Spazierengehen: Durch die Bank weg.

Gedanke zum Thema Gewalt

von  Elén

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Der Westen hat sich über die Zeit daran gewöhnt, den Kaffee aus dem Becher zu trinken, sich die Zunge zu verbrennen, um mit der letzten Neige festzustellen, dass das kein Kaffee gewesen sein kann. Ich habe Kaffee gekauft. Aber es war kein Kaffee. Es war zur Hölle, hundertprozentig kein Kaffee! Ich habe Käse gegessen aber es war kein Käse. Ich habe vergessen die Salatgurke aus dem Keller zu holen und habe das erst fünf Wochen später bemerkt, als ich Zwiebel einlagern wollte, festgestellt: die Gurke ist grün, knackig, saftig wie am ersten Tag. Dominik, brüllte ich, wirf sie weg, wirf sie sofort in den Müll! Dominik guckte etwas verdutzt und warf sie dann in die Biotomme obwohl sie wahrscheinlich zum Sondermüll gehört hätte. Und letztens las ich in der Zeitung, dass genmanipulierter Mais die Menschheit verseucht. Alle überfettet. Krank. Asthmatisch. Gichtig. Ich habe viele andere Dinge noch in der Zeitung gelesen und dann bekam ich Schlafstörungen. Vor allem als ich las, dass ich von der Europäischen Union einen Rettungsschirm geschenkt bekommen habe, der für den Notfall dort hängt wo der Sack mit dem vielen toten Geld hängt. In Fuku, in Fukudings ist ein Atomkraftwerk explodiert und hat die ganze Umgebung versaut und als Frau Angela sagte: Wir machen jetzt Stresstests, da bekam ich entsetzkichen Schüttelfrost, so ein Grausen durch und durch. Erst wollte ich mich hinlegen, allerdings war die Luft so dick im Schlafzimmer und Dominik telefonierte gerade mit Nina, die fertig ist weil der Eisbär gestorben ist. Ich mußte raus, weg, fort, zumindest auf die Straße um ein bißchen Wind und Frühling zu holen. Gehen, gehen, gehen bis dieser Wahnsinn, den man da rund um die Uhr konsumiert, bis sich das wieder etwas ausgelüftet hat. Die Bäume in der Allee treiben erste Blätter, auf den Bänken liegt Sonne, an die Bänke streift Wind, auf den Bänken sitzen Obdachlose und trinken mit zittrigen Händen Wein aus Plastiktüten. Auf den Bänken sitzen Drogensüchtige und dämmern im Licht, auf den Bänken sitzen Obdachlose und betteln um Geld, unter Bänken sitzen Tauben und scharren im Sand. Auf den Bänken sitzen Bengels und rauchen Gras. Täglich. Täglich einer weniger. Täglich einer mehr und täglich ist man alsdenn konfrontiert mit schlagenden Begriffen wie "Armut", "Chancengleichheit", "bedürfnisorientiert", "psychische Erkrankung", "Integration", "Bedarfsmeldung, Clearing, Bedarfsorientierte Mindestsicherung", "Menschenwürde, Menschenrechte", "Interessenskonflikt" etcetera, etcetera, etcetera und je wacher man durch die Straßen geht, beobachtend Ausschau hält, je aufmerksamer man die Dinge erörtert, so kann man feststellen, dass diese Armut, eine strukturelle, eine hundsgemeine Armut ist, eine Armut ist, die in wenigen Fällen als Gott gegebenes Schicksal aus dem Himmel fällt in die Schöße der Menschen und, dass die Verarmung, diese emotionale Verarmung, diese materielle Verarmung, ja diese physische und psychische Erstarrung und Erkrankung unter dem Druck des geltenden Leistungsbegriffes entsteht. Menschen degenerieren und werden Ausdruck tiefgreifender Pathologien in einer Kapitalgesellschaft. Wohlstandsverwahrlosung und Burnout sind zu gesellschaftsfähigen Begriffen geworden. Doch wem ergeht es wohl und wem dann doch eher unbehaglich? Wo ist das Wahre hingekommen, wer sind