht Schockenhoff in der menschlichen Natur verankert und damit im Zuge einer schrittweisen Selbstaneignung realisierbar. Das gilt auch für die Gerechtigkeit. Für Schockenhoff existiert der Gegensatz von einem individualethisch intendierten „guten Leben“ und der sozialethisch erwünschten gerechten Gesellschaft nur insoweit, als sich dieser Gegensatz bei fehlender moralischer Motivation des Einzelnen notwendig einstellt. Motive lassen sich aber nur tugendethisch (also: von „innen“) stärken und nicht über Normen (also: von „außen“) verordnen, obgleich damit nicht die Bedeutung eines gerechten politischen, ökonomischen und juridischen Systems geschmälert wird. Nur denkt Schockenhoff vom Einzelnen her, während Ethiker wie Thomas Pogge bei den Institutionen ansetzen.
Die Transformation der griechischen Kardinaltugenden in der paulinischen Theologie bildet die Brücke zwischen weltlichen und geistlichen Strömungen in der antiken Tugendlehre. Sehr intensiv beschäftigt sich Schockenhoff dann mit der Trias christlicher Tugenden: Glaube, Hoffnung, Liebe. Mit der Liebe setzt sich Schockenhoff besonders detailliert auseinander, gilt es doch, manches Missverständnis auszuräumen und auf die positive Wirkung des wechselseitigen Bezugs von Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe hinzuweisen. Löblich, dass sich der Katholik Schockenhoff auch der protestantischen Deutung durch Luther annimmt und nicht bloß auf Thomas von Aquin eingeht.

Soweit zum Fundamentalen, das auch in anderen Ethik-Bänden einen Platz hat. Worin liegt nun das Neue, das Verbindende, von dem eingangs die Rede war? Schockenhoffs tugendethischer Ansatz bleibt nicht so eng auf individualethische Fragen beschränkt wie in zahlreichen anderen Fällen. Er sieht sehr wohl die Bedeutung der Norm, billigt ihr aber kein Primat zu wie die formal-abstrakten Ethiken von Kant bis Habermas. Schockenhoff stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung, ohne ihn zu verabsolutieren. Deutlich zeigt er dessen Gebundenheit an einerseits die menschliche Natur und andererseits die göttlichen Normen.
Schockenhoff macht damit deutlich: Das Christentum hat eine Botschaft, die im ethischen Diskurs gehört werden sollte. Diese bettet er mit nachvollziehbaren Argumenten in eine rationale Ethik ein, die ein breites Verständnis für christliche Moral fördern sollte, wenn sie auch nicht auf allgemeine Zustimmung hoffen kann. Doch die Lektüre des gut und flüssig geschrieben Textes wird zumindest mit allzu unreflektierten Vorurteilen gegenüber einer scheinbar sich selbst genügenden und angeblich in ihren moralischen Dogmen verkrusteten Katholizität aufräumen. Dafür kann man Eberhard Schockenhoff nur dankbar sein und hoffen, dass das Buch neben Fachkollegen vor allem die Menschen erreicht, die im ethischen Diskurs besonders stark involviert sind.
Wertvoll sind schließlich die Exkurse zu praktischen Dilemmata (vornehmlich Fragen aus dem Bereich des Lebensschutzes), anhand derer die zuvor theoretisch erarbeiteten Grundlagen zur Anwendung gelangen. Auch formal gefällt das Buch: Das umfangreiche Sach- und Personenregister erleichtert das Arbeiten zu speziellen Positionen und Einzelfragen, ein ausführliches Inhaltsverzeichnis mit sinnfälligen Kapitelüberschriften sorgt für rasche Orientierung. Alles in allem: Ein großer (Ent-)Wurf!
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