Sterbende Liebe

Kurzgeschichte zum Thema Schicksal

von  bluedotexec

Was ich jetzt noch sehen kann, ist ein ehemals auf- und ab wippender Pferdeschwanz, ein wunderbarer Rücken, der in einem ebenso schönen Hintern und zwei ewig langen Beinen endet. Das Ganze horizontal auf weißen Laken. Das ist auch das letzte, was ich sehen kann. Denn Tränen nehmen mir die Sicht. Leider nur die Sicht, nicht die Erinnerung.

Als würde man einen Film auf eine Wand aus Regen projizieren, kann ich nur hinter diesen verschwommenen Augen das ganze Ausmaß dessen wahrnehmen, was einst mein Leben war.
Ich traf sie insgesamt fünf mal im Leben. Auf der Grundschule, auf der Realschule. Auf der Berufsschule und im Arbeitsamt. Und dann da.
Es war vor einigen Jahren im "Black Shift", einer Disco der schwarzen Szene. Ich hasse sie, allesamt - jeden in der "schwarzen Szene". Sie glauben, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen und zeigen dies auch tatkräftig, in dem sie am Opernhaus oder am Bahnhof auf der Bank sitzen und billigen Vodka oder Apfelkorn nuckeln. Der Stolz der jugendlichen Gesellschaft, pah! Ich war in dieser Disco, weil mich irgendjemand überredet hatte, mitzukommen. Wieso wollen mich immer alle auf Partys sehen? Ich hasse Partys, ich bin kein Gesellschaftsmensch. Ich stand an der Theke, ein Bier in der Hand, und versuchte, nichts außer Ethanol und Musik in meinem Kopf existent sein zu lassen. Keine Tänzer. Keine Kinder und keine "bösen schwarzen Männer".
"Patrick?"
"Was, zur Hölle, willst du?" Ich kann meine Kehle knurren hören, bevor meine Zunge die Wörter erdrosseln kann. Und dann sehe ich sie. Statt dem Echo des Knurrens spüre ich, wie die Flüssigkeit aus meinem Hals weicht. Und das Blut aus meinem Gesicht.
"Carolin?"
"Ja." Gott, wie sie sich verändert hat. Die Haare schwarz, die Augen blind (Es sind Kontaktlinsen). Nietenhalsbänder.
Atemberaubendes Gesicht. Atemberaubender Körper. Aphrodite hätte gekotzt vor Neid.
"Du... siehst toll aus." Die Wörter kommen stockend.
"Du aber auch. Ich hätte dich fast nicht erkannt. Was verschlägt dich hierher?"
Ich spüre, wie sich im Käfig über mir die Köpfe auf- und ab bewegen, als würden sie mir ermutigend zunicken. Leider ist der kleine Rest Hirn, der einstmals darin vorhanden war, heraus"gebangt"worden. Einer von ihnen ist der Grund, warum ich hier bin.
"Der Abschaum menschlichen Verstandes. Und dich?"
"Das selbe, fürchte ich."
"Shiny."
"Machen wir, dass wir weg kommen?"
Bevor ich irgendwas sagen kann, spüre ich schon, wie meine Hand dem warmen Gefühl in selbiger folgt, als Carolin mich packt und vorwärts aus dem Electro-Tempel zerrt.
Einen Gedanken später stehen wir vor der Tür der Grotte.
"Wie ist es dir ergangen?"
Wie ist es mir ergangen?! Ich habe dich bisher viermal getroffen, das hier nicht eingerechnet. Jedes Mal hatte ich vor nichts größere Angst als dich anzusprechen. Dein Anblick hat die Luft aus meinem Körper gepresst, hat Hass wie Leidenschaft erstarren lassen.
"Gut."
ICH LIEBE DICH! ICH LIEBE DICH!!!!!
Verlegen stehen wir da.
"Seit wann siehst du so aus?" Wagt sie einen Vorstoß. Das war der kleine unscheinbare Dolch, der in mein Unterbewusstsein förmlich hereinsuggeriert wird. Sie ist auch nur ein Mensch.
Sie ist das, was du so hasst, wieso?
"Seit... schon länger."
"Was ist dir passiert?"
"Ich verstehe nicht recht."
Du bist mir erschienen, das stellt ALLES IN DEN SCHATTEN!
"Na ja, wieso siehst du jetzt so aus?"
Tausend Wege, eine Richtung...
"Ich weiß es nicht. Meine Eltern haben sich geschieden, das könnte es sein."
"Ehrlich? Das ist traurig, zu hören, dass wieder eine Liebe stirbt."
"Sie war schon lange tot. Es wurde Zeit, dass sie jemand beerdigte."
Ein zynisches Lachen dringt aus ihrer Kehle.
"Und wieso du?" setze ich fort.
Lach nocheinmal! LACH DOCH!
"Ich mag schwarz."
So ging es den ganzen Abend, aber es ist überflüssig, vier Stunden Konversation zu rezitieren. Am nächsten Morgen hatte ich, was mein Instinkt dem Abend abverlangt hatte.
Handynummer und Adresse.