jene, denen die Wahrheit zuzuordnen ist und woran erkennt der Unkundige jene, die ohne Wahrheit sind, und wenn dieser Wohlstand nun da und dort als wahrlos erkannt wird, wo hat sich das Wahre, das Wesen des Weisen festgesetzt in diesem Gesellschaftskörper über dem Lärm und der Geschäftigkeit? Wer brennt und wer geht nur mehr mit einer kleinen Funzel durch die Gegend? Wir brauchen mehr Wachstum, steht in den Zeitungen. Wir brauchen mehr Sicherheit! Wir brauchen ein Theater und Pakplätze und Grünanlagen und bitte wenn möglich keine Bettler in Fußgängerzonen, die, der Markt reguliert sich von selbst, naturgegeben der kaufkräftigen Elite vorbehalten sind. Wir steigern das Bruttosozialprodukt. Wir leben im 21. Jahrhundert und denken nicht gerne nach über Nebensächlichkeiten. Die Würde des Menschen ist unantastbar, nur manchmal muß man eben ein wenig nachjustieren und den Radiergummi zur Hand nehmen für einen Gesetzestext der den Anforderungen der Gegenwart gerecht wird. Das ist unerläßlich. - Um diese Armut zu bekämpfen werden phantastische Erfindungen auf den Weg gebracht, die sich Chancengleichheitsgesetz nennen oder Subsidiäres Mindesteinkommen oder Salutogenese. Klingt bahnbrechend, klingt futuristisch, klingt nach einschneidender politischer, sozialpolitischer Intervention für Menschen, für einen Gesellschaftskörper der zirkuliert, der pulsiert und Räume schafft für Individuen. Sind sie aber nicht, diese Begriffe. Je länger man all diese tollen Wortkonstrukte im Mund und auf Zetteln durch die Gegend trägt, desto mehr kommt einem die Erkenntnis, dass sie schal werden die Wörter und dass die Papierhaufen schwerer und schwerer werden und dass die Systemkorrektur noch pathologischer ist als das System selbst. Jetzt hat sich der Penner den Wein in den Hals geschüttet und nicht in den Mund. Das ist traurig. Das ist entsetzlich hoffnungslos. Das ist so gewaltig, ächzen die Bürger und bürgen für das Phantom, das ihnen beschrieben wurde. Es werden Defizite im Sozialsystem geortet, es werden Gesetze entworfen, die auf Annahmen gründen, welche in der Lebenswirklichkeit allerdings nicht Frucht tragen, da die Gesetzgebung aufgrund von Annahmen Maßnahmen und Leistungen beschließt, die mit der Realität nichts zu tun haben und insofern selten den Menschen und seine Bedürfnisse betreffen, geschweige denn seine Chancen verbessern und seine Lebensqualität auch nicht. Da wird der psychisch Kranke, der Obdachlose, der Verarmte, der doch bloß Ausdruck des kranken Systems ist, stigmatisiert, instrumentalisiert und der Sozialarbeit zugewiesen, die diesen im Wucher dysfunktionaler Strukturen verwaltet, ihn hin und her schiebt, ihn von da nach dort schickt, unter dem Vorwand bester Absichten, etwas beklemmt, zugegeben, und unter Bergen von Papier nicht recht weiß wohin mit ihm, ihn möglicherweise noch mehr ruiniert, aber der Wille geht fürs Werk ob er will oder nicht. Alles Struktur. Wir müssen innehalten. Wir sehen ja die Katastrophe sagt Frau Angela und beschließt ein Moratorium und selbstverständlich verdient der Arme mehr als er bekommt, aber in Zeiten wie diesen sind Rettungsschirme zweckgebunden.


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Kommentare zu diesem Text

Caty (71)
(26.03.11)
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Jack (33)
(26.03.11)
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Vincént (19)
(27.03.11)
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