Es ist keine große Neuigkeit, dass die einst so hoch angesehene Bildung in unserem Land zur Ausbildung verkommen ist und Generationen von Denkern und Kulturwissenschaftlern haben diese Entwicklung dokumentiert, beklagt und an ihr gelitten. Zahlreiche angeführte Beispiele und Erklärungen belegen eindeutig und schlüssig, dass diese Entwicklung unserer Gesellschaft durch den fortschreitenden Prozess der Technisierung, der Spezialisierung gefördert, wenn nicht gar bedingt ist. Dass Bildung dann nichts als Anpassungsprozess an die sich stetig verändernde Gesamtsituation ist, erscheint offenkundig und bedarf lediglich der Abstraktion, keiner weiterführenden Erläuterungen.
Das Erschreckende und zugleich Bezeichnende ist jedoch, dass dieser Tatbestand in unserer Gesellschaft konstant verklärt, beschönigt und verleugnet wird. Warum sagt man nicht all jenen jungen, noch nicht konformistisch denkenden und damit idealistischen Menschen, dass die Zeit des Dichtens und Denkens unwiderruflich vorbei, gestorben ist? Wieso spricht man von Freiheit und Selbstverwirklichung, wenn die Freiheit nur noch Wahlfreiheit, die Selbstverwirklichung nur noch Anpassung ist? Warum sagt man nicht jedem dieser jungen Köpfe direkt, dass sie Ingenieur, Biologe, Wissenschaftler werden sollen, aber nicht gebildet,
dass sie eine Funktion ausüben, aber nicht verstehen sollen? Wieso benennt man unsere Universitäten nach den großen Denkern, Freigeistern und Philosophen, wenn deren Ideen ständig beiseite geschoben, marginalisiert, wegrationalisiert werden?
Warum sagt man nicht, wie schmerzhaft die Geisteswissenschaften sind, weil wahre Bildungin unserer Gesellschaft nur dazu führt, an ihr zu leiden? Warum streut man nicht uns allen verpflichtend jenen beruhigenden Sand in die Augen, warum sagt man nicht, dass das Denken in der heutigen Zeit nur unglücklich machen kann? Warum fasst niemand in Worte, dass wir Generation für Generation mehr zu Tagelöhnern und Leibeigenen einer durch und durch regulierten, bürokratischen
- und somit verantwortungslosen - insbesondere rein marktwirtschaftlichen Gesellschaft geworden sind? Warum ist es den Medien nicht einmal eine Schlagzeile wert, dass sich unser Menschenbild so grundlegend verändert hat?
Wie gelingt es, diesen Prozess vor dem kleinen Feigenblatt unserer gemeinsamen Ideale, großen Ideen, rhetorischer Raffinesse zu verbergen?
Es geht längst nicht mehr um freie Entwicklung oder die „proportionierlichste Bildung aller Kräfte zu einem Ganzen“, sondern nur noch um den Transformationsprozess vom Rohstoff zum Rädchen, um das Feilen und Schleifen bis zur Einsetzung in ein „kompliziertes Räderwerk“, als dass bereits Schiller den Staat entlarvt hat. Warum erklärt man den Menschen nicht, dass sie nur noch ineinandergreifen, sich nur noch drehen müssen, dass nicht Denken sondern Handeln die Devise ist.Wenn man in unserem Staat eine solche Maschine sieht, wenn sich das Leben dann nur noch darauf beschränkt in den Wirren der Arbeitsteilung im dem einen Bereich zu produzieren, im anderen zu konsumieren, wenn unsere Existenz nichts mehr ist als Funktion und Ineinandergreifen der Räder, das Schmieren und Geschmiert-Werden, die vollständige Unterwerfung unter den mechanischen Willen einer Maschine ist, wäre es interessant zu wissen, welcher Funktion diese Maschine dient, oder, anders formuliert:
Wer steuert die Galeere, wohin geht die Fahrt und was ist das für ein Leben, dass sich im Verborgenen auf den oberen Decks abspielt?
In einer Welt in der man tagtäglich funktionieren muss, stellt sich doch die Frage, wozu diese Funktion im übergeordneten Sinne dient.
