III) Frau Ziegler

Geschichte zum Thema Menschen

von  Skala

Schwer atmend ließ ich mich in der Bahn auf einen Sitz fallen und stellte meinen Rucksack darunter. Die letzten paar Meter hatte ich rennen müssen.
Erst einmal lehnte ich den Kopf hinter mich ans Fenster, schloss die Augen und genoss die Stille. Um diese Zeit war nicht viel los in der Bahn. Gott sei Dank. Nach der Aktion mit Emily brauchte ich dringend eine Ruhepause.
Lange in Ruhe gelassen wurde ich allerdings nicht. Plötzlich schepperte etwas direkt vor meinem Gesicht und ich schreckte auf. Eine ältere Dame hielt mir eine Metalldose vor die Nase und lächelte mich freundlich an.
„Heute schon ein gutes Werk getan?“, fragte sie liebenswürdig.
„Kann man so sagen“, ächzte ich und hievte mich ein Stückchen höher.
„Das ist für ein SOS-Kinderdorf in Brasilien“, erklärte die Frau mir und zog die Spendendose, von der mich das obligatorische dunkelhäutige Kleinkind aus braunen Kulleraugen traurig anstarrte, ein Stück zurück. „Habe dort selber zwei Patenkinder. Goldig die beiden, kann sie nur leider nicht mehr so oft besuchen, das Alter, wissen Sie. Irgendwann verträgt man das Fliegen nicht mehr… Nun, haben Sie was über?“
Ich kramte in den Taschen meines Parkas nach Kleingeld. Normalerweise steckte ich mir das immer lose ein, mein Portemonnaie benutzte ich nur für Scheine und Papiere.
„Zwei Euro dreißig“, sagte ich und förderte drei Münzen zutage. „Hilft Ihnen das weiter?“
„Immer doch“, strahlte die alte Dame. Sie drehte sich um und setzte sich mir gegenüber auf einen der hässlichen, orangenen Plastiksitze, blickte zuerst nervös nach rechts, wo ein Punk mit dem Kopf an einer Haltestange eingedöst war. Er gab einen leisen Schnarchton von sich und sie drehte sich zufrieden wieder zu mir um. Eine zeitlang starrten wir uns an. Dann wanderte mein Blick langsam zu dem altmodischen Koffer zwischen ihren Beinen. Ein Namensschild baumelte am Griff.
HELENE ZIEGLER
war in ungelenken Großbuchstaben darauf geschrieben.
„Verreisen Sie?“, fragte ich.
Frau Ziegler lächelte mich freundlich an. „Hören Sie immer so schlecht zu?“
„Häh?“, machte ich.
„Na, wenn Sie mir eben zugehört hätten, wüssten Sie, dass ich nicht mehr reise. Das Alter, wissen Sie…“
„Moment mal“, unterbrach ich sie. „Sie haben gesagt, dass Sie nicht mehr fliegen. Wir sind hier aber in der Bahn.“
„So?“ Ein erstaunter Ausdruck huschte über das Gesicht der alten Dame. „Hab ich gesagt, dass ich nicht mehr fliege? Seltsam, ich war doch vor kurzem noch in Bangladesh, bei meinen Patenkindern.“
„Brasilien“, korrigiere ich. „Sie haben Brasilien gesagt.“
„Ach ja, jetzt, wo Sie’s sagen…“
„Also… ähm…“, ich räusperte mich. „Fahren Sie jetzt weg?“
„Natürlich fahre ich weg, Schätzchen, sonst säße ich doch nicht hier.“
„Und… wohin fahren Sie?“
„So hin und her und kreuz und quer.“ Frau Ziegler grinste mich an und erinnerte mich auf paradoxe Art und Weise an den Grinch. Fehlte nur noch eine Weihnachtsmannmütze und der grüne Teint. „Spenden sammeln, für das Kinderdorf in… wo war das noch mal? Ach ja, genau, Burma… Brasilien, meine ich.“
„Und da fahren Sie die ganze Zeit so hin und her?“, fragte ich verblüfft. „Mit Ihrem Koffer an der Hand, und dann immer durch die Gegend?“
Frau Ziegler winkte ab. „Ach, Kindchen, Sie glauben doch wohl nicht, dass ich mein ganzes Leben unterwegs verbringe? Nein, ich habe eine kleine Wohnung, mit einem Kater. Bin nur manchmal unterwegs, gerade so vor Weihnachten, wenn die Leute gerne etwas abgeben… nur mal ein bisschen sammeln. Mein Kater – Willi, ein ganz Süßer – bleibt dann solange bei meiner Schwester. Die ist ein bisschen verrückt, hat selber sechs Katzen und…“, jetzt senkte sie die Stimme, als würde sie mir etwas höchst Verbotenes erzählen, „spricht mit ihnen. Also, meinen Sie nicht, das ist ein bisschen krank?“
