Ludwig Verbeek:

Wort für Wort in Norm und Form

Sämtliche Bleigedichte 1961-2012


Eine Rezension von  Bergmann
veröffentlicht am 25.03.13

Die Bleigedichte las ich mit großem Vergnügen an Form und Spiel, Heiterkeit und Ernst. Die sprachliche Variationsbreite innerhalb der monosyllabischen Dichtung frappiert. Das Vorwort ist vorzüglich gelungen. In der Tat sucht sich Erfahrung und tief Erlebtes immer wieder das Gewicht der Worte in der spannenden Einsilbigkeit und Schwere, die es erhält samt seiner Mehrdeutigkeit und die den leicht erreicht, der auch erlebt und erlitten hat, Rausch und Höhenflug und tiefe Trauer kennt. Kann sein, dass sich die Seele auf den tiefen Grund der Worte fallen lässt, wenn sie über den Dingen schweben will. Darin stimme ich Helma Cardauns zu, der Mutter Ludwig Verbeeks, deren Worte das Motto des Gedichtbands bilden. „Manchmal finde ich mich als Muschel wieder“, sagte sie einmal. Sein am Grund also, im tiefen Meer, das birgt und zeugt. Ihr widmete Ludwig Verbeek das schöne Gedicht „Für H. C.“ (S. 20). Der Gedichtband erscheint in den Tagen ihres Todes vor neun Jahren.

Auf den ersten Seiten denkt so mancher Leser angesichts des monosyllabischen Wortfalls: Mich dünkt, der Alte spricht im Fieber ... Schwer wie Blei fällt jedes Wort, im Flug ein Brand, ein Strich im Nichts – doch wird es hell am Rand, im Raum um Welt und Ich. Dann gewöhnt der Leser sich an Rhythmus und Takt, an Schwerfall und Leichtsinn des lyrischen Spiels, an Blei und Bleiguss der Wortgefüge – er beginnt zu genießen, was ihm eben noch so erratisch in den Trichter fiel, jetzt schluckt er es wie Zuckerstückchen und merkt zu seinem Glück: es ist noch lange nicht vorüber. In der Tat, das Beste kommt erst mit der Zeit, wie so oft.

Ich weiß nicht, wann Ludwig Verbeek den Frühen Grabspruch (S. 16) schrieb, ich vermute, er war noch ziemlich jung, aber wer weiß, honi soit qui mal y pense, vielleicht kokettiert er heute genauso wie in seiner Jugend mit dem Tod, es möchte ihm nicht übel anstehn:

„kein bett / war so groß / wie mein schlaf“

Es sind vielleicht sogar die schönsten Verse im ganzen Buch! Überhaupt, der Humor, der durch die Wortfugen weht, er ist ein Markenzeichen dieses Lyrikers, zumal sein Humor nicht auftritt wie ein Galan, sondern wie ein Weiser, wie eine fast unsichtbare Hand, die auf das Hintergründige von Schein und Sein hinweist, auf die Wahrheit, die wir oft nur ahnen und vermuten.

Mal reimt es sich, mal reimt es sich nicht. Mal geht es ums Ganze, mal ums Gedicht, was für den Dichter so gut wie das Ganze ist. Im Reimspiel von „Selbstverwirklichung“ (S. 35), das gegenüber dem Gedichtgedicht „Form und Norm“ steht, geht es um die Liebe: „lebst du dich aus / grenz ich dich ein ...“ – genauso steht es um das Verhältnis von Form und Inhalt im Gedicht. Am Ende siegt der Inhalt wie die Liebe – in der richtigen Form:

„... keimt dir das herz im haus / sprießt ros und dorn da raus / dringt in mich ein // du lebst dich aus“.

Eine ähnliche Struktur zeigt das Gedicht „Inbild“ (S. 40):

„bist du mir fern / so fehlst du mir / und in mir wächst / dein bild ...“

Auch hier siegt die Kraft des Lebens, der Liebe, die jedes normende Maß sprengt:

„... seis wort seis zahl / das herz es singt // und springt“.

Und wieder ein Gedicht über die Grenze des Lebens: „Totentanz“ (S. 42), eines der schönsten Gedichte in diesem Band, ein Lied des Leiermanns:

„... der tod spielt / spielt auf / zum tanz / blind rinnt / der satz / des sands / ... / im staub / strahlt auf / sein glanz / viel fällt / die welt / fällt ganz“.

Die acht kleinen ‚Strophen’ singen ein Lied vom Nichts, das aber ein Lied bleibt. Das Leben – ein heroischer Nihilismus à la Sartre und Camus?