Einen Monat später ist es die schönste Liaison, die ich je erleben durfte und je erleben würde.
Ein Jahr später war sie immer noch der Himmel und sein Wolkenkleid, der Boden und die Pflanzen und die Luft die ich atme.
Es war die dunkelste Hochzeit, die man sich vorstellen kann.
Ich sah immer zu ihr auf, es war, als wäre ich vier und sie zwanzig. Sie trieb mich voran, wo ich auch hin ging.

Selbst mein Job wird interessant. Verkehrsampeln reaprieren ist nicht das Optimum an Berufen, aber mit ihr ist es der Himmel. Mit ihr im Kopf.
Dies ist auch der Abend, der nie mehr zur Morgendämmerung werden wird. Ich habe noch eine halbe Stunde, in der Zeit lässt sich noch locker ein Straßenverkehrspartylicht reparieren. Aber, nach vier Jahren noch immer blind vor Liebe - ich gehe nach hause.
Was ich vorfinde, ist ein Zettel. Ich lese ihre Handschrift und sauge den Geist dahinter in mich auf. Jedes Wort ist ein Medium für ihre Stimme.
"Ich bin in Hannover, shoppen. Wenn du wieder kommst, dann fahr doch auch hierher, ich warte auf dich am Black Shift. Carolin"
Ihr Name ist ein Dolch in meinem Hirn. Süßes Gift. Das Telefon klingelt.
"Herr Hommann?"
"Ja, am Apparat."
"Ich rufe an aus dem Kreiskrankenhaus Lehrte."
Kalter Schauer. Keine Ahnung, wo.
"Was gibt es denn?"
"Ja, es ist so..."
"Drucksen Sie nicht herum. Raus damit, das macht es leichter." Natürlich weiß ich, was passiert ist. Sie ist tot. Carolin ist tot.
"Es geht um Ihre Mutter."
Gott sei dank.
"Was ist denn passiert?"
"Sie ist angefahren worden auf der Iltener Straße. Sie hat multiple Frakturen und innere Blutungen, aber sie wird durchkommen. Sie bat mich, Sie anzurufen und ihnen das mitzuteilen."
Ich bin auf dem Weg.
"Ja, ich komme."
Ich ziehe das Handy aus der Tasche.
"Carolin, Schatz? Ich komme doch nicht mehr nach Hannover. Meine Mutter ist im Krankenhaus und ich muss zu ihr."
"Oh Gott. Was ist denn passiert?"
"Sie wurde angefahren."
"Ach du Scheiße. Ich wollte dich eigentlich überraschen und doch noch kommen, bevor du von der Arbeit kommst. Ich sitze jetzt im Auto und fahre gleich in Lehrte ein. Schade, dass der Abend so enden muss."
Ja. Und schade, wie er enden wird.
Ich gehe aus dem Haus und steige in mein Auto. Es ist dunkel, wie üblich Ende November. Scheinwerfer an, Vollgas richtung Krankenhaus.
Ich fahre an der Iltener Straße vorbei. Tatsächlich steht da ein Polizeiwagen. Lange kann es noch nicht her sein. Die Beamten stehen an einer der Ampeln und reden.
Auf dem Beifahrersitz liegt noch meine Arbeitsliste und der Stadtplan, auf dem die zu reparierenden Ampeln eingetragen sind. In dem Moment knirscht meine Stoßstange. In einem VW-Polo gibt es nicht viel Knautschzone, deshalb ist die Motorhaube ziemlich schnell auf Höhe des Lenkrads, während mein Kopf durch den Airbag an der Rückenlehne fixiert ist.
Das dunkelgrau des durch die Straßenlaternen beleuchteten Airbags wird zu einem matten Schwarz, dass eine Fluchtmöglichkeit bietet.

