Film & Fußball
Eine cineastische Mannschafts-Kolumne
Die Kolumne des Teams " Film & Fußball"
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Kino, überall
von Dieter_Rotmund
Muss man Filme sehen, um großes Kino zu erleben? Nein! Ich habe mal wahllos ein paar Orte zusammengestellt, an denen praktisch jeden Tag Kino ist - man muss nur hingehen und zuschauen.
1. Berlin, Tiergarten
In der Stadt der Hoffnungslosen ist der Tiergarten-Park das Zentrum der Hoffnungslosigkeit: Aggressive Obdachlose, Asylantenprostitution, Gewalt und Drogen, lese ich mit Erschrecken in meiner Tageszeitung. Ich selbst war in den 1990er Jahren im Tiergarten ein paar Mal joggen. Da war dort noch kein Kino der Hoffnungslosigkeit.
Regie: Oskar Roehler oder Zabou Breitman, vielleicht auch Ken Loach.
2. Vor Kindergärten und Grundschulen, morgens
Dutzende, schwere gepanzerte SUVs fahren vor, Kinder werden im absoluten Halteverbot ausgeladen und ob der chaotischen Situation auch mal überfahren. Fahrer sind immer Mütter, die unter keinen Umständen aussteigen. Viel Geschrei.
Regie: Auf jeden Fall Michael Bay.
3. Parteitage der AfD
(Vorsicht: Nie sagen, man sei Journalist, sonst kommt man nicht rein)
Großes Intrigantenstadl auf offener Bühne. Rufmord. Verleumdung. Rassenhass.
Regie: Leni Riefenstahl, natürlich!
4. Möbelhaus IKEA, samstags
Lautes Oberschranktürklappern. Parade schwangerer Frauen mit Dauer-Leidensminie, die angstvoll zu ahnen beginnen, in welche Katastrophe sie sich unentrinnbar begeben. Viele Statisten, die wahllos hin und her laufen. Showdown auf dem Parkplatz: Trennung, Suizid, Hinschmeißen aller gekaufter Möbel. Irgendjemand wurde im Kinderparadies zurückgelassen. Wirre Durchsagen über Lautsprecher. Zertretener Köttbullar hinter der Kasse. Ein blaue Tragtasche, die der Wind vor sich hertreibt, Dann nur noch Stille,
Regie: Christian Petzold oder Michael Haneke.
5. Vor dem Fußballstadion, an Spieltagen der Fußball-Bundesliga.
Was für Fans unnötiger und überflüssiger Gewalt-Action mit Menschenmassen und viel Feuerwerk. Handlung überflüssig.
Regie: Michael Bay, falls er keine Lust auf (2.) hat.
6. Familie
Fegefeuer der Eitelkeiten, Anschuldigungen, Anspielungen auf alle vorhandenen menschlichen Schwächen. Völliges Fehlen von Empathie. Der leere Milchkarton wird zurück in den Kühlschrank gestellt. Fast vergessene Niederlagen immer wieder ausgraben. Kein Auseinandergehen, keine Distanz möglich.
Regie: Roman Polanski, zusammen mit James Wan.
7. Familie, Weihnachten
Fortsetzung und großes Finale von (6.). Gewaltorgie: Zuerst verbal, dann Lichterkettenwürgen und Kerzenbrandmalen. Nackt und gefesselt in Weihnachtsbäume werfend. Keine Erbarmen: Zum Schluss ist keiner tot, sondern alle sind verletzt und gedemütigt.
Regie: Quentin Tarantino.
8. Hauptbahnhof, freitagnachmittags, schlechtes Wetter
Exodus. Gestrandete Pendler, gut verdienende Wochenendheimfahrer, angestoßene Rolkoffer. Dünner Kaffee in Pappbechern. Angstvolle Blicke zur Anzeigentafel. Jeder allein. Handyakku leer. Menschen, die dichtgedrängt stehen. Überall. Mit riesigen Röhrenschals, selbst im Sommer. Es riecht nach McDonalds-Bratfett.
Regie: Fritz Lang? Oder doch eher David Lean? Werner Herzog wäre verfügbar.
Kommentare zu diesem Teamkolumnenbeitrag
(19.10.17)
Schön garstige Darstellung des alltäglichen Wahnsinns.
(19.10.17)
Sherry Hormann: Von ihr kenne ich gar nichts. Sönke Wortmanns Kleine Haier (1992) war für mich eine Art Erweckungserlebnis, aber spätestens seit dem sehr braven Das Wunder von Bern (2003) sind mir seine Werke zu langweilig-konventionell geworden.