„Schon“, sagte ich zögernd.
„Sehen Sie“, rief meine Gegenüber jetzt so laut, dass ich erschrocken zusammenzuckte und der Punk einen röhrenden Schnarcher von sich gab. „Ich habe ihr immer schon gesagt, dass sie das mal kontrollieren lassen soll, von einem guten Arzt. Aber nein, sie schlägt alle meine Ratschläge in den Wind und unterhält sich fröhlich weiter mit den Katzen. Na ja, immerhin ist mein Willi bei ihr in guten Händen, auch, wenn er sich mit ihrer Tuffi gar nicht gut versteht.“
Sie machte eine kurze Pause um Luft zu holen und indem fiel der Kopf des Punk jetzt endgültig nach vorne. Er schreckte auf, starrte kurz mit glasigen Augen nach draußen und stand dann auf, schwankte durch den Gang und stieg dann an der nächsten Haltestelle aus.
Helene Ziegler gluckste zufrieden. „Ist doch gleich viel gemütlicher, oder nicht?“
„Geht so“, sagte ich. Vor zwei oder drei Jahren hatte ich auch mal dieser Punker-Bewegung angehört und kannte mich aus mit schiefen Blicken.
„Ob das wohl weh tut, so eine Sicherheitsnadel durch die Backe?“, überlegte die Alte.
’Wenn du wüsstest’, dachte ich und sagte laut: „Denke schon. Würde bei Ihnen auch nicht so gut aussehen.“
Frau Ziegler gluckste. „Da sollen Sie wohl Recht haben.“
Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen. Wir hielten an ein paar Stationen, und in den anderen Waggons stiegen wohl Menschen ein und aus, doch unserer blieb außer uns beiden unbesetzt.
„Tja“, sagte die Alte. „Ist schon traurig, nicht?“
„Hm?“, machte ich und schreckte auf. „Was bitte ist traurig?“
„Das hier“, antwortete Frau Ziegler und wedelte mit der Spendenbüchse, die sie immer noch in der Hand hielt. „Ich meine, Sie sehen mir aus, wie eine Studentin, und die haben ja nie viel Geld, oder nicht? Na, und Sie haben mir alles Geld gegeben, was Sie in den Taschen hatten. Und gestern ging ich auf so einen Aktentaschenträger zu, mit einem Mantel, ich sage Ihnen, der war nicht billig, und fragte ihn nach einer kleinen Spende, und, ob Sie’s glauben oder nicht, der sagte doch glatt, er habe kein Kleingeld. Na und, habe ich mir gedacht, leider war ich zu ängstlich, was zu sagen, man weiß ja nie, wo das drauf hinausläuft, nicht wahr? Dem hätte es doch auch nicht geschadet, einen Schein oder zwei zu geben, oder einen Scheck, aber der hat mich nur angesehen, als wenn ich sie nicht mehr alle hätte – das tun übrigens viele, das können Sie mir glauben –, aber Sie, Sie sehen mir nicht so aus, als ob Sie viel hätten, und Sie geben ab, ohne nachzudenken, das finde ich…“
’Alles klar’, dachte ich und blendete den Redefluss der alten Dame aus. Erschöpft schloss ich die Augen, während mir gegenüber fröhlich weitergeplappert wurde.
Als ich die Augen wieder öffnete, war mir einen Moment lang nicht bewusst, wo ich mich befand. Dann blickte ich auf die alte Frau mir gegenüber, die immer noch redete, schließlich aus dem Fenster. Und erschrak.
„Scheiße!“, rief ich, um mich sofort zu entschuldigen. „Tut mir leid, aber ich kann Ihnen leider nicht weiter zuhören. Muss hier ganz dringend raus!“
Beim nächsten Halt sprang ich auf, hastete zur Tür und sprang auf den Bahnsteig. Hinter mir schlossen sich die Metalltüren mit einem leisen Klicken und ich atmete erleichtert auf. Das ewige Geplauder der alten Dame war doch auf die Dauer zermürbend gewesen.
Blöd war nur, dass ich meine Haltestelle verpennt hatte. Gleichermaßen froh und missmutig verließ ich das Bahnhofsgebäude und hielt Ausschau nach einem Taxi…

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