Die Geborgenheit des Himmels

Roman zum Thema Technik

von  bluedotexec

Die untergehende Sonne tauchte das Rednerpult in die wärmsten Farben, die man sich nur vorstellen konnte. Rottöne, die alle anderen Sonnenuntergänge gleichzeitig zu verhöhnen schienen, und Kontraste, die noch dem langweiligsten Sonntagnachmittag eine erwartungsvolle Grundstimmung aufzuzwingen vermochte. Molly stand in der ersten Reihe, hielt ihr Ticket mit zu der Musik der Ekstase fröhlich Tremor tanzenden Fingern umklammert und blickte wie gebannt auf den einfachen Holzblock mit der abgeschrägten Auflage, dessen einziger Schmuck das Logo der Blue Line Ferry Company war, das auf der Vorderseite prangte und mit seiner schlichten Eleganz, die dem Urheber einen messerscharfen Verstand attestierte, auf die subtile Versiertheit der Company schließen ließ, von der man dieser Tage überall hörte.
Die Menge, die sich hinter ihr versammelt hatte, strahlte ein unbestimmtes Tuscheln in den Äther ab, es schien, als wolle sie eine Landschaft aus hinterlassenen Tönen erzeugen, Hügel und Täler, Wälder und Weiden, gebildet aus an- und abschwellenden Tönen, der Klangfärbung der Erregung und dem Seufzen der Ungeduld.
Die Blue Line Ferry Company. Die größte Flotte von Luftschiffen, die in den Registern der Steamer-Reedereien verzeichnet war.

Eigentlich handelte es sich nicht um eine einzelne Reederei. Die BLFC verschlang aufs Geratewohl kleine Luftschiffreedereien, vom Familienbetrieb mit nur einem einzigen Zwei-Maschinen-Steamer bis hin zum Lufthandelsunternehmen fettleibiger Großindustrieller, deren Bronze Gold hieß, deren Maschinen statt Kohle Diamanten verheizte und deren Ausstoß keine Wasserwolken, sondern giftige Schwaden von die Lungen vernichtenden Substanzen bildeten, die kleineren Luftschiffen die Quarzglasbullaugen trüben konnten, wenn sie unbedarft hindurch flogen. Die Company nahm sie alle auf, ordnete die Schiffe neuen Bereichen zu, was zur Folge hatte, das kleinere Steamer vorzugsweise für Fährdienste über kurze Distanzen eingesetzt wurden, vor allem zur infrastrukturellen Erschließung der Berggipfel und Inselgruppen, während die großen, geradezu schlossähnlichen Dampfschiffe die Dienste der letzten Baureihe von Reise- und Urlaubsattraktionen ablösten, um sie in den Stand der Luxuskreuzfahrt zu tragen. Man konnte sagen, die Blue Line Ferry Company rückte den Himmel für alle in greifbare Nähe. Die traditionsreichen kleinen Luftfahrtunternehmen, deren Schiffe bereits in den Händen der vierten Generation von Kapitänen waren, konnten die Sorgen um Kundschaft aufgeben, ohne Hab, Gut und Seele verkaufen zu müssen, und die teils mehrgeschossigen Flottensteamer der ganz Großen erfreuten sich einer lückenlos organisierten, zuverlässigen und vor allem kostengünstigen Verwaltung aller Angelegenheiten – und in den meisten Fällen auch Kundenzuwachs. Das einzige, was sie alle dafür tun mussten, war, ein blaues Zahnrad, das von stilisierten, zu einem Halbkreis angeordneten Wolken getragen schien, auf ihre Holz-, Kupfer-, Bronze- oder Aluminiumrümpfe zeichnen zu lassen.

