Hartung, Gerald:

Philosophische Anthropologie

Gerald Hartung bietet einen Überblick über eine Leitfrage des Denkens.


Eine Rezension von  JoBo72
veröffentlicht am 02.01.10

Die Frage, in der nach Kant das philosophische Nachdenken zugleich mündet und gipfelt, wird in den letzten Jahren wieder vermehrt gestellt: „Was ist der Mensch?“ Eingedenk des Fortschritts in der Hirn- und Verhaltensforschung wird sie derzeit immer öfter neu beantwortet. Zunehmend scheinen die Biologen die Antworten zu geben, um die die Philosophen seit Jahrhunderten verlegen sind.

Philosophische (oder biologische) Anthropologie ist in jedem Fall eine Schlüsseldisziplin.
In jeder philosophischen, soziologischen, historischen etc. Fragestellung sind immer schon Grundvorstellungen wie Welt- und Menschenbilder enthalten bzw. spielen bei der Beantwortung eine Rolle – auch schon vor dem leitenden Erkenntnisinteresse (Habermas). Anthropologie gehört daher auf den Stundenplan.

Um die aktuellen Debatten um Willensfreiheit, Qualia, genetisch angelegte und gehirnphysiologisch verortete Empathie („Spiegelneuronen“) in ihrer Relevanz für die Frage nach dem Menschen nachvollziehen zu können, ist es wichtig, sich die Grundprobleme klarzumachen und die Konzepte zu kennen, um beurteilen zu können, ob sie in den neuen Menschenbildern richtig zum Einsatz kommen. Das Begriffsfeld, mit dem seit jeher das Wesen des Menschen zu markieren versucht wird (Gehirn, Intellekt, Geist, Seele, Bewusstsein), bietet bereits vor Eintritt in die Diskussion der Modelle und Vorstellungen enorme Schwierigkeiten, sind doch die Begriffe selbst unklar bzw. werden sie von den Akteuren äquivok benutzt. Manchmal sorgen die Autoren ganz bewusst dafür, dass ihnen weltanschaulich adäquat scheinende Begriffe die Semantik der Alternativkonzepte, die nicht zur Sicht der Dinge passen wollen, schlicht usurpieren, etwa dort, wo „Gehirn“ synonym für „Geist“, „Seele“ und /oder „Bewusstsein“ verwendet wird. Bevor es mit dieser wichtigen Begriffsanalyse losgehen kann, hat man sich um Metakonzepte zu kümmern, die das Diskursgebiet der Anthropologie noch weiter abstecken (Ursache, Grund, Wesen, Funktion, Substanz – um nur einige zu nennen). Mal ganz abgesehen davon, dass zu klären wäre, was „Leben“ bedeuten soll. Man ist geneigt, angesichts dieser Aufgabenliste die Flinte ins Korn zu werfen. Umso wichtiger sind gute Einführungen, die ein wenig Licht ins Dunkel des anthropologischen Denkens bringen. Gerald Hartung knappe Darstellung „Philosophische Anthropologie“ gehört dazu.

Da die zentralen Begriffe – ungeachtet ihrer teilweise reduktionistischen Deutung – philosophischer Natur sind, kann ein Blick in die Geschichte der philosophischen Anthropologie helfen, die nötige Ordnung zu schaffen (oder zumindest andeuten, wie sie zu schaffen sein könnte). Diesen historischen Blick nimmt Hartung nach einführenden Gedanken zum Aufgabenbereich der Anthropologie als Teildisziplin der Philosophie vor, um dann systematisch weiterzugehen. Hartung macht dazu den üblichen und heuristisch geschickten Zug: Er bestimmt mit den Denkern der letzten Jahrhunderte den Menschen durch Abgrenzung zu dem, was nicht „Mensch“ ist, von dem sich der Mensch in seinem Selbstverständnis aber nie ganz trennen kann: Gott, Natur, Kultur, Technik. Alle, die in der (philosophischen) Anthropologie Rang und Namen haben, werden kurz und bündig abgehandelt: Hegel, Marx, Kierkegaard, Nietzsche, Darwin, Scheler, Plessner, Gehlen, Hartmann, Dilthey, Burckhardt, Cassirer. Wer ein Referat zu einer der Herrschaften halten muss („Das Menschenbild von ...“), wird fündig.

Schließlich beantwortet Hartung die zentrale Forschungsfrage der Menschheitsgeschichte so, wie man es von einem Philosophen erwartet: durch Nichtbeantwortung. Er macht damit deutlich, dass die Leistung der Anthropologie nicht in etwaigen Antworten auf die Frage liegen kann, sondern in deren Reformulierung eingedenk neuer Optionen, die flankierenden Konzepte zu bestimmen („Paradigmenwechsel“). Auch die Hoffnung auf rasche Antworten aus dem ungeduldigen Umfeld naturwissenschaftlicher, in Besonderheit neurobiologischer Forschung zum Menschen, muss enttäuscht werden, denn auch durch die (methodologisch fragwürdige) Überschreitung der Grenze von Natur und Kultur wird „das Problem des Sinnverstehens der je eigenen existenziellen Wirklichkeit [...] nicht aus der Welt geschafft“. Ganz im Gegenteil: Das „Sinnproblem Mensch, seine abgründige Rätselhaftigkeit, [scheint sich] im Fahrwasser ruheloser Forschung am Mechanismus des Lebens noch zu verschärfen“.

Die Aufmachung des Bändchens ist – wie in der Reclam-Reihe „Grundwissen Philosophie“ üblich – sehr nutzerorientiert: Es gibt eine kommentierte Bibliographie, ein Glossar, eine Zeittafel. Für interessierte Laien (und wer gehörte nicht dazu!) bietet das Buch damit neben einer ersten Orientierung Hinweise auf weiterführende Darstellungen. Empfehlung!
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