Als ich aufwache, sehe ich weiß. Wände, Decke, alles weiß.
Ich sehe mir meinen Körper an. Narben, Kratzer, blaue Flecken. Nichts dramatisches. So schnell wollte ich nicht ins Krankenhaus. Ich habe ein Einzelzimmer.
"Ah, Herr Hommann, Sie sind wach. Wie schön."
Eine Schwester steht im Raum.
"Ja. ich war auf dem Weg hierher, meine Mutter liegt auch hier. Scheinbar hat's geklappt."
"Was hat geklappt?"
"Na ja, ich bin hier, oder?"
Die Schwester lacht.
"Das hier lag auf dem Beifahrersitz. Es sieht wichtig aus, deswegen bringe ich es ihnen."
Stadtplan und Arbeitsliste finde ich.
"Was ist eigentlich passiert?"
"Sie sind in ein Auto gefahren. So wie ich das sehe," Sie sieht in ihren Notizblock, "Genau da, wo ihre Mutter angefahren wurde. Das nenne ich Zufall. Jedenfalls war es nicht ihre Schuld, die Ampel war laut den Polizisten, die da standen, grün. Die Ampel war kaputt und zeigte dem anderen Verkehr aber auch grün an. Die Person, der sie reingefahren sind... Nun..."
"Ist tot." Beende ich den Satz trocken.
"Ich muss meine Frau anrufen. Hab ich mein Handy noch?"
Die Schwester deutet auf ein Telefon neben dem Bett.
Es tutet, doch niemand nimmt ab.
Dann kommt eine zweite Schwester in den Raum. Sie gibt mir wortlos mein Handy.
"Es wurde doch gefunden?" Das sind meine Worte.
In dem Moment klingelt das Handy auch schon.
"Herr Hommann? Hier ist nochmal das Kreiskrankenhaus Lehrte."
"Ah ja, ich..."
"Ich kann es mir nicht vorstellen. Sie tun mir so leid..."
"Sie können es mir auch..."
"Es ist schrecklich. Zweimal am selben Tag, an der Selben Stelle!"
"Kommen Sie doch einfach..."
Der Mann lässt mich einfach nicht ausreden.
"Es geht um ihre Frau."
Wo ist mein Herzschlag? Mein Gehirn?
Letzteres ist wohl da, wo die Stimme her kommt, die sagt:
"Sie wurde auf der Iltener Straße seitlich gerammt. Ihr Auto, meine ich. Die Ampelanlage war kaputt. Sie... ihre Frau ist..."
"Nein." Flüstere ich.
"Sie hat es nicht überlebt."

Erst die Hälfte des ganzen Grauens ist jetzt in diesem Text. Die andere Hälfte folgt jetzt - beziehungsweise ich sehe sie vor meinem inneren Auge auf dem weißen Bettlaken liegen. Eine einzige Ampel ist noch nicht abgehakt auf dem Stadtplan. Sie ist beschriftet mit:
'Iltener Straße, Ecke Hildesheimer Allee'
Die Laken wurden schwarz.
bis heute.
Was ich jetzt noch sehen kann, ist ein ehemals auf- und ab wippender Pferdeschwanz, ein wunderbarer Rücken, der in einem ebenso schönen Hintern und zwei ewig langen Beinen endet. Das Ganze horizontal auf weißen Laken. Das ist auch das letzte, was ich sehen kann. Denn Tränen nehmen mir die Sicht. Leider nur die Sicht, nicht die Erinnerung.

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