Tomatenzeit
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Tomaten-Sträucher gepflanzt. Die meisten Früchte in den „oberen Stockwerken“ sind noch klein, hart und grün, die unteren werden schon rot, manche haben Risse. Ich weiß nicht, wie ich das hätte verhindern können. Doch sie schmecken trotzdem, wenn man das Schadhafte herausschneidet. Mir fehlt die Erfahrung - wie so oft im Leben.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie wir uns kennen lernten. Eines Tages war sie da, klein, drahtig, sehr kurze Haare. Frau Rubach. Warum sie mich mochte, wusste ich nicht. Wir joggten mit einander. Doch weil sie durchtrainierter war als ich, hängte sie mich nach einer Weile ab, und wir liefen von da an getrennt. Wenn wir uns bei gemeinsamen Bekannten trafen, begann sie mit mir zu diskutieren. Über Gott und die Welt. Mehr über Gott. Ich bin immer vorsichtig bei solchen Themen, vor allem bei solchen Menschen, die wie sie alles besser wussten als ich. Also blieb ich meist still und hörte ihr zu. Beim Garagenfest in unserer Nachbarschaft wollte sie unbedingt neben mir sitzen. Sie erzählte mir, dass sie eine Ausbildung in chinesischer Heilkunst beginnen wollte. ‚Sie hat aber doch drei schulpflichtige Kinder’, dachte ich besorgt, ‚und einen Mann’. An den dachte ich auch, sagte aber nichts und lächelte nur unsicher. Sie wirkte jedoch so, als ob sie ihr Leben im Griff hätte.
Heute Morgen krümmen sich mehrere Schnecken unter den Sträuchern. Es ist meine Schuld, ich habe Schneckenkorn gelegt. Sie hätten sonst meine Zucchini gefressen und meine Dahlien verzehrt. Aber meine Pflanzen sollen kein Schneckenfraß werden. Was man nicht behütet, wird zerstört. Was man nicht pflegt, verkommt. Lieber nehme ich den Tod der Schnecken in Kauf. Sie sind sowieso eklig schleimig und kriechen so aufregend langsam durch die Beete. Außerdem fressen sie sich oft noch gegenseitig.
Wir verloren uns aus den Augen. Sie sei ausgezogen, in eine andere Stadt, sagte man mir. Sie hätte ihren Mann verlassen. Aber keiner wusste, was vorgefallen war. Damit hatte ich nicht gerechnet, denn erst kürzlich traf ich das Ehepaar Rubach noch beim gemeinsamen Abendspaziergang. Sie gingen forschen Schrittes nebeneinander auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wir grüßten einander flüchtig, höflich distanziert.
„Und die Kinder?“, fragte ich. Die zwei Großen seien im Internat, die Kleine hätte sie mitgenommen, bekam ich zur Antwort. Ich vergaß nach dem Ehemann zu fragen.
Es ist ungemütlich schwül in den engen Gassen der Stadt. Die Luft steht zwischen den Häusern. Unter all den eiligen Menschen um mich herum fällt mir ein weißhaariger großer Mann auf. ‚Er sieht Herrn Rubach sehr ähnlich’, denke ich, ‚er könnte es sein und auch wieder nicht, denn die Frau an seiner Seite konnte unmöglich Frau Rubach sein. Ich kenne seine Frau, aber diese große langhaarige Frau ist mir unbekannt. Also ist dieser Mann auch nicht Herr Rubach’, beschließe ich und bin froh, wenn ich bald in meiner kühlen Wohnung sein kann.
Ihr Haus fand ich schon immer ungemütlich. Es wirkte von außen nahezu unbewohnt. Kein Blumenschmuck im Hauseingang oder an den Fenstern, die auch tagsüber immer geschlossen waren, keine Vorhänge, nur Fensterläden. Irgendwie hatte es keine Seele. Selten sah man jemanden im Garten, selbst die Kinder nicht. Ein glatt geschorener Rasen, Büsche am Rande und ein verlassener Liegestuhl auf der Terrasse – das war alles. Eine unterkühlte Sachlichkeit. ‚Vielleicht brauchten die Bewohner es so, dass alles übersichtlich und gerade war im Äußeren wie im Inneren, in ihrem Leben’, überlegte ich. Jetzt also wohnte der Hausherr allein in dem Haus ohne seine Frau, und es war erst recht nicht verwunderlich, dass das Anwesen völlig unbelebt aussah. Er war ja ein vielbeschäftigter Geschäftsmann und oft auf Reisen.
Ich setze mich in den Schatten meines Gartens. Die Vögel sammeln sich schon in den Büschen und Bäumen. Ihr aufgeregtes, lautes Gezwitscher ist unüberhörbar. Sie fliegen kurz auf, schwenken über die nahen Felder und setzen sich wieder. Sie rüsten sich zum Aufbruch, um der Kälte zu entfliehen. Ein Wunder ist es für uns Menschen. Man sagt, dass die Zugvögel im Fliegen schlafen können und dennoch die Richtung nicht verlieren. Bald wird es kühl sein abends, auch in den Nächten, und ich bezweifle, dass noch all die kleinen grünen Tomaten an den Sträuchern in meinem Garten reif werden können.
