Ich nicke, trinke wortlos meinen Tee leer - so etwas hatte ich befürchtet. ‚Habt ihr ein Fax?‘
Sie zeigt mir das Gerät. Ich schicke dem Albaner eine SMS, warte ein paar Minuten. Kurz darauf spuckt mir die Maschine den Beleg dafür aus, dass sich Bowman tatsächlich wieder in Berlin befindet. Drei Namen, zwei davon unbekannt, alle drei zur selben Zeit gebucht, alle mit der gleichen Kreditkarte bezahlt.
Der Name, den ich kenne: J.R. Daniels - das Alias der Maschine.
Nachdenklich gehe ich mit dem Blatt Papier in der Hand zurück in die Küche, wo Anne mehr Tee trinkt.
‚Kann ich sie noch einmal sehen, bevor ich gehe? Ich verspreche, ich wecke sie nicht auf.‘
Sie zögert, nickt schließlich. Will aufstehen, mich begleiten, entscheidet sich dagegen. Bleibt sitzen und lässt mich gehen.
Genauso behutsam wie Anne vorhin drücke ich die Klinke herunter und betrete den Raum, in dem durch die Vorhänge gedämpftes Licht herrscht. Mit leisen Sohlen trete ich an ihr Bett, betrachte ihre zerbrechliche Form. Ihr Gesicht ist eingefallen, die Haare immer noch stumpf. Wird eine ganze Weile dauern, bis sie wieder die Molly von früher ist. Wenn überhaupt.
Langsam strecke ich eine Hand aus, berühre ihre Stirn, die sich erstaunlich kühl anfühlt. Ich weiß nicht, wieso ich Fieber erwartet habe. Mit dem Zeigefinger ziehe ich erst ihre rechte, dann die linke Braue nach. Ihre Lippen bewegen sich sachte.
Je t’adore, hatte eine belgische Prostituierte in Amsterdam damals zum Abschied zu mir gesagt. Mir dabei mit ihren kirschroten Fingernägeln über die Lippen gestrichen und mich aus schwarzen Kulleraugen angesehen. Geblieben war ich trotzdem nicht.
Betrachte meine eigenen Hände vor dem Hintergrund von Mollys bleichem Gesicht. Die Fingernägel sind abgerissen, feine Linien aus Dreck furchen die raue Haut. Dreck, den ich nicht mehr abgewaschen bekomme.
Ich beuge mich nach vorne, küsse beide Augenbrauen. Das hat meine Tante früher immer gemacht, und mir erzählt, das würde mich vor den bösen Feen, den bean sídhe beschützen. An der Wirksamkeit gab es keinen Zweifel: Anders als so viele, denen ich im Leben begegnet war, hatte ich nie das Heulen der Banshee, der Todesfee, hören müssen.
Mit einem Lächeln widerstehe ich der Versuchung, ihre Lippen zu küssen. Anne wäre vermutlich nicht begeistert.
Ein letzter Blick über die Schulter und ich hebe kurz die Hand zum Gruß – keine Ahnung, ob wir uns wiedersehen, Molly.
Draußen erwartet mich bereits Anne. Zufrieden, dass ich Molly nicht geweckt habe, nimmt sie mir mit einem prüfenden Blick in das Zimmer die Klinke aus der Hand, schließt die Tür.
Wir stehen dicht voreinander, sehen uns an.
Sie bricht das Schweigen: ‚Molly steigt aus, sobald sie wieder auf den Beinen ist. Geht in Pension‘, fügt sie mit einem kleinen Lächeln hinzu.
‚Hast du sie darin bestärkt?‘, will ich wissen.
Zögernd nickt sie.
