Kurzfilm

Kurzgeschichte zum Thema Historisches

von  Soshura

Im Kino war es still. Die Luft servierte Variationen von Süße wie kleine, aber schwere Vorspeisen. Ein Kurzfilm begann knisternd seine Bilder auf der Leinwand zu präsentieren.

Nahaufnahme. Eine Frau bei einem Ritual zu einer Zeit, als es noch keine Lippenstifte gab. Sie ist nicht schön. Ihr Blick ist streng. Dann fährt die Kamera in den Raum zurück. Einige Kerzen malen die Szenerie mit ihrem Licht in einen sanften Braunton und schenken den Falten der Unterwäsche den Schatten, der das Weiß hervorhebt. Die Hände liegen auf ihrem Schoß und nur ihre Augen scheinen sich der aus dem Hintergrund hervortretenden Zofe zuzuwenden. Stumm schwebt diese näher, bis sie sich vor die sitzende Frau kniet. Deren Gesicht bleibt ausdruckslos, gelangweilt.

Ein wenig lehnt sie sich nach vorn und hebt das Kinn. Fast unmerklich ist ihr Nicken auf den fragenden Blick hin und sie schließt ihre Augen. Die Arme der Zofe heben sich zögerlich, bis ihre Hände sanft die beiden Mundwinkel der Sitzenden berühren. Die Kamera wechselt die Perspektive und lässt den Zuschauer die Handwurzel emporgleiten, bis der von den Fingern der Zofe umrandete Mund die gesamte Leinwand füllt. Vorsichtig und zugleich gebannt folgt das Auge der Haut. Zwischen den Fingern scheint die Unterlippe gepresst, so als suchte sich das Fleisch einen Ausweg, der Zange aus Daumen und Zeigefinger zu entkommen. Schwerfällig und träge quillt es dazwischen hervor und verändert seine Farbe. Das Zögern weicht der Intensität. Keine Spur von Zärtlichkeit außer jener, welche durch die Bilder aus meiner Phantasie gedrängt wird. Fahl ist das Weiß, etwas erinnert an einen Stummfilm. Kraftvoll bearbeiten die Fingerspitzen das Fleisch und dort, wo der Druck die durchblutete Haut verlässt, rötet sich das Gewebe leicht.

Die Zofe lässt ab, nachdem sie auch die Oberlippe auf ähnliche Weise traktiert hat und verharrt, den Kopf gesenkt. Die Lippen werden durch ihre Trägerin begutachtet. Die Kamera fängt die Hand, welche prüfend über die Hautpartie streicht und gibt den Blick frei auf das Spiegelbild. Die Augen brauchen nur einen Augenblick, dann zeigen sie die Glanzlosigkeit, wie zuvor. „Es reicht nicht!“, die Zofe nickt nur stumm zu den Worten ihrer Herrin, welche sich ihr wiederum zuwendet. Dann hebt sie den Kopf und so langsam, wie die Kamera auf die beiden zusteuert, nähert sie ihren halb geöffneten Mund dem ihrer Herrin.

Doch sie küsst sie nicht. Stattdessen fokussiert die Kamera die Zähne wie sie sich in das zarte Fleisch der Lippen bohren. Langsam und doch fest, ebenso stumm wie unbarmherzig kaut die Zofe ohne Regung die anschwellenden Rändern des Mundes. Eine Träne sucht ihren Weg hinab und die Kamera gleitet das Rinnsal hinauf zu Quelle. Selbst das sich in der wässrigen Iris spiegelnde Kerzenlicht vermag nicht die Härte der ungeschminkten Augen zu umschmeicheln.

Einige Sekunden später betritt eine prunkvoll gekleidete Katharina II. den Ballsaal. Das Geheimnis ihrer vollen, roten Lippen kennt nur sie selbst und ihre Kammerzofe.

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Kommentare zu diesem Text


 souldeep (20.05.08)
mich gruselt.

:)
das hast du sehr malerisch beschrieben,
sodass ich beim lesen fast das gefühl
hatte, diesen film gesehen zu haben.

herzlich
Kirsten

 Soshura meinte dazu am 20.05.08:
Hallo, der Gedanke entstand in meinem Kopf, als im Radio über die Geschichte
des Lippenstiftes informiert wurde. Ich erfuhr, dass diese Praxis in der
Vergangenheit von Katharina II. wirklich angewandt wurde. Mir gruselte auch
ein wenig bei dieser Information, obwohl es sehr neutral dargestellt wurde.
Ich benutzte den "Kurzfilm", um mir zu gestatten, ausschließlich unbeteiligter
Zuschauer zu sein.

Danke und liebe Grüße zurück, Peter
(Antwort korrigiert am 20.05.2008)
(Antwort korrigiert am 20.05.2008)

 Traumreisende (20.05.08)
uiii, ist das gut beschrieben und so zwielichtig, die wirkliche lösung ist es am ende.
irgendwie garnicht schön, sondern auf subtile art brutal.
wirklich genial geschrieben!!

lg silvi

 Soshura antwortete darauf am 20.05.08:
-

Ich empfinde es auch als brutal.
Vielen Dank und Grüße zurück, Soshura
Spurensucher (44)
(20.05.08)
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 Soshura schrieb daraufhin am 20.05.08:
Vielen Dank für dein Lob ... und natürlich auch einen lieben Gruß zurück. Peter

 Dieter_Rotmund (09.06.18)
Etwas langatmig, müsste man dichter machen, so mein Vorschlag.

 Soshura äußerte darauf am 09.06.18:
Hallo Dieter,

Danke für Deine Empfehlung. Zugegeben, ich habe den Text selbst seit Jahren nicht mehr gelesen. Hast Du eine konkrete Idee, wie oder wo das "dichter machen" beginnen kann?

Danke im Voraus
Peter

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 10.06.18:
Na, kürzen!
Graeculus (69)
(09.06.18)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Soshura meinte dazu am 09.06.18:
Hallo Graeculus,

Ich pflichte bei und hab's korrigiert.

Liebe Grüße
Peter
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