Von nun an gibt es nahezu täglich Tomatengerichte. Ich lade mir Gäste ein. Den gedeckten Tisch schmücke ich mit einem großen Strauß Gartenblumen. Ich mag es üppig und farbig, wie es dem Spätsommer entspricht. Wir essen die Tomaten mit Käse oder Schnittlauch, wir essen sie als Salat, wir essen sie gedünstet oder gegrillt oder als Belag auf einer Pizza. Gesund sollen Tomaten sein. „Sie heißen auch Liebesäpfel“, sagt verschmitzt lächelnd mein abendlicher Besucher. Und wir küssen uns innig. Das Geschirr ist abgeräumt, allein die Vase mit dem Strauß bleibt zurück. Mein Besucher hat sich einen Block Papier zurechtgelegt, dazu Kohlestift und einen Farbkasten mit verschiedenen Pinseln. Ich schaue ihm für eine Weile über die Schulter, beobachte, wie er mit flotten Strichen die Vase, den Blumenstrauß, das Tischtuch vorzeichnet und dann mit kräftigen Pinselstrichen koloriert. Alle Sommerfarben vereinigen sich nach und nach zu einem ausdrucksstarken Aquarell. In kurzer Zeit ist es fertig. „Wenn es trocken ist, möchte ich es dort drüben über dem Klavier aufhängen“, sage ich. Musik und Malerei – wie gut das zusammenpasst. Ich mag das noch von früher.
„Ich möchte dein ‚Früher‘ einmal besuchen. Wie wäre es, wenn wir morgen gemeinsam an deinen alten Wohnort fahren? Magst du?“, fragt er mich. Ich bin einverstanden.
Überraschenderweise kam sie mir eines Tages unvermutet beim Joggen entgegen. Wir liefen aneinander vorbei. Ihre Haare waren noch kürzer, ihr Gesicht braun gebrannt und noch kantiger als sonst, nicht unsympathisch, eher ungewöhnlich und von daher interessant. Sie grüßte nur flüchtig und eilte weiter. Natürlich musste sie ihr Tempo halten. Ich war da weniger ehrgeizig und wäre stehen geblieben, wenn es sich so ergeben hätte. Wir redeten also nicht mehr über Gott, auch nicht über die Welt. Wir redeten nie mehr mit einander, denn einige Monate später zog ich ebenfalls weg.
Beim Gang durch meinen früheren Wohnort, treffen wir zufällig meine ehemalige Nachbarin.
„Welche Überraschung!“, sagt sie und umarmt mich und meinen Begleiter, „das ist aber schön, euch zu sehen. Habt ihr Zeit? Dann kommt doch zur Kaffeezeit vorbei. Ich habe gerade Zwetschgenkuchen gebacken. Ich hab nur keine Sahne dazu.“
„Danke. Wir kommen natürlich und bringen Schlagsahne mit“, antworte ich. Später sitzen wir draußen in ihrem Garten. Es ist ein angenehm warmer Tag.
„Was ist eigentlich da nebenan los?“ fragt mein Begleiter unvermittelt. Er hatte sich, wie er es als Künstler immer tut, aufmerksam umgesehen, während ich mit Kuchenessen und Reden beschäftigt war. „Wohnen die Leute da noch drin? Es sieht so leer aus.“
Die Nachbarin bekommt ein ernstes Gesicht.
„Es wohnt niemand mehr drin. Aber die Möbel sind noch nicht abgeholt worden.“ Sie stockt, steht auf, holt die Zeitung von letzter Woche und breitet sie vor uns aus. „Grausamer Mord in beschaulichem Ort“ lesen wir und erkennen auf dem Foto das unbewohnte Nachbarhaus.
Ein Drama habe sich zwischen zwei Männern abgespielt, lesen wir voller Schrecken in dem Artikel. Ungehört und unbemerkt von der Nachbarschaft, mitten in der Nacht sei der Hausbesitzer, Herr Rubach, ermordet worden. Den Mörder fand die Polizei noch in der Nacht ebenfalls tot in einem Gebüsch, nicht weit vom Tatort entfernt, berichtet die Zeitung. Er hatte verschiedene Medikamente eingenommen, dazu reichlich Alkohol getrunken und hatte in solcher Verfassung sein Opfer aufgesucht, getötet und dann Selbstmord begangen. Die Untersuchungsergebnisse dazu seien eindeutig. Die Männer, beide verheiratet und Familienväter, kannten sich. Ein Beziehungskonflikt sei der Auslöser gewesen für diese Tat, hieß es. ‚Der große weißhaarige Mann mit der unbekannten Frau, der mich an Herrn Rubach erinnerte’, schoss es mir durch den Kopf.
Auf diese Weise also hat der Täter mit seinem Opfer, seinem Nebenbuhler, abgerechnet und auch sich hingerichtet. Das Schadhafte sollte beseitigt werden. Das eigene und das fremde Leben wurden wütend als wertlos erachtet. Der Tod wurde in Kauf genommen – nur der Tod? Nicht auch die Zerstörung zweier Familien?
Wie unruhig doch manche Menschen sind, wie unbeständig. Sie fliehen vor der Kälte in ihrer Umgebung, suchen hilflos nach Wärme und finden sie doch nur für eine gewisse Zeit. Dann brechen sie wieder auf, um den Enttäuschungen und dem eigenen Versagen zu entgehen, aber oft völlig kopflos. ‚Wie die Zugvögel’, denke ich. Nur eines ist anders: Die Vögel kennen instinktiv ihr Ziel und finden die richtige Route auch im Schlaf.