‚Gut‘, stelle ich fest. ‚Pass auf sie auf, okay? Nicht, dass sie sich umentscheidet, sobald sie wieder auf den Beinen ist.‘
‚Mach ich. Und du – wer passt auf dich auf, dort drüben in Berlin?‘
Ich grinse. ‚Ich habe einen großen Bruder, der mich aus der Scheiße raushaut. Der Schwarze Mann sorgt dafür, dass mir nichts passiert. In Ordnung?‘
Sie nickt. Aus einem Impuls streiche ich ihr sanft mit dem Handrücken über die Wange, bevor ich gehe – raus aus dem Appartement, raus aus dem Leben der beiden kleinen Lesben-Killer.
Draußen begrüßt mich Belfast mit feinem Nieselregen – Feuchtigkeit, die in der Luft schwebt, sich nur zögernd auf Jacke und Haare niederlässt, kaum merklich. Durch die man stundenlang laufen muss, um nass zu werden.
Mache ich. Ich laufe kreuz und quer durch East Belfast, am Hafen entlang, treibe mich im Stadtzentrum herum. Mein Flug geht erst abends – die Zeit verbringe ich damit, mich zu Fuß von der Stadt zu verabschieden.
Obwohl ich eine Antwort auf eine offene Frage erhalten habe, macht mich das nicht zufrieden. Kaue auf einem weiteren Puzzlestück herum wie ein streunender Hund auf einem Gummiknochen, den er am Straßenrand gefunden hat. Wer hat versucht, Molly zu sabotieren? Was hat das mit mir zu tun? Hat das überhaupt mit mir zu tun?
Frustriert spucke ich den Knochen aus. Diese verdammten Rätsel gehen mir mordsmäßig auf die Eier.
Kurz denke ich darüber nach, ein weiteres Mal Sal aufzusuchen. Ihr Lebewohl zu sagen. Entscheide mich dagegen, es kommt mir nicht fair vor. Als würde ich sie nach Molly zur zweiten Wahl machen – weil Molly unendlich weit weg ist. Unerreichbar in weißen Verbänden in Annes Armen liegt.
Außerdem könnte ich meinen Flug vermutlich auch nächstes Jahr verschieben, wenn ich mich von jeder Frau, mit der ich in dieser Stadt geschlafen hatte, verabschieden wollte. Also musste Sal ohne einen Abschiedskuss meiner Lippen auskommen.
Unruhig schiebe ich mich im Flugzeugsessel hin und her. Spähe über meinen Sitznachbarn durch das kleine Bullauge nach draußen. Seit einer Ewigkeit stehen wir auf der Startbahn, warten auf den Tower.
Mit einem Stöhnen lehne ich mich wieder zurück, ignoriere den Blick des dicklichen Geschäftsmannes, dem ich schwer auf die Nerven gehe.
Bevor ich mich auf den Weg zum Flughafen gemacht hatte, waren die drei Schusswaffen von mir unauffällig im River Foyle versenkt worden. In das Flugzeug konnte ich sie nicht mitnehmen, und sie zu deponieren erschien mir zu unsicher.
Mein Messer befindet sich im Gepäckraum, und immer wieder werfe ich den anderen Reisenden paranoide Blicke zu. Es juckt mir in den Fingern, endlich Bowman gegenüber zu stehen, meinen Peiniger in die Finger zu bekommen.
Unruhe macht mir zu schaffen, wie seit Tagen nicht mehr. Ich erinnere mich an einen Urlaub mit meinen Dad – wir waren zu Fuß im Westen Irlands unterwegs gewesen. Der Marsch war weit über meine Kräfte gegangen, und immer wieder war ich kurz davor, einfach aufzugeben. Jede Hügelkuppe versprach mir das Tal dahinter, die Erlösung. Aber irische Hügelkuppen zeichnen sich dadurch aus, dass hinter ihnen keine Senke, sondern nur die nächste Kuppe kommt. Mein Vater hatte damals auf meine Frage, wenn wir endlich ankommen würden, nur gesagt: ‚Wenn du denkst, du bist am verzweifeln, du müsstest gleich umdrehen – dann hat du plötzlich das Ende erreicht.‘
Bereits ein Dutzend Mal hatte ich diese Gedanken gehabt, ihn heimlich bis in die Neunte Hölle verflucht. Kein Ende in Sicht.