Molly hatte die Geschichten gehört. Großvater Hank hatte ein eigenes Luftschiff gehabt, eine stolze kleine Vapeurette mit nur einer einzigen Dampfkraftmaschine und einem Rumpf aus dunklem Teakholz. Die Zeit, die er im Haus seines Sohnes lebte, bevor er starb, verbrachte er vor allem damit, sein Kompasssolarskop zu polieren und Molly zu erzählen, wie er, Navigator, Kapitän, Heizer und Schiffsjunge in einer Person vereinend, die einzige Post- und Kleinfrachtlinie der Karpaten von Siebenbürgen betrieb und von der Cheile Turzii aus den ganzen transsilvanischen Westen vernetzte. Erst als ihm das Kompasssolarskop das Augenlicht raubte und er mangels Tiefenwahrnehmung nicht mehr in der Lage war, die Pestera der O'Conell-Liefergesellschaft schadlos zu verlassen, gab er das Geschäft auf und die Lady Copperhead an die BLFC weiter, die aus dem Schiff einen modernen Fährtransporter machte, der fortan Versorgungsflüge zwischen den abgelegenen Gehöften und Lufthäfen im Trascău-Gebirge unternahm, während der Rest des von Großvater Hank aufgebauten Postnetzwerks in die Telekommunikationsabteilung der Company integriert wurde.
Molly träumte von Luftschiffen. In den fünfzehn Jahren, die sie zwischen Dampfmaschinen, Zahnradmechanismen, Marconiphonen und Resonatorquarztaktgebern in Hanks Werkstätten verbrachte, hatte sie alles gelernt, was ihr Großvater und dessen Sohn ihr nur beibringen konnten. Gleich der BLFC, die jede Werft, jeden Hafen, jeden Steamer und jede Vapeurette in ihren nährenden Körper aufnahm, inhalierte sie Schwaden von Wissen und Wasserdampf, um eines Tages am Steuer eines Flagg-Aguillators zu stehen und den Wolken zu zeigen, wie man sich das Recht erkämpfte, sie zu stutzen.
Und jetzt stand sie auf dem Hauptanleger der Coltesti-Werft. Die Spitze des mächtigen Ankerturms warf einen schier endlos langen Schatten, der, sofern man poetischen Betrachtungen zugeneigt war, eine Linie zwischen Molly und dem Rednerpult zog, was durchaus verleiten konnte, eine gewisse Symbolik zu vermuten. Sie stand dort, bewaffnet mit nichts als einem Ticket aus dicht gewobener Baumwolle, das es ihr gestatten würde, eine Reise anzutreten, von der sie nicht sagen konnte, ob sie sie sich erträumt hat oder nicht, und einem Rucksack mit Kleidung. Nicht, dass ihre Familie am Hungertuch nagte, nein. Die O'Conells waren weder besonders reich noch besonders arm, doch sie wusste, dass an einem Ort, den nichts mit der Erde verband, auch nur wenig irdische Habe von Belang wäre, oder zumindest bestärkten sie die letzten Worte von Hank, die er gemeinsam mit seinem Odem aushauchte, während er mit der Hand kaum merklich über das Laken fuhr.
„Kein Leinentuch gibt dir die Geborgenheit des blauen Himmels.“
Er hatte sie auf diese Reise geschickt. Irgendwo hinter dem Rednerpult warte die Kalina Bogdan darauf, dass sie einen Fuß auf die Planken der Stelling setzte.
Molly wartete darauf, dass endlich jemand ans Pult trat und es ihr gestattete.
Und plötzlich erschien jemand aus dem Nichts, setzte den Fuß auf das Holz der Bühne und trat gemessenen Schritts hinter den Holzblock.
Die schwarz-blaue Uniform der Company ließ jede noch so ungeduldige Menge schlagartig verstummen. Auch die jüngsten Passagiere wussten, dass die Respektsperson an Land wie in der Luft genau diese Uniform trug. Wenn sie in die verrauchten Dockkneipen trat, in die Bordelle der Randstädte, ins Rathaus oder in die Markthallen, schienen die Unterhaltungen eine kurze Verneigung zu machen, bevor sie sich kokett wieder den Sprechenden zuwandten. Der silbrige, buschige Backenbart erbebte, und die Mundwinkel erhoben sich zu einem befriedigten, erfahrenen Entdeckerlächeln, bevor sie den Worten aus dem Weg traten.