Als Antwort hat die Moderne das populäre Wort des „Fortschritts“ erfunden, der überall gepriesen und als Fernziel ausgegeben wird. Fortschritt jedoch bedeutet in seinem ursprünglichen Sinne nichts anderes, als dass man fortschreitet, sich von seinem ursprünglichen Zustand entfernt und es gehört nicht viel Fantasie dazu, um diesen Gedanken zu Ende zu denken und in diesem Fortschritt kontinuierliche Entmenschlichung, Mechanisierung und Unterwerfung zu begreifen, die sich rund um den Globus immer mehr beschleunigt.
Ein unsichtbares, übergeordnetes System reguliert längst unser Leben bis ins kleinste Detail. Die Erfahrung der postmodernen Arbeitswelt offenbart recht schnell, dass die propagierte Selbstbestimmung nichts als ein Euphemismus, eine Realitätsverzerrung ist, die darauf abzielt jegliche Meuterei unter Deck, oder aber, gewählter ausgedrückt im Sinne Platons, den Aufstieg vom Galeerenboden zum Licht der Erkenntnis zu unterdrücken.
Die Arbeitswelt wirft begeistert ihre Fäden, um all die willenlosen Marionetten, die sich ihr durch ihre Unschuld anbieten. Unsere eigentlichen, natürlichen, ursprünglich menschlichen Bedürfnisse und Triebe werden gelenkt; wir essen, schlafen, lieben nicht mehr dann, wenn wir wollen, sondern dann, wenn wir können, wenn wir dürfen. Wir müssen uns unsere Zeit einteilen, wir strukturieren all das, was uns ausmacht und ordnen es der Fremdbestimmung einer fremden Substanz unter, die sich unscharf als die äußeren Umstände eingrenzen aber nicht bestimmen lässt.
Unser Fortschritt führt dazu, dass wir nicht mehr die sind, die wir waren, gibt uns aber keine Antworten darauf, was wir einmal sein werden. Wir gehen so weit, dass wir den ursprünglichsten, den menschlichsten Trieb, die Fortpflanzung, den Erhalt von nichts weniger als unserer gesamten Spezies ökonomischen und fremden Maßstäben unterordnen. Wir wohnen nicht mehr dort, wo wir geboren wurden, wir ziehen der Arbeit hinterher, wir leben ein Leben, dass in einem "Lebenslauf" zusamnmenfassbar sein muss und ist.
Warum redet man vom „selbstbestimmten Subjekt“, wenn der Mensch längst nichts mehr als ein „fremdbestimmtes Objekt“ ist?
Die Beantwortung dieser Frage ist einfach und vielleicht gerade deshalb so gefährlich. Niemand möchte gerne ein „fremdbestimmtes Objekt“ sein, wir sind in der Übergangsphase, die Menschen sind noch nicht genug Maschine geworden um willfährig ihren gesamten Stolz gegen eine Fessel zu tauschen.
Unser Schiff, um erneut eine alte Metapher zu verwenden, ist in eine unwirkliche Strömung geraten, über die wir nichts wissen, als dass sie uns mit unerbittlicher Kraft in eine bestimmte Richtung zieht, deren Ziel ungewiss ist. Anstelle einer gemeinsamen Reflexion, einer Diskussion über den geänderten Kurs, die im ursprünglichen Sinne des Wortes „politisch“ wäre, zwingt man uns schneller zu rudern und Armut und Existenzangst sind die Peitschen der Aufseher.
Man muss sich recht weit von Marx entfernen, um zu begreifen, dass die gesamte Menschheit ausgebeutet wird, zum Proletarier, vielleicht genauer zum Roboter verkommen ist, dass es keine herrschende Klasse mehr gibt, sondern, dass ein jeder, ob reich und dekadent, oder aber arm und ohne jede marktwirtschaftliche Perspektive, Teil dieser Maschine ist, dass sich die Menschen nur noch in ihrer Funktion im unveränderlichen Räderwerk unterscheiden, dass selbst der jeweilige Kapitän des Schiffes sein Handwerk nicht mehr „beherrscht“, sondern der Fahrrinne der anderen Schiffe folgt. Der grassierende Fortschrittsgedanke ist nichts als eine großangelegte Regatta, deren Ziel all jenen Schiffern, Matrosen, Aufsehern und Ruderern im gleichen Maße ungewiss ist, einfach, weil es keine Seekarten gibt, auf denen die Zukunft bereits eingezeichnet ist. Das gesamte Leben besteht nur noch aus diesem Treiben, Treiben und Getriebenwerden.