Unvermittelt taumelte ich durch das zähe Gras auf einen Hügel und sah unter mir den glitzernden Stausee, zu dem wir unterwegs waren. Die Erlösung. Damals hatte ich vor Erschöpfung und Freude geweint.
Wenn ich jetzt weine, schmeißen sie mich endgültig aus dem Flugzeug. Die Stewardessen werfen mir bereits nervöse Blicke zu – versuchen zu ergründen, ob meine Unruhe eine Gefahr für sie und ihre Passagiere darstellt.
Ich zwinge mich, der kleinen Blonden mit einem entspannten Lächeln zu begegnen, Hände und Füße still zu halten und abzuwarten.
Als sich der Flieger endlich in Bewegung setzt, ich die Vibration spüre und mich der Antriebsschub kurz darauf in den Sitz drückt, erklettere ich meine Hügelkuppe. Endlich wieder in Bewegung!
Mit einem Grinsen warte ich auf den Schmerz – der kommt, als Stout seine Arme um mich schlingt.
‚Willkommen zurück, Kleiner.‘
‚Danke, dass du gekommen bist, Bruder‘, erwidere ich die Begrüßung des Schwarzen, als er von mir ablässt. Er dreht sich um, öffnet mir die Wagentür. Erschöpft lasse ich mich in die nachtschwarze S-Klasse fallen, sehe zu, wie Stout ebenfalls einsteigt. Wir rollen vom Parkplatz des Flughafens.
Ich hatte ihm den Großteil der Details meiner Suche in Norn Iron bereits am Telefon durchgegeben, ihn auf den neuesten Stand gebracht. Er hatte sofort angeboten, zu kommen und mich abzuholen.
‚Wo ist dein GMC?‘ Normalerweise waren der Schwarze und sein Bulldog-Van so unzertrennlich wie siamesische Zwillinge kurz vor der OP.
‚Mit dem ist Toffee in Westdeutschland unterwegs‘, erklärt er missmutig. Toffer hatte einen Aushilfsjob für ein Inkassounternehmen drüben im Ruhrgebiet, in Gelsenkirchen, angenommen. Es blieb unklar, ob er rechtzeitig zurück sein würde, um Teil an der Party zu haben. Blieben nur wir beide.
‚Wie geht’s jetzt weiter?‘, will er wissen, als er sich auf die Stadtautobahn einfädelt. Ich fühle mich an die Szene erinnert, als ich Molly vom Flughafen abgeholt habe. Kleine, zerbrechliche Molly.
Ich sehe nach draußen, Lichter der Großstadt. Es ist trocken in Berlin, aber kalt. Eine Kälte, die unbarmherzig in die Glieder kriecht, in den Knochen schmerzt.
Unwillig schüttele ich den Kopf. Hätte gedacht, dass ich froh sein würde, Irland ein weiteres Mal den Rücken zu kehren. Heimzukommen, nach Berlin.
Dem ist nicht so. Eine merkwürdige Melancholie erfüllt mich, eine Trauer, die einen Schmerz analog zu dem des Wetters in mir drin hervorruft. Vielleicht bin ich doch mehr Ire als ich mir weis machen wollte. Jahrhundertelang sind die Iren von der Insel fortgezogen, ein Volk des Exodus‘, und immer hat dieses Fortgehen unerträgliche Agonie verursacht.
Ach, scheiß drauf!
Mit einem Grinsen sehe ich rüber zu Stout. Er lächelt zurück.
‚Es ist gut, zurück zu sein.‘
‚Es ist gut, dich zurück zu haben‘, erwidert er.
‚Was hältst du davon, einen kleinen Krieg zu entfachen?‘
Sein Grinsen wird breiter, die Zähne schimmern im Dunkeln. ‚Du kennst mich – ich bin für jeden Fight zu haben.‘