„Hochverehrte Herrschaften.“ Eine kurze Pause folgte, überflüssigerweise dem Zweck dienend, sich der ungeteilten Aufmerksamkeit aller zu versichern.
„Ich möchte Sie an diesem besonderen Tag in der Coltesti-Werft willkommen heißen. Ich spreche von einem besonderen Tag, weil wir uns hier versammelt haben, um einem Ereignis beizuwohnen, wie es wenige ein weiteres Mal erleben werden. Mein Name ist Henry Asherton, ich befahre die Himmel seit achtunddreißig Jahren, seit dreißig im Dienste der Blue Line Ferry Company, und auch ich bin noch nie mit einem vergleichbaren Tag beehrt worden.“ Er räusperte sich vernehmlich. „Hinter mir befindet sich die Stelling, über die wir in Kürze die Kalina Bogdan betreten werden.“
„Na los doch.“ Grummelte jemand links von Molly. Dort stand ein etwas kurz, dafür umso beleibter geratener Mann, der die dreißig längst hinter sich gelassen hatte, und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
„Die Kalina Bogdan ist nicht irgendein Steamer. Sie ist der erste im Auftrag der Company gefertigte Steamer, der am Himmel kreuzt. Ja, die Company besitzt viele Luftschiffe, sie hat ihre Fühler in jede nur erdenkliche Sparte des Transportwesens ausgestreckt, doch noch nie ist ein Schiff gefertigt worden, um im Dienste der BLFC die Welt zu bereisen. Und wir werden sie auf ihrer Jungfernfahrt begleiten. Doch bevor wir die Leinen los machen,“ Molly bemerkte, dass er einen kurzen, unterkühlten Blick auf den Mann links von ihr warf, „noch einiges zu Ihrer Information. Wie Sie wissen, ist die Bogdan 169 Meter lang, 21 Meter breit und misst vom Kiel bis zum Schornstein 31 Meter. Der Flottacorpus enthält bei vollem Betrieb 400.000 Kubikmeter erhitztes Fluchtgas, womit es uns es möglich sein wird, die fantastische Höhe von neun Kilometern zu erreichen. Damit ist die Kalina Bogdan das erste von Menschen gebaute Luftfahrzeug, das in der Lage ist, jeden Berg dieser Welt zu überfliegen. Angetrieben wird sie von sechs Kolbendampfmaschinen, die jeweils elf Megawatt Leistung liefern können – bei maximaler Auslastung, versteht sich. Zum Navigieren können wir uns auf vier Doppelstern-Kolbendampfmaschinen verlassen, die eine Wende um 180° auf dem Punkt ermöglichen, und das nötigenfalls in unter vier Minuten. Eine Vierzylinder-Dynamodampfmaschine liefert genügend Leistung, um die Beleuchtung in sämtlichen Kabinen gleichzeitig aufrecht zu erhalten, während eine kleinere Maschine des gleichen Typs, aber mit nur zwei Zylindern, dafür sorgt, dass wir auch von außen weithin gesehen werden.“
Molly gingen die Augen über. Anbarische Beleuchtung auf dem ganzen Schiff! Hanks Copperhead  verfügte lediglich über Gaslichter und Öllampen, und auch die großen Passagieraguillatoren verwendeten Anbarik lediglich im Kommunikationsraum, und nur, weil die Informationskabinette, Telefotographiegeräte, Marconiphone und Äthertelegraphen zwingend darauf angewiesen waren. Gelegentlich verfügte ein Navigationsraum über ein Ätherlot oder einen Bernsteinkompass, doch davon abgesehen wurde sämtliche Technik an Bord eines Luftschiffs mit Dampf oder Gas betrieben.
Mit jedem Wort, das der Kapitän voller Stolz über sein Schiff verlor, frohlockte Molly innerlich mehr. Ihr Herz tanzte bei dem Gedanken, eventuell einen der Heizer oder der Bernsteinmänner überreden zu können, ihr einen kurzen Blick auf seine Arbeit zu gewähren, und hätte sie nicht das Ticket gehalten, hätte sie sich gewünscht, Käpt'n Henry möge niemals mit seinen Ausführungen fertig sein. In diesen Moment der Freude schnaubte ihr Nebenmann linker Hand verächtlich hinein, als wäre er ein altes Stofftaschentuch.
„Anbarisch! Barbarisch.“
Empört wandte sie sich ihm zu, doch Asherton war schneller.