An die ‚Beweisführungsgedichte’ Erich Frieds erinnert „Anliegen“ (S. 46). In dieser Art gibt es noch zwei oder drei Bleigedichte. Die Logik der Argumentation wird humorvoll gefährdet durch Wortspiele. Die Frage zweier Liebender, wer wen mehr liebt („an dir / liegt / mir mehr / als dir / lieb ist“ contra „an mir / liegt / dir mehr / als mir / lieb ist“), endet im Vorwurf des lyrischen Ichs: „an dir liegt es mehr“...

Ein wenig aus der Reihe fällt das „So nett D“, ein monosyllabisches, auf vier Jamben pro Vers verkürztes Sonett in Paarreimen, ein politisches Gedicht über die kritische Metamorphose „wir sind das volk“ zu „wir sind ein volk“. Da bekommt die undialektische Form ein Bleigewicht, das der Gravitation des Schwarzen Lochs ähnelt, die Form droht den Inhalt zu verschlingen, Qualität schlägt zuletzt um in blasse Quantität ...

In philosophelnden Versen wird das Nichts mehrmals in Streifen geschnitten, gewürfelt und platt gehauen, das Nichts wird so lange vernichtet, bis es quasi aufersteht und zu sein scheint. Aber auch wenn es existiert, sieht es nur so aus, als ob es existiert. Das wird so lange behauptet, bis das All, oder das Sein, Feind oder großer Bruder des Nichts, das Nichts umarmend, sich auflöst. Alles ist nichts. Nichts ist alles. Ein ähnliches Spiel mit den Worten und Inhalten veranstaltet das Gedicht „Schlaf“ (S. 78), das mit elliptischen Konsekutivsätzen und indirekten Fragesätzen den berühmten Satz des Sokrates umkreist und konkludiert: Ich weiß, dass ich nicht weiß,

„... daß ich weiß / ob ich weiß / daß ich leb / ob ich tot bin“.

Erstaunlich: Der Verbeeksche Syllaps bekommt keinen Kollaps. Die Zyklopiade der Bleiwörter ermüdet den Leser nicht, es sind zum Glück auch ein paar Gewichte aus Papier dabei, semantischer Puder, der vom Bleihimmel langsam auf den Bleigrund des tieferen Sinns schwebt.

Mir fällt auf, dass die Gedichte kaum verraten, aus welcher Zeit sie stammen. So gleichwertig sind die allermeisten. Ich denke auch – insbesondere bei „Sucht“ (S. 88) – an Vorläufer des einsilbigen Wortgesangs, Goethes „Hexeneinmaleins“:

Du mußt versteh’n! / Aus Eins mach Zehn, /Und Zwei laß geh’n, / Und Drei mach gleich, / So bist Du reich. / Verlier die Vier! / Aus Fünf und Sechs, / So sagt die Hex’, / Mach Sieben und Acht, / So ist’s vollbracht: / Und Neun ist Eins, / Und Zehn ist keins. / Das ist das Hexen-Einmaleins!

Die „Enzyklopädische Litanei“ wird schon im Vorwort als „wichtigster programmatischer Text“ bezeichnet. In diesem Gedicht zeigt Ludwig Verbeek, indem er idiomatische Wort-Wendungen durchdekliniert, dass für ihn die Sprache sowohl eine spielerische als auch intendierte Seite hat. Sprache spielt sich von selbst, wenn wir uns loslassen, sie spielt unsere Gedanken nach, sie spielt uns unsere Gedanken zu, wir spielen zurück, ein dialektisches Gewebe, das Verantwortung verlangt, wenn es nicht nur reines Spiel sein soll.

das wort folgt dem wort
das wort nimmt beim wort
das wort hält das wort
das wort verläßt sich auf das wort
das wort bricht das wort
das wort verliert das wort

Schon in der ersten Strophe (von insgesamt sieben) wird klar, wie wesentlich das Wort für unser Leben ist. Das Wort bindet uns an die Welt, wir binden unsere Gedanken und Taten durch Worte an die Welt, wir verbinden und verbünden uns durch die Sprache. Der tautologische Charakter der Wahrheit wird deutlich in den vielen gleichförmigen Sätzen, die ein Äquivalent zum monosyllabischen Bleigewicht dieses Gedichts hat.
So mahnt die allumfassende Litanei, indirekt klagend: Das Wort verlangt Ehrlichkeit, Vertrauen, Genauigkeit, Vollständigkeit, Stimmigkeit und vieles Wichtige mehr – dann gibt es uns Heimat und verleiht uns Identität und innere Stimmigkeit, Übereinstimmung mit der Welt, bis hin zur paradiesischen Hoffnung, die in der Anspielung auf die Bibel anklingt: „... das wort ist im anfang das wort ...“ Und wenn es im letzten Vers heißt: „... das wort folgt dem wort“, den Anfang des Gedichts wiederholend, so lese ich das als Hinweis auf das Leben als perpetuum mobile, das ewige Leben. So wird aus der Litanei ein Lied.

Ulrich Bergmann, 19.3.2013
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