„Antiquarisch! Zumindest die Vorstellung, ein Luftschiff von diesen Ausmaßen mit etwas anderem als Anbarik zu beleuchten! Doch weiter mit den Fakten, sonst kommen wir nie an Bord.“
Molly gluckste leise. Sie gewann zunehmend den Eindruck, dass Käpt'n Asherton und sie auf einer Seite standen und sich bereits jetzt im Geheimen gegen den untersetzten dicken Mann verschworen hatten.
„Die Bogdan hat zwei mittschiffs gelegene Funk- und Navigationsräume, die dafür sorgen werden, dass wir auch im schwersten Sturm nicht verloren gehen. Für das leibliche Wohl sorgt die Küchencrew um Smutje Ernesto di Leo, die das luxuriöse Restaurant Petit Nuage im hinteren Teil des Schiffs betreibt. Signore di Leo ist mir persönlich bekannt, und soweit ich sagen kann,“ er klopfte sich auf den Bauch, „zu großen Teilen hierfür verantwortlich.“
Gelächter brandete auf.
„Doch Ernesto, bei allem Respekt,“ er sah zur Seite, doch niemand bestimmten an, und Molly vermutete den Koch irgendwo hinter dem Sichtschutz, „der Höhepunkt an Bord dürfte wohl der Salon im Bug sein. Denn die Kalina Bogdan gibt ihnen die Möglichkeit, mit einem Glas Scotch in der einen und einem Zigarillo in der anderen Hand die Perspektive erahnen zu können, die der Herrgott selbst genoss, als er die Welt schuf. Ganz recht: Im Bug des Schiffs, im Zentrum des Salons, befindet sich eine konvexe Glaskuppel von zwölf Metern Durchmesser, durch die Sie Tag und Nacht den Ausblick auf die Welt unter ihnen genießen können.“
Es folgte ein kurzes Getuschel, durchzogen von „Oh's“ und „Ah's“.
„Doch bei all dem Luxus, den Sie auf unserer langen Reise genießen werden, lässt sich das Anlanden alle zwölf Tage zwecks Bunkerung von Brennstoff nicht vermeiden. So jedoch können Sie Briefe an Ihre Lieben schreiben, oder, sofern Sie so etwas finden, einkaufen, was Ihnen das Schiff nicht bietet.“
Er hielt eine Sekunde inne.
„All die schönen Dinge, doch leider muss ich auch die unangenehme Möglichkeit einer Havarie ansprechen. Die Innenwand des Flottacorpus ist überzogen mit einer hochviskosen Substanz, die im Falle einer Verletzung der Außenwand den Gasverlust eindämmen wird. Es steht nicht zu befürchten, dass wir aus den Wolken fallen, solange niemand von Ihnen am laufenden Gut sägt oder schneidet.“ Er lachte kurz, doch niemand sonst. „Für den Fall, dass wir das Schiff doch verlassen müssen, stehen entlang der Reling alle drei Meter Fallbremsballons zur Verfügung, die jeweils fünf von Ihnen das gefahrlose Verlassen ermöglichen werden.“
Er verstummte. Dann holte er tief Luft.
„Es gibt so vieles zu sagen über den Stolz der Blue Line Ferry Company, doch sind tausend Worte überflüssig angesichts der Herrlichkeit, sie in natura vor sich zu sehen. Deswegen genug der Reden! Lassen Sie uns den Himmel noch einmal neu erobern! Begleiten Sie uns auf eine Reise durch das Blau! Betreten Sie – die Kalina Bogdan!


Anmerkung von bluedotexec:

Wir sind alle gespannt.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (24.09.19)
Wir sind alle gespannt.

Nein, sorry, ich nicht. Das ist mir inhaltlich und handwerklich viel zu anspruchslos und fordert nicht den mündigen Leser.

 bluedotexec meinte dazu am 24.09.19:
Stimmt. Es ist halt ein Kinderbuch. Wenn man Umberto Eco als "den mündigen Leser angemessen fordernd" definiert, erscheint die Literatur von, sagen wir mal, Kai Mayer auch einigermaßen anspruchslos. Hinzu kommt die starke Subjektifizierung des Themas: Für jemanden, der entweder Steampunk-Enthusiast, zwölf oder seichter zu unterhalten ist, könnte die Geschichte schon eher als unterhaltsam gelten.
Vielen Dank!
(Ich müsste es nur vielleicht mal weiter schreiben.)
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